Neu im Kino/Filmkritik: „Köln 75“: Vera Brandes organisiert ein Konzert, Keith Jarrett konzertiert solo

März 12, 2025

Von mindestens zwei Seiten, nämlich der der Organisatorin und der des Künstlers, nähert Ido Fluk sich in seinem Film „Köln 75“ einem Konzert, das später als Doppel-LP veröffentlicht wurde.

Die siebzehnjährige Vera Brandes (Mala Emde) lebt in den siebziger Jahren in Köln und geht aufs Gymnasium. Ihr Vater ist Zahnarzt und ein Tyrann. Sie ist musikverrückt. Aber sie liebt nicht die Rock- und Popmusik, die Gleichaltrige hören, sondern Jazz. Neben der Schule organisiert sie Konzerte. Als sie in Berlin bei den Jazztagen Keith Jarrett erlebt, ist sie begeistert. Sie will eines seiner Solo-Konzerte in Köln präsentieren. Diese vollkommen frei improvisierten Konzerte spielt Jarrett seit 1972. Seit 1971 veröffentlicht Manfred Eicher, der Gründer des legendären Jazzlabels ECM, bis heute fast alle Aufnahmen von Jarrett in teils umfangreichen Boxsets, die ganze Konzerte und Reihen dokumentieren. Jarretts erste ECM-LP war die 1971 aufgenommene, 1972 veröffentlichte Solo-Piano-LP „Facing You“, die gleichzeitig Jarretts erste Solo-LP war.

Und damit wären wir, wenn wir den Film als klassische LP betrachten, bei der ersten und zweiten Seite von Ido Fluks „Köln 75“. Der süffige Musikfilm beginnt während des fünfzigsten Geburtstag von Vera Brandes. Immer wieder meldet sich der fiktive Jazzkritiker Michael Watts (Michael Chernus) zu Wort. Er vermittelt kurzweilig Hintergrundwissen über verpatzte Anfänge bei Aufnahmen und die Musikgeschichte.

Als während der Geburtstagsfeier die Ansprache von Vera Brandes‘ Vater (Ulrich Tukur) in einem Eklat endet, erinnert Brandes sich an ihre Anfänge als Konzertveranstalterin. Diese Erinnerungen bilden den ersten Teil des Films. Als Sechzehnjährige organisiert sie eine Tour für den Jazzsaxophonisten Ronnie Scott. Weitere von ihr organisierte Konzerte mit anderen Künstlern folgen.

Der zweite Teil des Films konzentriert sich dann auf Keith Jarrett (John Magaro). Er gibt in Lausanne ein Solokonzert. Zusammen mit Manfred Eicher (Alexander Scheer) als Fahrer und Watts, der Jarrett interviewen möchte, fahren sie in einer klapprigen Kiste nach Köln. In diesem Teil geht es um die künstlerischen Vorstellungen und Marotten von Jarrett. Eicher toleriert Jarretts Eigenheiten, weil er den Pianisten für ein Jahrhundertgenie hält, dessen musikalisches Geschenk an die Menschheit alles andere aufwiegt.

Im dritten Teil, bzw. der dritten LP-Seite, treffen dann Vera Brandes und Keith Jarrett aufeinander. Sie hat das Konzert am 24. Januar 1975 in der Kölner Oper organisiert und sich dafür mit 10.000 DM, was damals sehr viel Geld war, verschuldet. Am Nachmittag stellt sie in der menschenleeren Kölner Oper erschrocken fest, dass auf der Bühne der falsche Flügel steht und Jarrett sich weigert, auf ihm zu spielen. Zusammen mit ihren treuen Freunden, dicken Telefonbüchern, geduldigen Klavierstimmern und viel Lauferei versucht sie das geplante Konzert zu retten. Und auch wenn wir wissen, wie die Geschichte endet, fiebern wir mit.

Ido Fluk („The Ticket“) erzählt in seinem neuen Film „Köln 75“ mitreißend eine Hintergrundgeschichte, die interessant ist, bislang aber auch Jazzfans nicht so wahnsinnig interessierte. Normalerweise ist bei einzelnen Konzerten und sogar bei Festivals nichts über die teils chaotische Organisation des Konzertes bekannt. Schließlich steht das Geschehen auf der Bühne, – die Künstler und ihre Konzerte -, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit.

Etwas seltsam ist, dass in einem Film, in dem es um Jazz, Keith Jarrett und das „Köln Concert“ geht, sehr wenig Jazz und überhaupt nichts von Keith Jarrett und dem „Köln Concert“ zu hören ist. Sie durften die Musik nicht verwenden. Fluk sagt dazu: „Die Wirkung dieser Musik würde sich in einem Film niemals entfalten können. Man könnte bestenfalls einen kleinen Ausschnitt wiedergeben. Und der würde nichts aussagen. Es ist das ganze Werk oder nichts. Das Köln-Konzert ist kein Popsong. Es ist ein langes, ambitioniertes, auch forderndes Stück Jazzmusik, das man am besten in Ruhe in Gänze anhört. Ich vermute, selbst Keith Jarrett würde mir zustimmen. Es ist eher so, dass man sich den Film ansieht und deshalb Lust bekommt, sich das Konzert zuhause anzuhören. Man geht heim und legt die Platte auf. Unabhängig vom Film. Denn in ‚Köln 75‘ geht es nicht um das Konzert. Es geht um Vera Brandes.“

