Neu im Kino/Filmkritik: Wer „One Life“ rettet, rettet die ganze Welt

März 28, 2024

Natürlich erinnert die Geschichte auf den ersten Blick an „Schindlers Liste“. Ein Mann hilft während der Nazi-Diktatur Juden bei ihrer Flucht aus Deutschland. Er rettet viele Leben. Nach dem Krieg kennt ihn niemand, auch weil der Retter über seine Taten schweigt. Fast zeitgleich, ungefähr vierzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, erfuhr die große Öffentlichkeit von ihnen und ihren selbstlosen Taten.

Bei dem 1974 verstorbenen Oskar Schindler war es 1982 die Publikation von Thomas Keneallys halbdokumentarischem Roman „Schindlers Liste“. Er wurde mit dem Booker Prize ausgezeichnet und später von Steven Spielberg verfilmt.

Bei Sir Nicholas ‚Nicky‘ Winton (1909 – 2015) war es 1988 die BBC-Sendung „That’s Life“. In ihr wurde über seine Taten berichtet. Er war Gast in der Sendung und ein Millionpublikum erfuhr von seinen Taten.

Natürlich hat Sir Anthony Hopkins, dessen Name an erster Stelle auf dem Plakat steht und dessen Kopf das halbe Plakat einnimmt, nur eine durchaus wichtige Nebenrolle in der Verfilmung von Wintons Leben. Er spielt Sir Nicholas Winton, den britischen Oskar Schindler, als alten Mann. Im Zentrum stehen aber nicht die Ereignisse aus den achtziger Jahren, als er sich fragt, was aus den Kindern wurde, die er gerettet hat und er sich schuldig fühlt, weil er nicht mehr Kinder retten konnte, sondern die Ereignisse aus seinen jungen Jahren, als er in den späten dreißiger Jahren, vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, jüdischen Kindern half. Als er in Prag in den Flüchtlingslagern die vor sich vegetierenden Kinder sieht, ist der humanitär bewegte Börsenmakler schockiert. Er will ihnen helfen und das ginge, indem er sie nach Großbritannien bringt. Das tut er zusammen mit dem „British Commitee for Refugees in Czechoslovakia“, einer nur aus wenigen Mitgliedern bestehenden, finanziell klammen Organisation, und seiner energischen Mutter, die in London alles für die Ankunft der Kinder organisiert.

Dabei merkt Winton schnell, dass niemand diese Kinder will. Trotzdem gibt er nicht auf. Er erstellt Mappen, in denen er alles wichtige über sie notiert. Mit Hilfe dieser Mappen sucht seine Mutter in England Pflegefamilien, die für die Kosten selbst aufkommen werden. Das ist, nachdem der englische Staat alle anderen Optionen ablehnt, die einzige Möglichkeit, die Kinder vor dem sicheren Tod zu retten. Die Kinder, die für eine unbekannte Zeitdauer Adotivfamilien gefunden haben, sollen in Zügen von Prag quer durch Europa nach England gebracht werden. Falls der Zug sein Ziel erreicht.

Der für den 1. September 1939 geplante Transport mit 250 Kindern verließ nie den Bahnhof von Prag. Der am gleichen Tag erfolgte Überfall von Adolf Hitler auf Polen und der damit zusammenhängende Beginn des Zweiten Weltkriegs verhindern weitere Transporte.

Innerhalb eines knappen Jahres retteten Winton und seine Helfer 669 Kinder vor dem ziemlich sicheren Tod.

In seinem sich auf seine Schauspieler verlassendem Drama „One Life“ erzählt James Hawes diese Geschichte. Er erzählt Wintons Geschichte, beide Male chronologisch, auf zwei Zeitebenen. Dabei ist der in den späten achtziger Jahren spielende Teil ausführlicher als nötig und kann nur durch den Wunsch der Macher gerechtfertigt werden, mit Hopkins‘ Namen für den Film zu werben. Im Zentrum stehen Wintons Erlebnisse 1938/1939 in Prag. Der junge Winton wird von Johnny Flynn gespielt.

