Wir sind alle Astronauten (Asphalte, Frankreich 2015)
Regie: Samuel Benchetrit
Drehbuch: Samuel Benchetrit, Gábor Rassov
Tragikomödie über die Bewohner eines typischen Banlieue-Mietshauses in Frankreich. Zum Beispiel eine Schauspielerin, die in den Achtzigern berühmt war. Oder ein Mieter, der den Fahrstuhl nicht benutzten darf, weil er im ersten Stock wohnt. Auch nicht, als er nach einem Unfall im Rollstuhl sitzt. Oder eine Algerierin, die einen Astronauten bewirtet, der darauf wartet, von der NASA abgeholt zu werden.
Einen typischen Feelgood-Film erwartet niemand von Michael Haneke, dem Regisseur von „Benny’s Video“, „Funny Games“ und, zuletzt, den Erfolgen „Das weiße Band“ und „Liebe“. Der Film erhielt vorn fünf Jahren die Palme d’Or in Cannes und in einem kurzen Moment, auch weil Isabelle Huppert wieder die Tochter von Jean-Louis Trintignant spielt, kann man glauben, dass „Happy End“ eine Fortsetzung von „Liebe“ ist. Es wird nämlich ein Ereignis erwähnt, das es auch in „Liebe“ gab: George erstickte seine todkranke Frau. In dem Moment erscheint „Happy End“ die Geschichte von „Liebe“ über die letzten Tage eines großbürgerlichen Pariser Ehepaares fortzusetzen.
Aber das ist Quatsch.
Denn im Mittelpunkt von „Happy End“ steht die Familie Laurent. Seit Jahrzehnten besitzt sie in Calais ein Bauunternehmen und lebt in einem Anwesen. Der Patriarch Georges (Jean-Louis Trintignant) leidet an Demenz und hegt Suizidgedanken, die er beharrlich, aber erfolglos in die Tat umsetzen will. Seine Tochter Anne (Isabelle Huppert) führt das Unternehmen straff und zielgerichtet. Ihr Sohn Pierre (Franz Rogowski) ist der designierte, aber ungeeignete Nachfolger. Ihr Bruder Thomas (Mathieu Kassovitz) ist Arzt, der jetzt seine zwölfjährige Tochter Ève (Fantine Harduin) bei sich und damit den Laurents aufnimmt. Èves Mutter hat sich mit Tabletten vergiftet.
Georges erblickt in ihr eine Verbündete. Dabei passt sie, wie er erst später feststellt, hervorragend in die dysfunktionale Familie Laurent, in der Humanität sich als gutes Angebot für eine außergerichtliche Einigung an die Angehörigen eines bei einem Bauunfall umgekommenen Arbeiters versteht.
Über zwei Stunden entwirft Haneke die „Momentaufnahme einer bürgerlichen europäischen Familie“. Es ist ein satirisches Porträt. Eine Abfolge von mehr oder weniger eindeutig zuordenbarer Szenen, die in sich gelungen sind, insgesamt aber emotional wenig bewegen oder neue Erkenntnisse liefern. Die Reichen sind amoralisch und unfähig zu irgendeiner Form von Mitgefühl oder menschlicher Nähe. Das kennt man aus älteren Haneke-Filmen. Aber dieses Mal verzichtet er auf eine Geschichte. Fast alle für die Handlung wichtigen Ereignisse sieht man nicht, sondern erfährt erst später von ihnen, wenn eine Person einer anderen davon erzählt. Nie schält sich so etwas wie ein Hauptplot heraus, weil „Happy End“ überhaupt nicht daran interessiert ist. Und selbstverständlich ist kein Mitglied der Familie Laurent sympathisch oder taugt zum Sympathieträger. Das war auch in den anderen Haneke-Filmen nicht anders. Aber dieses Mal interessiert man sich für keinen Charakter und keiner hat im Film eine dramaturgische Fallhöhe oder macht eine Entwicklung durch. Das würde Hanekes Botschaft stören und würde natürlich auch der Absicht eines durch und durch pessimistischen Sittenbildes einer normalen bürgerlichen, sich selbst genügenden Familie zuwiderlaufen. Oder in den Worten der offiziellen Synopse: „’Rundherum die Welt und wir mittendrin, blind.‘ Die Momentaufnahme einer bürgerlichen europäischen Familie.“
Bei Michael Haneke weiß man, was man erhält. Auch wenn sein neuester Film die Geschlossenheit früherer Werke vermissen lässt zugunsten eines Haneke-Best-of, bei dem selbstverständlich auch die Medienkritik nicht fehlt. Das ist nicht schlecht, aber auch enttäuschend.