Und Vera Brandes ist nicht einfach nur ein Mädchen, das einmal ein Konzert organisierte und später Hausfrau wurde. Wer zu den wenigen Menschen gehört, die sich bei Schallplatten und CDs auch für das Kleingedruckte interessieren, und wer zu den noch weniger Menschen gehört, die sich dafür interessieren, wer Tourneen und Konzerte organisiert, las öfter den Namen Vera Brandes. Sie organisierte Konzerte von Oregon, Pork Pie, Dave Liebman und Gary Burton; alles legendäre Jazzmusiker und Jazzgruppen. Sie gründete die Labels CMP, VeraBra und Intuition und veröffentlichte über 350 Alben, unter anderem von Nucleus, Charlie Mariano, Theo Jörgensmann, Mikis Theodorakis, Barbara Thompson, Andreas Vollenweider und den Lounge Lizards.

Der am 8. Mai 1945 in Allentown, Pennsylvania (USA), geborene Keith Jarrett ist heute einer der bekanntesten und wichtigsten Jazzpianisten. Sein „Köln Concert“, von Eicher 1975 als Doppel-LP in der normal-spartanischen ECM-Ausstattung veröffentlicht, wurde zum Bestseller. Es ist die meistverkaufte Jazz-Soloplatte, die meistverkaufte Klavier-Soloplatte und Jarretts meistverkaufte und bekannteste Veröffentlichung. Es ist die Jazz-Platte, die auch Nicht-Jazzfans in ihrem Plattenschrank stehen haben.

Die Hintergründe des Konzerts waren lange unbekannt. Später wurde einiges darüber geschrieben, aber im Mittelpunkt der Rezeption der Aufnahme steht immer noch die Aufnahme und nicht die Umstände der Aufnahme. In Ido Fluks Film „Köln 75“ erfahren wir jetzt mehr über diese Umstände.

Fluks kurzweiliger und sehr stimmiger Rückblick in die Bundesrepublik Deutschland Mitte der siebziger Jahre ist eine Liebeserklärung an den Jazz als Musik und als Lebenshaltung und den jugendlichen Aufbruchsgeist, der ohne helfende Hände in mittleren Katastrophen enden kann. Denn ohne ihre Freunde und andere Helfer hätte Vera Brandes, die treibende Kraft bei der Organisation und der Werbung für das Konzert in der ausverkauften Oper, das Konzert nicht veranstalten können.

Und ohne Martin Wieland gäbe es keine Aufnahme von dem Konzert.

Köln 75 (Deutschland/Belgien/Polen 2025)

Regie: Ido Fluk

Drehbuch: Ido Fluk

mit Mala Emde, John Magaro, Michael Chernus, Shirin Eissa, Enno Trebs, Leo Meier, Leon Blohm, Ulrich Tukur, Jördis Triebel, Susanne Wolff, Daniel Betts, Alexander Scheer

Länge: 112 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Kinostart: 13. März 2025

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

Filmportal über „Köln 75“

Moviepilot über „Köln 75“

Rotten Tomatoes über „Köln 75“

Wikipedia über „Köln 75“ (deutsch, englisch), „The Köln Concert“ (deutsch, englisch), Keith Jarrett (deutsch, englisch) und Vera Brandes (deutsch, englisch)

Berlinale über „Köln 75“

AllMusic über Keith Jarrett

ECM über Keith Jarrett

Rick Beato unterhält sich mit Keith Jarrett (2023)

Ein kleiner Ausschnitt aus einem 2016 aufgenommenem Solokonzert von Keith Jarrett


Neu im Kino/Filmkritik: „Aus meiner Haut“ in deine Haut – und in die nächste Haut

Februar 7, 2023

Leyla (Mala Emde) und ihr Freund Tristan (Jonas Dassler) fahren auf eine einsam gelegene Insel. Leyla will dort ihre Jugendfreundin Stella besuchen. Als sie sie treffen, ist Leyla erfreut und Tristan erstaunt. Denn Stella ist keine junge Frau, sondern ein alter Mann (Edgar Selge), der wie ein gesetzter Hippie-Guru wirkt. Nett, etwas schrullig, aber weitgehend harmlos. Auf der Insel lebt er mit seinen Jüngern in einer Mischung aus sich selbst versorgender Landkommune und Nobelhotel mit echter vorindustrieller Bauernhofambiente.

Neben Leyla und Tristan sind zahlreiche weitere Gäste auf der Insel. Sie sind alle wegen einem von Stella durchgeführtem Körpertausch-Ritual gekommen. Und das mit dem Körpertausch ist wortwörtlich zu verstehen. Immer tauscht ein Paar mit einem anderen, zufällig ausgelostem Paar, wobei die Frau mit der anderen Frau und der Mann mit dem anderen Mann tauscht. Dieser Tausch wird nach einer bestimmten Zeit rückgängig gemacht. Außer die Betroffenen wollen den Tausch früher oder überhaupt nicht rückgängig machen.