Insgesamt inszeniert Hawes Wintons Geschichte bewusst etwas spröde. Er vermeidet so weitgehend die potentiellen Kitschfallen. Die große Ausnahmen ist Wintons zweimalige Teilnahme an der leichtgewichtigen BBC-Verbraucherberatungssendung „That’s Life“. Beide Male steuert die Geschichte dann eindeutig auf den erwartbaren Taschentuchmoment hin.

Angesichts aktueller Debatten über Fluchthilfe ist das sehenswerte Drama erschreckend aktuell.

One Life“ ist das Spielfilmdebüt von James Hawes. Trotzdem ist er ein alter Profi. Seit 1990 inszenierte er TV-Filme und Episoden für TV-Serien wie „Doctor Who“, „Inspector Banks“, „Penny Dreadful“, „Snowpiercer“ und „Slow Horses“.

One Life – Wer ein Leben rettet, rettet die ganze Welt (One Life, Großbritannien 2023)

Regie: James Hawes

Drehbuch: Lucinda Coxon, Nick Drake

LV: Barbara Winton: It it’s not impossible…: The Life of Sir Nicholas Winton, 2014

mit Anthony Hopkins, Johnny Flynn, Helena Bonham Carter, Lena Olin, Romola Garai, Alex Sharp, Marthe Keller, Jonathan Pryce

Länge: 113 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Moviepilot über „One Life“

Metacritic über „One Life“

Rotten Tomatoes über „One Life“

Wikipedia über „One Life“ (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von John Hawes‘ „Inspector Banks – Mord in Yorkshire: Die komplette erste Staffel`“ (DCI Banks, Großbritannien 2010/2011)

Meine Besprechung von John Hawes‘ „Der Verdacht des Mr. Whicher: Der Mord von Road Hill House“ (The Suspicions of Mr Whicher: The Murder at Road Hill House, Großbritannien 2011)