Happy End (Happy End, Frankreich/Deutschland/Österreich 2017)
Regie: Michael Haneke
Drehbuch: Michael Haneke
mit Isabelle Huppert, Jean-Louis Trintignant, Mathieu Kassovitz, Fantine Harduin, Franz Rogowski, Laura Verlinden, Toby Jones, Hassam Ghancy, Nabiha Akkari
Wenige Tage vor dem Kinostart von Michael Hanekes „Happy End“ (ebenfalls mit Jean-Louis Trintignant und Isabelle Huppert) kann man sich noch einmal seinen vorherigen Film ansehen:
Arte, 20.15 Liebe(Amour, Frankreich/Deutschland/Österreich 2012)
Regie: Michael Haneke
Drehbuch: Michael Haneke
Georges pflegt seine Frau Anne, mit der er seit Jahrzehnten verheiratet ist – und Michael Haneke beobachtet diesen Weg in den Tod mit der ihm eigenen Präzision.
Der grandiose Film erhielt unter anderem die Goldene Palme (kurz nach seiner Weltpremiere), den Oscar als bester ausländischer Film (er war auch nominiert als bester Film, beste Regie, bestes Drehbuch und beste Hauptdarstellerin), mehrere Césars und viele weitere Preise. Warum ich den Film so gut finde, obwohl er nicht unproblematisch ist, habe ich hier erklärt.
mit Jean-Louis Trintignant, Emmanuelle Riva, Isabelle Huppert, Alexandre Tharaud, William Shimell, Ramón Agirre, Rita Blanco
Im Moment ist Paul Verhoeven Präsident der Berlinale-Jury und gleichzeitig läuft sein neuer Film „Elle“ endlich in unseren Kinos an. Seine grandiose Philippe-Djian-Verfilmung wurde bereits 2016 bei den Filmfestspielen von Cannes gezeigt. Seitdem gab es Preise, wie Golden Globes als bester fremdsprachiger Film und für Isabelle Huppert als beste Darstellerin, eine Oscar-Nominierung für Huppert, elf César-Nominierungen und Nominierungen für den Europäischen Filmpreis in den Kategorien „Bester Film“, „Beste Regie“ und „Beste Darstellerin“, die auf die Qualitäten von Verhoevens neuem Film hinweisen.
Isabelle Huppert spielt Michèle Leblanc, die Chefin einer Videogame-Firma.
Als sie in ihrer Wohnung vergewaltigt wird, kriegt sie keine Panikattacke oder ruft um Hilfe. Stattdessen räumt sie äußerlich ungerührt die Scherben weg. Sie geht zum Arzt und lässt sich auf mögliche Krankheiten und Infektionen testen. Sie kauft sich Pfefferspray. Bei einem Abendessen in einem noblen Restaurant mit ihrem Ex-Mann Richard, einem erfolglosem Schriftsteller, ihrer Geschäftspartnerin und Freundin Anna und deren Mann Robert (mit dem Michèle ein Verhältnis hat), sagt sie ihnen beiläufig, dass sie vergewaltigt wurde. Weiter will sie nicht darüber reden.
Sie ist ein Biest, das sich schon früh einen Panzer zulegte,und ihren Mitmenschen in einer Mischung aus schnippischer Kaltschnäuzigkeit, gnadenloser Ehrlichkeit und offensichtlicher Ungerührtheit über ihre Gefühle begegnet, Sie ist in keinster Weise liebenswert, aber dank Isabelle Hupperts Spiel schließt man sie dann doch ins Herz. Soweit das möglich ist, bei einer Person, die sich nie als Opfer sieht, immer die Kontrolle behält und keine Emotionen zeigt.