Wie der Tausch vonstatten geht, erklärt Alex Schaad in seinem Langfilmdebüt nicht weiter. Er zeigt nur, wie die Menschen einzeln in ein Wasserbecken steigen, von dem nur ein kleiner Teil zu sehen ist. Im nächsten Bild sind sie im anderen Körper. Angesichts der Häufigkeit und der Schnelligkeit, in der im Film Körper getauscht werde, kann dieses Körpertausch-Ritual nicht besonders zeitaufwändig oder schmerzhaft sein. Es ist aber in jedem Fall eine interessante, manchmal auch verstörende Erfahrung, im Körper eines anderen Menschen zu sein.

Bei der nun folgenden Abfolge von Körpertäuschen – so wird laut Presseheft Leyla von vier Schauspielern gespielt – geht dann schnell der Überblick darüber verloren, wer gerade in welchem männlichen oder weiblichem Körper steckt, wer mit wem Geschlechtsverkehr hat, was das für die eigene Identität bedeutet und warum uns das gerade bei diesem Geist interessieren sollte. Im Gegensatz zu anderen Körpertauschfilmen wie, um nur zwei zu nennen, „Face/Off“ (ein Polizist und ein Terrorist, der einen Anschlag plant, tauschen ihre Körper) oder „Freaky“ (ein weiblicher Teenager und ein Serienkiller tauschen ihre Körper und nach 24 Stunden kann der Tausch nicht wieder rückgängig gemacht werden) geht es in „Aus meiner Haut“ wegen der schieren Menge der Tauschvorgänge letztendlich um nichts. Hier werden männliche und weibliche, junge und alte Körper wie Kleider in einem Kaufhaus ausprobiert, bis am Ende eines passt. Oder auch nicht.

Mit jedem weiteren folgenlosen Tausch in einen anderen Körper erlahmt daher das Interesse. Die guten Schauspieler, die hier immer mehrere Figuren spielen dürfen, die schöne Location und die fantastische Prämisse mit den in diesem Fall damit verknüpften, aber nicht konsequent vertieften philosophischen Fragen von Körper und Identität ändern daran nichts.

Aus meiner Haut (Deutschland 2022)

Regie: Alex Schaad

Drehbuch: Alex Schaad, Dimitrij Schaad

mit Mala Emde, Jonas Dassler, Maryam Zaree, Dimitrij Schaad, Edgar Selge, Thomas Wodianka

Länge: 104 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Homepage zum Film

Filmportal über „Aus meiner Haut“

Moviepilot über „Aus meiner Haut“

Wikipedia über „Aus meiner Haut“


TV-Tipp für den 30. März: Lara

März 29, 2022

Arte, 20.15

Lara (Deutschland 2019)

Regie: Jan-Ole Gerster

Drehbuch: Blaž Kutin

TV-Premiere. Zweiter Spielfilm von „Oh Boy“-Regisseur Jan-Ole Gerster und wieder ein Volltreffer. Dieses Mal beobachtet er Lara (Corinna Harfouch). Die biestige und einsame Sechzigjährige streift an ihrem Geburtstag ziellos durch Berlin. Am Abend will sie das Konzert ihres Sohnes besuchen. Ihr Sohn hat sie dazu nicht eingeladen. Und wir verstehen ihn sehr schnell.

Mehr in meiner ausführlichen Besprechung.

mit Corinna Harfouch, Tom Schilling, Volkmar Kleinert, André Jung, Gudrun Ritter, Rainer Bock, Mala Emde, Steffen Jürgens, Alexander Khuon, Birge Schade, Johann von Bülow

Wiederholung: Freitag, 1. April, 14.15 Uhr

Hinweise

Homepage zum Film

Filmportal über „Lara“

Moviepilot über „Lara“

Rotten Tomatoes über „Lara“

Wikipedia über „Lara“

Meine Besprechung von Jan-Ole Gersters „Lara“ (Deutschland 2019)


DVD-Kritik: Über das Antifa-Drama „Und morgen die ganze Welt“

März 16, 2021

In Mannheim an der Uni studiert Luisa im ersten Semester Jura. In ihrer Freizeit hält sich die Tochter aus einem bürgerlichem Haus in einem alternativen Wohnprojekt auf, bewirbt sich dort auch um einem Schlafplatz und sie kämpft gegen Nazis. Das hat sie schon in der Schule gemacht mit Batte, ihrer besten Freundin, die jetzt im Projekt ihre Fürsprecherin ist. Gleich bei der ersten Aktion des Hauses, bei der Luisa dabei ist, einem farbigen Protest gegen eine Wahlkampfveranstaltung einer rechten Partei, kann sie das Handy eines Nazis einstecken. Mit dieser Aktion und weil auf dem Handy wichtige Informationen sind, verdient sie sich den Respekt von Alfa, einem charismatischem Jungen mit Outlaw-Attitüde, und Lenor, seinem sich lieber planend im Hintergrund aufhaltendem Kumpel. Durch das Handy erfahren sie, wo eine alte Größe der Nazi-Szene, die sich aus der Öffentlichkeit zurückgezogen, aber im Hintergrund immer noch aktiv ist, wohnt.

