

Ist es sinnvoll, einen Roman, der zu einer Zeit spielt, die der Autor als erwachsener Mann aktiv erlebte, als historischen Roman zu bezeichnen? Vor allem wenn er damals mehrere hochgelobte und heute immer noch unbedingt lesenswerte Kriminalromane schrieb, die ihm den Ruf einbrachten, er sei der Chronist von St. Pauli; also des kriminellen Lebens auf dem Kiez und den verbrecherischen und korrumptiven Verflechtungen von Halbwelt und Politik in Hamburg.
Denn „Harter Fall“, Frank Göhres vorletzter Roman, spielt vor fast fünfzig Jahren im Winter 1978/79. Eine siebzehnjährige Dänin will in Deutschland ihren Freund besuchen. Sie trampt. In Hamburg legt sie einen Zwischenstopp ein. Einige Monate später wird Hamburg-Winterhude ihre Leiche gefunden. Kriminalpolizist Hinnerk ermittelt – und Göhre entwirft in knappen Szenen, die er wie Drehbuchszenen montiert und miteinander verknüpft, auf wenigen Seiten ein großes Panorama zwischen Kiez, Politik, Jugendkultur und Musikjournalismus zwischen Hamburg und Jamaika. Es ist die Zeit, als Reggae angesagt war. Und es ist die Zeit, als der Drogenhandel sich professionalisierte.
Der Zusammenhang zwischen den einzelnen Handlungssträngen ist in dem gewohnt Göhre-knappen Buch lange Zeit nur erahnbar und auch am Ende eher lose. Der Kriminalfall – immerhin bewirbt der Verlag das Buch als Kriminalroman – ist, wenn man vom traditionellen Modell einer Detektivgeschichte ausgeht, kaum vorhanden. Es gibt eigentlich keine zielgerichtete Ermittlungen eines Polizisten und der Ermittler ist nur eine Figur unter vielen. Göhre entwirft nämlich ein Noir-Gesellschaftsporträt, in dem Verbrechen, Schuld und, nun, Grenzüberschreitungen normal sind.
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Eindeutig ein historischer Roman ist Frank Göhres neuestes Buch „Sizilianische Nacht“. In der titelgebenden Nacht stirbt im Juli 1933 in Palermo in einem Hotelzimmer im noblen Grand Hotel et des Palmes der vermögende, exzentrische sechsundfünfzigjährigen Dandy und Erfinder Jean-Paul Durand . War es ein Mord oder ein Suizid?
Göhre präsentiert seine Version der damaligen Ereignisse. Denn Durand ist Raymond Roussel.
Er erzählt die Geschichte chronologisch von Durands Ankunft im Hotel bis nach seinem Tod. Das ist, wenn man vorher nicht den Klappentext (oder diese Besprechung) gelesen hat, etwas problematisch. Denn der vom Verlag als „Kriminalroman“ gelabelte Roman liest sich sehr lange wie eine Reiseerzählung, in der Spannung und Verbrechen Fremdworte sind. Stattdessen geht es um einige Tage aus dem Leben eines seltsamen Mannes, der selten sein Zimmer verlässt. Wenn man allerdings weiß, dass Durand unter seltsamen Umständen sterben wird, hat jede Zeile ihre besondere Bedeutung. Schließlich könnte sie einen Hinweis auf das kommende Verbrechen geben. Es geht um Durands Medikamentenkonsum, seine seelischen Leiden, seine Entourage und die Menschen, die er im Hotel trifft, wenn er denn sein Zimmer verlässt. Und mit denen er Geschäfte macht. Die von Göhre präsentierte Auflösung verknüpft den Tod von Durand mit der damaligen italienischen Gesellschaft zwischen Mafia, Kapitalismus und Faschismus. Am Ende bleibt die Erkenntnis: So könnte es gewesen sein.
Nicht nur von der Länge von unter hundertvierzig Seiten, sondern auch vom Stil und Inhalt erinnert Göhres „Sizilianische Nacht“ an die ebenso kurzen Romane von Leonardo Sciascia. Der vor allem für seine Kriminalromane bekannte Italiener sezierte in seinen Schriften Italien; mal mehr, mal weniger fiktiv, aber immer sehr nah an den Fakten und den realen Machtverhältnissen entlang. Er schrieb auch ein Buch über den Tod von Raymond Roussel.
„Harter Fall“ und „Sizilianische Nacht“ sind zwei unbedingte Leseempfehlungen. In beiden Romanen zeigt Frank Göhre, was im Rahmen eines Kriminalromans (wenn man die Genregrenzen großzügig definiert) möglich ist.
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Frank Göhre: Harter Fall
Culturbooks, 2023
168 Seiten
17 Euro
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Frank Göhre: Sizilianische Nacht
Culturbooks, 2025
168 Seiten
17 Euro
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Hinweise
Lexikon der deutschen Krimiautoren über Frank Göhre
Meine Besprechung von Frank Göhres „St. Pauli Nacht“ (2007, überarbeitete Neuausgabe)
Meine Besprechung von Frank Göhres „MO – Der Lebensroman des Friedrich Glauser“ (2008)
Meine Besprechung von Frank Göhres „An einem heißen Sommertag“ (2008)
Meine Besprechung von Frank Göhres „Abwärts“ (2009, Neuausgabe)
Meine Besprechung von Frank Göhres „Seelenlandschaften – Annäherungen, Rückblicke“ (2009)
Meine Besprechung von Frank Göhres „Der Auserwählte“ (2010)
Meine Besprechung von Frank Göhres “Die Kiez-Trilogie” (2011)
Meine Besprechung von Frank Göhres „I and I – Stories und Reportagen“ (2012)
Meine Besprechung von Frank Göhres “Geile Meile” (2013)
Meine Besprechung von Frank Göhres „Gut leben – früh sterben: Stories von unterwegs“ (2014)
Meine Besprechung von Frank Göhre/Alf Mayers „King of Cool – Die Elmore-Leonard-Story“ (2019)
Meine Besprechung von Frank Göhres „Verdammte Liebe Amsterdam“ (2020) (ausgezeichnet mit dem Deutschen Krimipreis 2020 und dem Stuttgarter Krimipreis 2021)
Meine Besprechung von Frank Göhres “ Die Stadt, das Geld und der Tod“ (2021)
Veröffentlicht von AxelB 