Die anderen Menschen und Paul Verhoevens eiskalt-illusionsfreier Blick auf die conditio humana zeichnet ein reichlich misanthropisches Bilder der Menschheit. Kein Mann ist auch nur im Ansatz eine Zierde seines Geschlechts. Es sind Jammerlappen. Robert ist einfach nur ein ständig notgeiler Trottel. Christian Berkel hatte erkennbar seinen Spaß an diesem tumben Mannsbild. Die Frauen sind kaum besser. Michèles Mutter lässt sich ständig liften und hält sich jüngere Liebhaber. Ihre Nachbarin ist eine überzeugte Katholikin, die auf einem Tischgebet besteht und am Ende einen harmlos klingenden Satz sagt, der, weil wir den Hintergrund und die wahre Dimension des Satzes kennen, schlimmer kaum sein könnte. Ob er aus ehrlicher Erkenntnis oder vollkommener Verlogenheit gesagt wurde, bleibt dagegen dem Zuschauer überlassen. Ihre Freundin Anna erscheint da schon fast wie eine moralische Lichtgestalt.
Es sind, wenn auch mit mehr oder weniger großen Abweichungen von der Norm, ganz normale Menschen, die immer ihr Geheimnis bewahren. Das liegt auch an David Birkes Drehbuch, in dem jeder Satz ein Treffer ist, und Paul Verhoevens präziser Regie. Sie haben aus Philippe Djians Roman „Oh…“ vieles übernommen, ihn aber an den entscheidenden Stellen verbessert und Motive und Beziehungen klarer herausgearbeitet. Dem mit dem Prix Interallié ausgezeichneten Roman fehlt die klare Struktur, der ironische Ton und die satirische Schärfe des Films. So ist Michèle im Roman eine Filmproduzentin, die oft zu Hause Drehbücher liest. Im Film ist sie eine Videogame-Produzentin, die vor allem junge Männer angestellt hat, die gerade ein neues, sehr sexistisches und gewaltverherrlichendes Spiel programmieren. Michèles reale Vergewaltigung wird im Spiel mehr als einmal in verschiedenen Facetten reflektiert. Im Roman wird das Verbrechen von ihrem Vater nur angedeutet. Im Film erfahren wir die ganze Wahrheit. Der Katholizismus von ihrer Nachbarin spielt im Film eine größere Rolle. Sowieso wurden etliche Szenen dazu erfunden, die gleichzeitig Konflikte stärker zuspitzen als im Roman, die Charaktere in einem kälteren Licht erscheinen lassen und der gesamten Geschichte eine faszinierende Zwiespältigkeit verleihen. Denn Verhoeven und sein grandioses Ensemble lassen den Charakteren immer einen Hauch ihres Geheimnisses und fast jeder Satz und jede Handlung kann auf mindestens zwei Arten interpretiert werden.
Auch weil Michèle, nachdem sie die Identität ihres Vergewaltigers enthüllte, mit ihm eine Beziehung eingeht.
„Elle“ gehört zu den Filmen, die beim zweiten Ansehen besser als beim ersten Ansehen sind. Wie gut wird der Erotik-Thriller dann beim dritten Ansehen sein?
Verdammt gut.
Die DVD ist dagegen eine Enttäuschung. Neben der Hörfilmfassung (keine Selbstverständlichkeit!), gibt es kein weiteres Bonusmaterial und das Bild ist, jedenfalls auf dem Screener, den ich bekommen habe, erstaunlich blass und unscharf. Aber da kann auch die Erinnerung an das Kinobild trügen.