Das Polit-Drama „Und morgen die ganze Welt“, der neue Film von Julia von Heinz („Hanas Reise“, „Ich bin dann mal weg“), hatte bei den Internationalen Filmfestspielen von Venedig seine Weltpremiere und lief Ende Oktober wenige Tage in den Kinos, bevor sie pandemiebedingt in den immer noch andauernden Winterschlaf geschickt wurden. Er war die erfolglose deutsche Einreichung für die diesjährigen Oscars und erschien jetzt auf DVD und Blu-ray.

Julia von Heinz inszenierte den Film nach einem von ihr und ihrem Mann John Quester geschriebenem Drehbuch. Für sie ist der Film ein langgehegtes persönliches Projekt. Von Heinz und Quester lernten sich in ihren Zwanzigern kennen, als sie sich in politisch linken Kreisen und der Antifa engagierten. Die ersten Ideen für den Film entstanden. In den vergangenen zwanzig Jahren veränderte sich das Projekt immer wieder. Einmal sollte die Geschichte in den Neunzigern spielen. Später sollte es ein Dokumentarfilm mit Antifa-Veteranen, die auf ihre aktive Zeit zurückblicken, werden. Der Kern der Geschichte habe sich dabei nicht verändert. Es gehe, so von Heinz, damals und heute um „eine junge Frau, die in die linke Szene eintaucht und dort vor die Frage gestellt wird, ob Gewalt ein politisches Mittel sein kann oder sogar muss in bestimmten zugespitzten gesellschaftlichen Zuständen“.

Gerahmt wird die Filmgeschichte durch den prominent platzierten Hinweis am Filmanfang und -ende auf den Widerstandsparagraphen des Grundgesetzes. Im Film, in einem Jura-Seminar, wird er ebenfalls angesprochen. Der Paragraph gibt allen Deutschen das Recht zum Widerstand gegen Bestrebungen, die freiheitlich-demokratische Ordnung der Bundesrepublik abzuschaffen. Dieses Recht kann angewandt werden, wenn es keine andere Möglichkeit zum Schutz unseres Staates mehr gibt und es richtet sich selbstverständlich primär gegen eine Regierung, die die Verfassung abschaffen will.

Luisa und ihre Freunde kämpfen im Film allerdings nicht gegen den Staat, sondern gegen Nazis, die die parlamentarische Demokratie abschaffen wollen. Dabei verstoßen sie zunehmend gegen Gesetze. Zuerst sind es Ordnungswidrigkeiten, dann Schlägereien, Einbrüche und Diebstähle. Und Luisa radikalisiert sich. Allerdings, und das ist die große Schwäche, des Films bleibt der Grund für ihre Radikalisierung rätselhaft. Sie macht im Lauf des Films keine Wandlung durch, die eine Abkehr vom friedlichen zum gewaltbereiten Protest erklären könnte. Sie steht vor keinem Konflikt, der sie zu einer Entscheidung zwingt. Sie muss auch nicht gegen Widerstände kämpfen. Sie könnte das Eintauchen in die Antifa-Szene jederzeit als Lifestyle-Experiment abtun. Sie bleibt ein selbstgerechtes Enigma und eine Leerstelle in dem Film.

Die anderen Figuren des Films – Alfa, Lenor, ihre beste Freundin Batte und der Ex-Terrorist Dietmar – haben dagegen alle einen erzählerischen Bogen. Sie haben erkennbare Gewissenskonflikte und müssen sich entscheiden. Sie machen eine Wandlung durch. Sie entwickeln sich. Ein bisschen.

Die Filmgeschichte selbst geht nicht weiter auf die links- und rechtsextreme Ideologie ein, sondern setzt sie, in der Tradition der unsinnigen Hufeisentheorie, gleich. Beide Gruppen stehen sich als Gegner gebenüber. Warum und für welche Ziele sie kämpfen ist egal. Gewalt wenden beide Gruppen an.

Die Gewalt, die wir im Film sehen, geht immer von den Antifaschisten aus. Sogar als, am Filmanfang, ein Nazi Luisa verfolgt, überwältigt und brutal mit eindeutigen Handgriffen durchsucht, sind die Handlungen des Nazis eine Reaktion auf Luisas Diebstahl von seinem Telefon. Diese Szene, die man heranziehen könnte für Luisas Radikalisierung, wird später im Film nicht mehr erwähnt. Entsprechend unwichtig ist sie als Erklärung für ihre Radikalisierung. Sie ist allerdings wichtig für die Filmgeschichte. Sie markiert den Beginn ihrer Freundschaft zu Alfa, der sie vor dem Nazi rettet, indem er ihn mit einer Eisenstange zusammenschlägt, und Lenor.

Dadurch geschehen die Aktionen der Antifa in einem seltsam luftleeren Raum. Es gibt keine im Film erkennbare Ursache und Rechtfertigung; außer der Selbstermächtigung, auf der Seite der Guten zu stehen. Schließlich bedrohen die Faschisten den Staat und der Staat tut nichts gegen sie.