Neu im Kino/Filmkritik: „The Danish Girl“ ist ein Junge, der ein Mädchen ist

Januar 9, 2016

Es beginnt, wie so oft, als harmloser Spaß: Gerda Wegener (Alicia Vikander) bittet ihren Mann Einar (Eddie Redmayne) für eines ihrer Gemälde Modell zu stehen. In Frauenkleidern, weil das ursprüngliche Modell nicht gekommen ist. Einar, selbst ein erfolgreicher Landschaftsmaler, tut es – und irgendetwas lösen die Frauenkleider bei ihm aus. Er zieht sich ab jetzt öfter Frauenkleider an. Zuerst nur in ihrer großen Künstlerwohnung in Kopenhagen. Mit Gerdas Hilfe schminkt er sich und man könnte ihn für eine Frau halten.
Aus Spaß, so wie Teenager versuchen, mit Verkleidungen und verstellter Stimme andere zu narren, gehen sie kurz darauf auf einen großen Empfang in der Kunstakademie. Einar, der sich als Lili Elbe vorstellen lässt, ist zwar schüchtern und unsicher, aber es gefällt ihm auch, zu sehen, wie die Leute ihn als Frau hofieren und zu hören, was die Leute über ihn sagen. Denn Einar Wegener ist ja nicht zu dem Fest gekommen. Und, falls ihr Scherz aufgeflogen wäre, hätten sie sich auch Mitte der Zwanziger (der Film beginnt 1926) damit herausreden können, dass sie als Künstler, die eine naturgegebene Narrenfreiheit genießen, sich einen Spaß erlaubten.
Nun, niemand erkennt Einar, obwohl seine Maskierung aus heutiger Sicht gar nicht besonders gut ist.
Im folgenden erzählt „The King’s Speech“-Regisseur Tom Hooper, mit einigen Freiheiten (aber weniger Freiheiten als sich David Ebershoff in seinem Roman „Das dänische Mädchen“ nahm) diese wahre Geschichte von Einar Wegener nach. Denn Einar Wegener ist bekannter als Lili Elbe, die eine der ersten Menschen war, die sich einer Geschlechtsumwandlung unterzogen. In ihrem Lebensbericht „Fra mand til kvinde“ (Ein Mensch wechselt sein Geschlecht) hielt sie diese Erfahrungen fest. Sie starb nach Komplikationen bei einer dritten Operatiom am 12. September 1931.
Im Mittelpunkt des Films steht allerdings nicht ihre Geschlechtsumwandlung, sondern die Liebe zwischen Einar, die zunehmend ihrer weiblichen Seite, ihrem wahren Geschlecht, verfällt, und Gerda Wegener, die ihrem Mann immer unterstützt, auch wenn er dadurch immer weniger der Mann ist, den sie heiratete. Ihre lesbischen Neigungen ignoriert der Film, der so in den beruhigenden Gewässern einerr normalen heterosexuellen Liebe, die vor einer Prüfung steht, bleibt.
Diese Abweichungen von der historischen Wahrheit sind allerdings nicht das Problem des Films, sondern dass die Geschichte, obwohl es eine wahre Geschichte ist, sich nie wahr anfühlt, sondern immer wie die Fantasie eines Drehbuchautors wirkt, der einige populäre Topoi (Transgender, Zwanziger Jahre, Künstlerleben) zusammenwirft. So kommt Lili Elbes sexuelles Erwachen zu schnell. Gerdas bedingungslose Liebe zu ihr und auch die mangelnde Irritation über die seltsamen Gefühle ihres Ehemannes sind zu groß, um glaubhaft zu sein. Das gesamte Umfeld bleibt erstaunlich passiv. So als fiele niemandem die Veränderung bei dem Landschaftsmaler Einar Wegener auf und auch die Ähnlichkeiten zwischen Einar, Lilli und den Porträts, die Gerda von Lilli zeichnet werden nicht wahrgenommen. Letztendlich reagieren alle auf Einars Wunsch, eine Frau zu werden, als ob er sich seine Haare anders schneiden lassen möchte. Und das ist nichts, über das man groß diskutieren muss oder man mit seinen Ansichten über Geschlechter und ihre Rollen in Frage stellen muss.
Letztendlich ist „The Danish Girl“, auch wenn die Frage, ob Einar oder Gerda das titelgebende Mädchen ist, gut gespieltes und gut inszeniertes Kino, das auf der einen Seite nichts wirklich falsch macht, aber auf der anderen Seite auch nicht wirklich begeistert oder, Gott bewahre!, verunsichert. Das würde beim Erzählen seiner großen Liebesgeschichte stören.

The Danish Girl - Plakat

The Danish Girl (The Danish Girl, Großbritannien/Deutschland/USA 2015)
Regie: Tom Hooper
Drehbuch: Lucinda Coxon
LV: David Ebershoff: The Danish Girl, 2000 (Das dänische Mädchen)
mit Eddie Redmayne, Alicia Vikander, Amber Heard, Matthias Schoenaerts, Ben Whishaw, Sebastian Koch
Länge: 120 Minuten
FSK: ab 6 Jahre

Hinweise
Englische Homepage zum Film
Deutsche Homepage zum Film
Moviepilot über „The Danish Girl“
Metacritic über „The Danish Girl“
Rotten Tomatoes über „The Danish Girl“
Wikipedia über „The Danish Girl“ (deutsch, englisch)
History vs. Hollywood über „The Danish Girl“

Ein Gespräch mit Tom Hooper, Eddie Redmayne und Alicia Vikander (aufgenommen beim TIFF)

Und DP/30 unterhält sich mit Tom Hooper über seinen Film und den ganzen Rest


Neu im Kino/Filmkritik: Hüte dich vor „Crimson Peak“! Besuche Allerdale Hall.

