Matt Damon besucht Europa. Allerdings nicht als Jason Bourne, sondern als Bill Baker. Baker lebt in Stillwater, Oklahoma, ist Bohrarbeiter, Ex-Alkoholiker, Witwer und er ist gläubig. Jetzt besucht er in Europa seine Tochter Allison (Abigail Breslin). Die sitzt in Marseille im Gefängnis. Sie ist (war?) Austauschstudentin und soll ihre Mitbewohnerin ermordet haben. Dafür wurde sie zu einer neunjährigen Haftstrafe verurteilt. Vier Jahre hat sie noch vor sich. Ihr Vater besucht sie regelmäßig; sofern es seine beschränkten finanziellen Möglichkeiten zulassen.
Jetzt bittet Allison ihn, einen Brief zu ihrer Anwältin zu bringen. Von einer Mitgefangenen habe sie gehört, dass ein junger Mann auf einer Party erzählt habe, er habe einen Mord begangen, für den er nicht verurteilt wurde. Allison vermutet, dass dieser Mann, von dem es nur eine dürftige Beschreibung gibt, auch der Mörder ihrer Mitbewohnerin Lena ist.
Und spätestens jetzt ist die Zeit für einen Einschub gekommen. Denn Tom McCarthys Drama „Stillwater“ wird auch damit beworben, von dem Fall Amanda Knox inspiriert zu sein. Allerdings wurde von dem wahren Fall nur die die Ausgangssituation, nämlich dass eine Austauschstudentin verdächtigt wird, ihre Mitbewohnerin umgebracht zu haben, übernommen. Der Rest ist reine Fiktion.
Wer daher mehr über den Fall weiß, sollte nicht nach Gemeinsamkeiten zwischen dem wahren Mordfall und diesem Filmmord suchen. Es gibt sie nicht. Wer nach der Lektüre der Filmankündigung in den Film geht, um mehr über Amanda Knox und den Mord an Meredith Kercher zu erfahren, sollte es bleiben lassen. Es ist kein Enthüllungsfilm. Und, weil ich gerade dabei bin, wer jetzt in den Film gehen möchte, um einen spannenden Kriminalfilm zu sehen, sollte es auch bleiben lassen. Zwar ist der Mordfall und die Suche von Baker nach dem Mörder der rote Faden des Films, aber McCarthy interessiert sich kaum für die Tätersuche und die Lösung des Falls überzeugt nicht.
McCarthy interessiert sich für seinen Protagonisten Bill Baker; grandios verkörpert von Matt Damon. Damon veränderte für diese Rolle seine gesamte Körperhaltung, Gang, Bewegungen und Sprache so sehr, dass er kaum noch erkennbar ist. Das und dass Damon als Baker immer einen Goatee und eine Basecap trägt, ermöglichte es McCarthy auch, mit Matt Damon 2019 während eines Fußballspiels im Stade Velodrome, dem Stadion des Clubs Olympique de Marseille, zu drehen. Anscheinend erkannte niemand den Hollywood-Star.
Insofern ist „Stillwater“ vor allem eine Charakterstudie eines Mannes mit vielen Fehlern, der jetzt versucht seiner Tochter zu helfen und der von der Situation hoffnungslos überfordert ist. So raten ihm alle ab, auf eigene Faust den Mörder zu suchen. Er tut es trotzdem. Er ist jederzeit gefährdet, wieder zu trinken. Oder ein anderes Suchtverhalten zu wählen. Halt findet er nur in der Zufallsbekanntschaft Virginie (Camille Cottin) und ihrer Tochter Maya (Lilou Siauvaud, Debüt). Die Theaterschauspielerin Virginie ist in Marseille seine Übersetzerin, die ihm auch bei den Ermittlungen hilft. Er hilft ihr als Handwerker bei Kleinigkeiten im Haushalt. Mit ihrer Tochter lernt er französisch. Und er versucht für Maya der Vater zu sein, der er für Allison nie war. Diese Beziehungen rücken in der zweiten Hälfte des Films in den Mittelpunkt.
„Stillwater“ überzeugt als ruhig erzählte Charakterstudie. Die Figuren sind komplex, ihre Konflikte nachvollziehbar und das Ende regt zum Nachdenken an. Tom McCarthy („Spotlight“) hat einen Film für Erwachsene gedreht. Und Matt Damon liefert seine wahrscheinlich beste Leistung als Schauspieler ab. Was will mensch mehr?
…vielleicht noch einige Aufnahmen von Marseille abseits der bekannten Touristenpfade.
Stillwater – Gegen jeden Verdacht (Stillwater, USA 2021)
Regie: Tom McCarthy
Drehbuch: Tom McCarthy, Thomas Bidegain, Noé Debre
mit Matt Damon, Abigail Breslin, Camille Cottin, Lilou Siauvaud, Anne le Ny, Moussa Maaskri, Jean-Marc Michelangeli, Deanna Dunagan
Länge: 140 Minuten
FSK: ab 12 Jahre
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Hinweise
Rotten Tomatoes über „Stillwater“
Wikipedia über „Stillwater“ (deutsch, englisch)
Meine Besprechung von Tom McCarthys „Win Win“ (Win Win, USA 2011)
Meine Besprechung von Tom McCarthys „Spotlight“ (Spotlight, USA 2015)