Diese Gleichsetzung von Links- und Rechtsextremismus und dass nur die Linken gewalttätig sind, raubt dem Film viel von seiner Kraft. Sie sind auch erstaunlich. Denn im Pressematerial betonen alle, wie links sie sind, ihre Antifa-Vergangenheit und wie sehr sie vor dem Rechtsextremismus warnen wollen. Auf den ersten Blick, immerhin liegen unsere Sympathien sofort bei der Protagonistin und ihren Freunden, erzählt „Und morgen die ganze Welt“ das. Es ist an der Oberfläche ein kraftvolles und mitreisendes Drama, das auf der Seite der Antifa steht und für sie und ihr gerechtfertigtes Anliegen Partei ergreift.

Auf den zweiten Blick, wenn man sich die Filmgeschichte genauer ansieht, ist es dann anders. Aus dem Aufruf zum Kampf gegen Nazis wird ein Film, der eben diesen Kampf delegitimiert.

Unklar ist allerdings der Grund dafür. Ich befürchte fast, dass Julia von Heinz dies nicht auffiel, weil sie einen authentischen Blick in eine Gruppe wirft, die sie aus eigener Erfahrung kennt und mit der sie sympathisiert. Sie bleibt immer dicht bei ihren Figuren. Die unruhige Handkamera begleitet Luisa ständig. Alles wird wird aus ihrer Sicht erzählt. Sie ist nur mit Gleichgesinnten zusammen. Sie sind sich in ihrer Weltsicht einig. Nur bei den Methoden, um ihre Ziele durchzusetzen, unterscheiden sie sich etwas. Auf die üblichen Erklärungen und platten Psychologisierungen wird verzichtet.

So ist „Und morgen die ganze Welt“ ein Film, der bei all seinen Mängeln und der störenden Kamera (für meinen Geschmack wird zu viel mit der Handkamera gearbeitet, die Kamera ist immer etwas zu nah an den Gesichtern und die Farben sind zu blass) zum Diskutieren einlädt. Vor allem natürlich über die Frage, welche Mittel gegen politische Gegner erlaubt sind. Demonstrationen und Flugblätter? Spaß-Aktionen, wie ins Gesicht geworfene Torten? Gewalt gegen Sachen? Einbrüche? Oder sogar ein hinterhältiger Mord?

Die DVD enthält als Bonusmaterial eine Hörfilmfassung und jeweils fünfminütige Interviews mit Julia von Heinz und Hauptdarstellerin Mala Emde.

Und morgen die ganze Welt (Deutschland 2020)

Regie: Julia von Heinz

Drehbuch: Julia von Heinz, John Quester

mit Mala Emde, Noah Saavedra, Tonio Schneider, Luisa Céline-Gaffron, Andreas Lust

DVD

Alamode Film

Bild: 2.35:1 (16:9)

Ton: Deutsch (DD 5.1) (Hörfilmfassung DD 2.0)

Untertitel: Deutsch für Hörgeschädigte

Bonusmaterial: Interviews mit Julia von Heinz und Mala Emde, Trailer, Wendecover

Länge: 107 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Homepage zum Film

Filmportal über „Und morgen die ganze Welt“

Moviepilot über „Und morgen die ganze Welt“

Rotten Tomatoes über „Und morgen die ganze Welt“

Wikipedia über „Und morgen die ganze Welt“ (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von Julia von Heinz‘ „Hannas Reise“ (Deutschland/Israel 2013)


TV-Tipp für den 26. Januar: Meine Tochter Anne Frank

Januar 26, 2020

RBB, 22.20

Meine Tochter Anne Frank (Deutschland 2015)

Regie: Raymond Ley

Drehbuch: Hannah Ley, Raymond Ley

LV: Anne Frank: Das Tagebuch der Anne Frank

Die bekannte Geschichte der am 12. Juni 1929 geborenen Anne Frank, die sich in Amsterdam während des Zweiten Weltkriegs mit ihrer Familie in einem Hinterhaus versteckte, erzählt Raymond Ley primär aus der Sicht von Annes Vater Otto Frank, der den Krieg überlebte.

„Die künstlerisch ambitionierte Collage setzt sich eindrucksvoll aus Spielszenen und dokumentarischen Einsprengseln zusammen.“ (Lexikon des internationalen Films)

mit Mala Emde, Götz Schubert, Axel Milberg, Lion Wasczyk, Harald Schrott, André M. Hennicke

Hinweise

Wikipedia über „Meine Tochter Anne Frank“ und Anne Frank (deutsch, englisch)

Der Anne Frank Fonds

Anne-Frank-Seite des Fischer Verlags

Meine Besprechung von Hans Steinbichlers „Das Tagebuch der Anne Frank“ (Deutschland 2016)