Oktober 16, 2015

„Crimson Peak“, der neue Film von „Hellboy“ Guillermo del Toro, gehört eindeutig in die Kategorie „solche Filme werden heute nicht mehr gemacht“.
Die Geschichte beginnt 1901 in Buffalo, New York. Edith Cushing (Mia Wasikowska) ist eine naßforsche, junge Frau aus vermögendem Haus, die von einer Karriere als Schriftstellerin träumt und ihren Traummann noch nicht gefunden hat. Da begegnet sie Sir Thomas Sharpe (Tom Hiddleston), einem verarmten englischen Adligen, der von Ediths Vater und dessen Firma gerne Geld für eine große Investition hätte. Begleitet wird er von seiner Schwester Lucille (Jessica Chastain).
Als kurz darauf Ediths Vater bei einem Badeunfall stirbt (Okay, es war ein Mord von einem unbekannten Täter.), heiratet sie Thomas und gemeinsam ziehen sie in sein einsam gelegenes Anwesen. Allerdale Hall ist ein auf einem waldlosem Hügel stehendes, verfallenes Schloss. Über dem kathedralenähnlichem Eingang ist das Dach eingestürzt. Es regnet und schneit hinein. Das Haus ist riesig, aber Personal scheint es nicht zu geben. Dafür sieht Edith einen Geist und die Geschwister Sharpe scheinen etwas vor ihr zu verbergen.
Ähnlich wie vor Kurzem Kenneth Branagh in „Cinderella“ mit seinem vollkommen unironischen, traditionellen und durch keinerlei Postmodernismen getrübten Zugang zu dem Märchen von Aschenputtel erstaunte, drehte jetzt Guillermo del Toro mit „Crimson Peak“ einen Romantic Thriller, der so tut, als sei seit Filmen wie Alfred Hitchcocks „Rebecca“ höchstens eine Woche vergangen. Auch wenn „Crimson Peak“ in seiner pompösen Farbigkeit an Roger Cormans Edgar-Allan-Poe-Verfilmungen erinnert, fehlt „Crimson Peak“, neben der kurzen Laufzeit, der in ihnen immer spürbare Humor.
In del Toros sanftem Schauermärchen gibt es gute Schauspieler, eine schöne Ausstattung, eine langsam durch die Räume gleitenden Kamera und eine absolut vorhersehbare Geschichte, die eigentlich nur zwei große Überraschungen enthällt. Die Sharpes sind, obwohl sie anfangs so auftreten, keine Vampire. Das wäre ein zu zeitgenössischer Zugang zu dieser alten Geschichte. Und Edith, die schon in ihrer Heimat vom Geist ihrer Mutter eindringlich vor Crimson Peak gewarnt wird, erfährt erst sehr spät im Film, nachdem sie schon lange in Allerdale Hall friert, von Geistern verfolgt und Lucille traktiert wird, dass Allerdale Hall im Volksmund Crimson Peak genannt wird. Wir haben das schon vermutet, als die Kutsche das Tor von Allerdale Hall passierte.
Am Ende, wenn das Geheimnis der Geschwister Sharpe enthüllt wird, ist „Crimson Peak“ ein Kriminalfilm, ein Romantic Thriller in seiner absolut klassischen und hoffnungslos altmodischen Form, bei dem es noch etwas Geister-Geschwurbel gibt.
Das ist gut gemacht und es ist auch genau der Retro-Film, den Guillermo del Toro machen wollte. Aber es ist auch, als sähe man sich wieder einen dieser alten Gothic Thriller, die höchstens für ein sanftes Gruseln sorgen, an und bei dem man, auch wenn man ihn noch nie gesehen hat, die gesamte Handlung schon nach den ersten Minuten kennt. Farbe und bessere Tricks ändern nichts daran. Eigentlich waren sogar die alten Tricks mit knarrenden Türen und Schatten furchterregender.

Crimson Peak - Plakat

Crimson Peak (Crimson Peak, USA 2015)
Regie: Guillermo del Toro
Drehbuch: Guillermo del Toro, Matthew Robbins, Lucinda Coxon
mit Mia Wasikowska, Jessica Chastain, Tom Hiddleston, Charlie Hunnam, Jim Beaver, Burn Gorman, Leslie Hope, Doug Jones
Länge: 120 Minuten
FSK: ab 16 Jahre

Hinweise
Deutsche Homepage zum Film
Film-Zeit über „Crimson Peak“
Moviepilot über „Crimson Peak“
Metacritic über „Crimson Peak“
Rotten Tomatoes über „Crimson Peak“
Wikipedia über „Crimson Peak“
Meine Besprechung von Guillermo del Toros „Pacific Rim“ (Pacific Rim, USA 2013)

Einige Featurettes von den Machern (Universal Pictures)