Elle (Elle, Frankreich/Deutschland/Belgien 2016)
Regie: Paul Verhoeven
Drehbuch: David Birke
LV: Philippe Djian: Oh…, 2012 (Oh…)
mit Isabelle Huppert, Laurent Lafitte, Anne Consigny, Christian Berkel, Charles Berling, Virginie Efira, Judith Magre, Jonas Bloquet, Alice Isaaz, Vamila Pons
–
DVD
MFA
Bild: 2.40:1 (16:9)
Ton: Deutsch, Französisch (Dolby Digital 5.1), Deutsche Hörfilmfassung für Blinde und Sehbehinderte
Arte, 20.15 Heaven’s Gate – Das Tor zum Himmel (USA 1980, Regie: Michael Cimino)
Drehbuch: Michael Cimino
Michael Ciminos epische, lose vom Johnson County War inspirierte Chronik eines blutigen Krieges zwischen neuen Siedlern aus Osteuropa und alteingesessenen Großgrundbesitzern in Wyoming um 1890, bei dem die Nationalgarde den Großgrundbesitzern zum Sieg verhalf.
Ein jeder Beziehung grandioser Western, der damals auch grandios floppte. Heute ist er als Klassiker anerkannt, erhielt 2012 den Ehrenlöwen der Filmfestspiele Venedig – und wartet in Deutschland immer noch auf eine würdige DVD/Blu-ray-Ausgabe, die es in den USA schon lange gibt.
In Deutschland lief der Film erst 1985 im Kino an und der Fischer Film Almanach schrieb: „irgendwann einmal wird (…) ‚Heaven’s Gate‘ – vermutlich in der langen Originalfassung – als Meisterwerk und Kultfilm entdeckt werden.“
In Deutschland lief die 219-minütige Originalfassung. In den damals Ronald-Reagan-patriotisch besoffenen USA wurde der Film kurz nach dem Kinostart auf 149 Minuten gekürzt und immer noch wollte niemand das kritische Geschichtsbild sehen.
Cimino drehte davor „Die letzten beißen die Hunde“ und „Die durch die Hölle gehen“. Beides hochgelobte und an der Kinokasse erfolgreiche Filme. Danach kämpfte er um jeden Film, schaffte aber noch „Im Jahr des Drachen“, „Der Sizilianer“ (eher nett) und „24 Stunden in seiner Gewalt“.
mit Kris Kristofferson, Christopher Walken, John Hurt, Isabelle Huppert, Joseph Cotten, Jeff Bridges, Sam Waterston, Brad Dourif, Richard Masur, Mickey Rourke (fast sein Debüt) Hinweise Rotten Tomatoes über „Heaven’s Gate“
Wikipedia über „Heaven’s Gate“ (deutsch, englisch) Kriminalakte: Publikumsgespräch über „Heaven’s Gate“ mit Michael Cimino und Kris Kristofferson
Der Loulou (Frankreich 1980, Regie: Maurice Pialat)
Drehbuch: Arlette Langmann
Die bürgerliche Nelly (Isabelle Huppert) verliebt sich in den Herumtreiber und Ex-Knacki Loulou (Gérard Depardieu – damals noch rank und schlank am Anfang seiner Karriere). Eine problematische Beziehung beginnt.
„wird eindringlich nachvollziehbar, wie diese zwei Menschen weder zueinanderfinden noch sich trennen können.“ (Fischer Film Almanach 1982)
Das Lexikon ist etwas weniger begeistert von dem Drama: „Zustandsbeschreibung einer Gruppe von ‚Aussteigern‘, die Motive und soziales Umfeld nicht näher beleuchtet. Durch die weitgehend unkritische Zeichnung der Figuren und seine unentschiedene Haltung verliert der Film an Glaubwürdigkeit.“
mit Isabelle Huppert, Gérard Depardieu, Guy Marchand, Humbert Balsan
Im Moment ist Paul Verhoeven Präsident der Berlinale-Jury und gleichzeitig läuft sein neuer Film „Elle“ endlich in unseren Kinos an. Seine grandiose Philippe-Djian-Verfilmung wurde bereits 2016 bei den Filmfestspielen von Cannes gezeigt. Seitdem gab es Preise, wie Golden Globes als bester fremdsprachiger Film und für Isabelle Huppert als beste Darstellerin, eine Oscar-Nominierung für Huppert, elf César-Nominierungen und Nominierungen für den Europäischen Filmpreis in den Kategorien „Bester Film“, „Beste Regie“ und „Beste Darstellerin“, die auf die Qualitäten von Verhoevens neuem Film hinweisen.