Die Lektüre zum Film

Anne Frank - Gesamtausgabe TB - 4

Wer nach (oder vor) dem Film so richtig in die Schriften von Anne Frank einsteigen möchte, sollte sich die Gesamtausgabe, die auch ganz banal „Gesamtausgabe“ heißt, zulegen. In ihr sind die verschiedenen Versionen ihres Tagebuchs (es gibt das ursprüngliche Tagebuch, eine von ihr für eine Veröffentlichung schon überarbeitete Fassung, die von ihrem Vater Otto Frank für die Veröffentlichung erstellte Fassung und die von Mirjam Pressler 2001 im Auftrag des Anne Frank Fonds erstellte und autorisierte „Version d“, die die heute verbindliche Fassung ist und in der für frühere Veröffentlichungen gekürzte und weggelassene Teile wieder aufgenommen wurden), die „Geschichten und Ereignisse aus dem Hinterhaus“ (ihre Erzählungen, die teils auf selbst Erlebtem basieren und die auch teils von ihr in ihr Tagebuch übernommen wurden), weitere Erzählungen, Briefe, Einträge in Poesiealben, „Das Schöne-Sätze-Buch“ (das hauptsächlich eine Sammlung von Texten, die ihr gefielen und die sie im Versteck abschrieb, ist) und ‚Das Ägyptenbuch‘ (das ebenfalls vor allem aus anderen Texten besteht und das Anne Franks Faszination für das alte Ägypten dokumentiert) abgedruckt. Damit ist ihr schriftstellerisches Gesamtwerk in diesem Buch enthalten.
Ergänzt wird der Sammelband durch Fotos und Dokumente über sie und ihre Familie und vier Aufsätze über Anne Frank, ihre Familie, den zeitgeschichtlichen Kontext und die Rezeptionsgeschichte.
Diese umfassende Ausgabe eignet sich vor allem für das vertiefte und auch vergleichende Studium.
Für den Hausgebrauch reicht natürlich auch die Ausgabe ihres Tagebuchs.

Anne Frank: Gesamtausgabe
(herausgegeben vom Anne Frank Fonds)
(übersetzt von Mirjam Pressler)
Fischer, 2015
816 Seiten
12,99 Euro

Deutsche Erstausgabe
Fischer, 2013


Neu im Kino/Filmkritik: Oh Boy! Corinna Harfouch ist „Lara“

November 7, 2019

Endlich hat Corinna Harfouch wieder eine Hauptrolle übernommen. „Giulias Verschwinden“, „Blond: Eva Blond!“ und „Vera Brühne“ liegen ja schon einige Jahre zurück.

Endlich hat Jan-Ole Gerster wieder Regie geführt. Sein Debüt „Oh Boy“ war ein Überraschungserfolg und ist einer der allseits beliebten Berlin-Filme. Seitdem sind sieben Jahre vergangen.

Mit seinem zweiten Spielfilm „Lara“ hat er auf den ersten Blick noch einmal „Oh Boy“ inszeniert. Nur dass dieses Mal nicht Tom Schilling, sondern Corinna Harfouch einen Tag lang ziellos durch Berlin streift.

Auf den zweiten Blick ist „Lara“ erzählerisch dann mindestens ein großer Schritt nach vorne in erzählerisch anspruchsvollere Gefilde. In „Oh Boy“ stolpert der Endzwanziger Niko ziellos durch die Stadt, hat einige erfreuliche, einige weniger erfreuliche Begegnungen und er sucht dabei nur eine gute Tasse Kaffee. Die bekommt er am Ende des Films. „Oh Boy“ ist ein wunderschöner SW-Nouvelle-Vague-Film, der genauso ziellos wie sein Protagonist ist. Gerster könnte da mühelos Episoden austauschen oder weglassen und nichts würde sich verändern.

Lara“ ist dagegen ein deutlich komplexerer Film, der Gegenwart und Vergangenheit zu einem Psychogramm einer sehr problematischen Frau verwebt. Lara ist, pünktlich zu ihrem sechzigsten Geburtstag, in Rente geschickt worden. Die Beamtin war eine strenge, fordernde und vollkommen humor- und empathielose Abteilungsleiterin. Freunde hat sie keine. Sie ist auch nicht zum Konzert ihres Sohnes eingeladen.

Viktor ist ein gefeierter klassischer Pianist, der heute Abend ein von ihm komponiertes Stück aufführen will. In der Vergangenheit litt er immer wieder unter ihren Ansprüchen. Sie spornte ihn gleichzeitig zu Höchstleistungen an und sagte ihm, dass er nicht gut genug sei. Und Viktor gelang es nie, sich von ihrem prägenden Einfluss zu lösen. Weil sie durch ihre Anwesenheit Viktors großen Abend sabotieren könnte, will ihr Ex-Mann verhindern, dass Lara ihn vor dem Konzert trifft.

Lara, die an ihrem runden Geburtstag nichts vor hat, streift ziellos durch das alte Westberlin. Sie trifft immer wieder Menschen, die sie zwingen, sich mit ihrer Vergangenheit auseinander zu setzen. Lara wollte früher selbst Pianistin werden. Sie stellte höchste Ansprüche an sich selbst. Sie war auf dem besten Weg, eine Konzertpianistin zu werden, wenn nicht ein von ihr bewunderter Musiker an ihrem Talent gezweifelt hätte. Danach wurde sie die keine Fehler verzeihende, unverschämt hohe Ansprüche stellende Klavierlehrerin ihres Sohnes, der als erwachsener Mann immer noch versucht sich von ihr zu lösen und gleichzeitig, wie ein kleines Kind, von ihrem Urteil abhängig ist.

Schon in den ersten Minuten liefert Gerster die wichtigsten Informationen über Lara. In den nächsten gut hundert Minuten fügt er diesem Bild so viele neue Facetten bei, dass es immer spannend bleibt. Und in den letzten Minuten mit deprimierender Klarheit deutlich wird, wie sehr Lara unwissentlich Erfahrungen weitergab, die sie, ebenfalls unwissentlich, übernahm. Es ist ein Teufelskreislauf, aus dem sie sich nie befreite, weil sie nicht wusste, dass sie in diesem Kreislauf steckte. Falls sie es überhaupt wissen wollte.

Lara“ ist eine glänzend gespielte, präzise inszenierte und gespielte Charakterstudie, die bei aller Tristesse unglaublich unterhaltsam ist. Und ein Berlin-Film.

Jetzt ist nur zu hoffen, dass nicht wieder sieben Jahre bis zu Gersters nächstem Film vergehen.

Lara (Deutschland 2019)

Regie: Jan-Ole Gerster

Drehbuch: Blaž Kutin

mit Corinna Harfouch, Tom Schilling, Volkmar Kleinert, André Jung, Gudrun Ritter, Rainer Bock, Mala Emde, Steffen Jürgens, Alexander Khuon, Birge Schade, Johann von Bülow

Länge: 98 Minuten

FSK: ab 0 Jahre

Hinweise

Homepage zum Film

Filmportal über „Lara“

Moviepilot über „Lara“

Rotten Tomatoes über „Lara“

Wikipedia über „Lara“

Gespräch mit Jan-Ole Gerster und Produzent Marcos Kantis nach der Premiere auf dem Filmfest München


TV-Tipp für den 6. Juni: Meine Tochter Anne Frank

Juni 6, 2019

HR, 22.50

Meine Tochter Anne Frank (Deutschland 2015)

Regie: Raymond Ley

Drehbuch: Hannah Ley, Raymond Ley

LV: Anne Frank: Das Tagebuch der Anne Frank

Die bekannte Geschichte der am 12. Juni 1929 geborenen Anne Frank, die sich in Amsterdam während des Zweiten Weltkriegs mit ihrer Familie in einem Hinterhaus versteckte, erzählt Raymond Ley primär aus der Sicht von Annes Vater Otto Frank, der den Krieg überlebte.

Die künstlerisch ambitionierte Collage setzt sich eindrucksvoll aus Spielszenen und dokumentarischen Einsprengseln zusammen.“ (Lexikon des internationalen Films)

mit Mala Emde, Götz Schubert, Axel Milberg, Lion Wasczyk, Harald Schrott, André M. Hennicke

Wiederholung: 3sat, Mittwoch, 12. Juni, 22.25 Uhr (Anne Franks Geburtstag

Hinweise

Wikipedia über „Meine Tochter Anne Frankund Anne Frank (deutsch, englisch)

Der Anne Frank Fonds

Anne-Frank-Seite des Fischer Verlags

Meine Besprechung von Hans Steinbichlers „Das Tagebuch der Anne Frank“ (Deutschland 2016)

Die Lektüre zum Film

Anne Frank - Gesamtausgabe TB - 4

Wer nach (oder vor) dem Film so richtig in die Schriften von Anne Frank einsteigen möchte, sollte sich die Gesamtausgabe, die auch ganz banal „Gesamtausgabe“ heißt, zulegen. In ihr sind die verschiedenen Versionen ihres Tagebuchs (es gibt das ursprüngliche Tagebuch, eine von ihr für eine Veröffentlichung schon überarbeitete Fassung, die von ihrem Vater Otto Frank für die Veröffentlichung erstellte Fassung und die von Mirjam Pressler 2001 im Auftrag des Anne Frank Fonds erstellte und autorisierte „Version d“, die die heute verbindliche Fassung ist und in der für frühere Veröffentlichungen gekürzte und weggelassene Teile wieder aufgenommen wurden), die „Geschichten und Ereignisse aus dem Hinterhaus“ (ihre Erzählungen, die teils auf selbst Erlebtem basieren und die auch teils von ihr in ihr Tagebuch übernommen wurden), weitere Erzählungen, Briefe, Einträge in Poesiealben, „Das Schöne-Sätze-Buch“ (das hauptsächlich eine Sammlung von Texten, die ihr gefielen und die sie im Versteck abschrieb, ist) und ‚Das Ägyptenbuch‘ (das ebenfalls vor allem aus anderen Texten besteht und das Anne Franks Faszination für das alte Ägypten dokumentiert) abgedruckt. Damit ist ihr schriftstellerisches Gesamtwerk in diesem Buch enthalten.
Ergänzt wird der Sammelband durch Fotos und Dokumente über sie und ihre Familie und vier Aufsätze über Anne Frank, ihre Familie, den zeitgeschichtlichen Kontext und die Rezeptionsgeschichte.
Diese umfassende Ausgabe eignet sich vor allem für das vertiefte und auch vergleichende Studium.
Für den Hausgebrauch reicht natürlich auch die Ausgabe ihres Tagebuchs.

Anne Frank: Gesamtausgabe
(herausgegeben vom Anne Frank Fonds)
(übersetzt von Mirjam Pressler)
Fischer, 2015
816 Seiten
12,99 Euro

Deutsche Erstausgabe
Fischer, 2013


Neu im Kino/Filmkritik: Über Hans Weingartners sehenswertes Roadmovie „303“

Juli 20, 2018

Zuerst will die Biologie-Studentin Jule (Mala Emde) den Anhalter und Politik-Studenten Jan (Anton Spieker) in ihrem alten Wohnmobil nur bis Köln mitnehmen. Aber bei so einer Fahrt hat man zwischen Berlin und Köln viel Zeit, um sich zu unterhalten. Und so nimmt sie ihn letztendlich bis nach Portugal mit. Jule will dort ihren Freund treffen und mit ihm über ihre Schwangerschaft reden. Jan will dort seinen ihm bislang unbekannten Vater treffen.

Aber, wie man so sagt: der Weg ist das Ziel. In diesem Fall ist der Weg, unterbrochen von einigen haarsträubenden Zufällen am Anfang der Reise, vor allem ein ständiges, fast nie abbrechendes Gespräch zwischen Jule und Jan über Gott und die Welt, während an ihnen die Welt vorbeizieht und sie sich langsam näherkommen. Sie sind Geistesverwandte von Jesse (Ethan Hawke) und Céline (Julie Delpy). Sie lernten wir in Richard Linklaters „Before Sunrise“ (USA 1994) kennen und lieben, während sie sich durch eine Nacht in Wien redeten. Dieser Klassiker, der inzwischen zwei ebenso redselige Fortsetzungen fand, ist auch die Inspiration für „303“, den neuen Film von Hans Weingartner („Die fetten Jahre sind vorbei“). Und genau wie in „Before Sunrise“/“Before Sunset“/“Before Midnight“ hängt die Qualität des Films davon ab, wie sehr wir die Protagonisten mögen und wie natürlich die endlosen Gespräche zwischen ihnen klingen. Dabei waren die Gespräche zwischen Jule und Jan schon im Drehbuch genau ausformuliert. „An den Dialogen ist rein gar nichts zufällig. Das geht nicht anders, solche Texte kann man nicht improvisieren. Das wird zu lang und ufert aus und ist zu sprunghaft.“ (Hans Weingartner)

Die Gespräche der beiden in Berlin studierenden, leicht slackerhaften Mittzwanziger drehen sich um die großen Dinge, die Weingartner schon während seines Studiums am Küchentisch diskutierte und die auch heute junge Menschen beschäftigen. Es geht um Liebe, Kapitalismus, Egoismus, Kooperation und Suizid. Nicht unbedingt in dieser Reihenfolge. Jule hält den Menschen für empathisch und kooperativ. Jan nicht. Und damit gibt es schon genug Zündstoff. Weil diese und ähnliche Fragen und Weisheiten im Mittelpunkt des Films stehen und weil Weingartner seit fast zwanzig Jahren an den Dialogen schreibt (in Form einer 300-seitigen Dialagsammlung sind sie auf seinem Computer), er die erste Idee für „303“ bei den Dreharbeiten zu „Das weiße Rauschen“ (2001) hatte, der Film direkt nach seinem letzten Film „Die Summe meiner einzelnen Teile“ (2012) 2013 gedreht werden sollte, sich die Finanzierung damals kurz vor dem Dreh zerschlug und das Roadmovie jetzt zwischen August und Oktober 2015 mit einem kleinen Team von acht Leuten gedreht wurde, gibt es keine sich auf die aktuelle Tagespolitik beziehenden Dialoge. Und das ist gut so. Denn so bleibt die Reise der beiden Studierenden zeitlos.

Trotzdem ist es schade, dass die beiden durch Europa fahren, aber keinen Kontakt zu den in Europa lebenden Menschen haben. Das unterscheidet ihre Reise von der Reise der beiden Motorradfahrer Wyatt (Peter Fonda) und Billy (Dennis Hopper) in „Easy Rider“, die damals Amerika entdecken wollten.

Weingartners Roadmovie „303“ ist ein schöner Film, bei dem die gut hundertfünfzig Minuten, die der Film dauert, wie im Flug vergehen. Auch wenn wenig passiert. Außer dass Jan und Jule miteinander reden. Meistens im fahrenden Wohnmobil, einem 1980er Mercedes Hymer 303. Eigentlich ist es ein 308, aber Regisseur Hans Weingartner meinte, 303 klinge besser. Manchmal halten Jule und Jan auch an. Aber für die Menschen und die Landschaft interessieren sie sich nicht. Sie müssen sich ja weiter unterhalten, auch wenn manche ihre Sätze von Jan oder von Jule gesagt werden könnten und sie wenig bis keine Verbindung zu ihrem Studium haben. Es geht halt um die großen philosophischen Fragen und die haben nichts mit dem Studienfach zu tun.

303 (Deutschland 2018)

Regie: Hans Weingartner

Drehbuch: Hans Weingartner, Silke Eggert

mit Mala Emde, Anton Spieker

Länge: 145 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Homepage zum Film

Filmportal über „303“

Moviepilot über „303“

Rotten Tomatoes über „303“

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