Isabelle Huppert spielt Michèle Leblanc, die Chefin einer Videogame-Firma.
Als sie in ihrer Wohnung vergewaltigt wird, kriegt sie keine Panikattacke oder ruft um Hilfe. Stattdessen räumt sie äußerlich ungerührt die Scherben weg. Sie geht zum Arzt und lässt sich auf mögliche Krankheiten und Infektionen testen. Sie kauft sich Pfefferspray. Bei einem Abendessen in einem noblen Restaurant mit ihrem Ex-Mann Richard, einem erfolglosem Schriftsteller, ihrer Geschäftspartnerin und Freundin Anna und deren Mann Robert (mit dem Michèle ein Verhältnis hat), sagt sie ihnen beiläufig, dass sie vergewaltigt wurde. Weiter will sie nicht darüber reden.
Sie ist ein Biest, das sich schon früh einen Panzer zulegte,und ihren Mitmenschen in einer Mischung aus schnippischer Kaltschnäuzigkeit, gnadenloser Ehrlichkeit und offensichtlicher Ungerührtheit über ihre Gefühle begegnet, Sie ist in keinster Weise liebenswert, aber dank Isabelle Hupperts Spiel schließt man sie dann doch ins Herz. Soweit das möglich ist, bei einer Person, die sich nie als Opfer sieht, immer die Kontrolle behält und keine Emotionen zeigt.
Die anderen Menschen und Paul Verhoevens eiskalt-illusionsfreier Blick auf die conditio humana zeichnet ein reichlich misanthropisches Bilder der Menschheit. Kein Mann ist auch nur im Ansatz eine Zierde seines Geschlechts. Es sind Jammerlappen. Robert ist einfach nur ein ständig notgeiler Trottel. Christian Berkel hatte erkennbar seinen Spaß an diesem tumben Mannsbild. Die Frauen sind kaum besser. Michèles Mutter lässt sich ständig liften und hält sich jüngere Liebhaber. Ihre Nachbarin ist eine überzeugte Katholikin, die auf einem Tischgebet besteht und am Ende einen harmlos klingenden Satz sagt, der, weil wir den Hintergrund und die wahre Dimension des Satzes kennen, schlimmer kaum sein könnte. Ob er aus ehrlicher Erkenntnis oder vollkommener Verlogenheit gesagt wurde, bleibt dagegen dem Zuschauer überlassen. Ihre Freundin Anna erscheint da schon fast wie eine moralische Lichtgestalt.
Es sind, wenn auch mit mehr oder weniger großen Abweichungen von der Norm, ganz normale Menschen, die immer ihr Geheimnis bewahren. Das liegt auch an David Birkes Drehbuch, in dem jeder Satz ein Treffer ist, und Paul Verhoevens präziser Regie. Sie haben aus Philippe Djians Roman „Oh…“ vieles übernommen, ihn aber an den entscheidenden Stellen verbessert und Motive und Beziehungen klarer herausgearbeitet. Dem mit dem Prix Interallié ausgezeichneten Roman fehlt die klare Struktur, der ironische Ton und die satirische Schärfe des Films. So ist Michèle im Roman eine Filmproduzentin, die oft zu Hause Drehbücher liest. Im Film ist sie eine Videogame-Produzentin, die vor allem junge Männer angestellt hat, die gerade ein neues, sehr sexistisches und gewaltverherrlichendes Spiel programmieren. Michèles reale Vergewaltigung wird im Spiel mehr als einmal in verschiedenen Facetten reflektiert. Im Roman wird das Verbrechen von ihrem Vater nur angedeutet. Im Film erfahren wir die ganze Wahrheit. Der Katholizismus von ihrer Nachbarin spielt im Film eine größere Rolle. Sowieso wurden etliche Szenen dazu erfunden, die gleichzeitig Konflikte stärker zuspitzen als im Roman, die Charaktere in einem kälteren Licht erscheinen lassen und der gesamten Geschichte eine faszinierende Zwiespältigkeit verleihen. Denn Verhoeven und sein grandioses Ensemble lassen den Charakteren immer einen Hauch ihres Geheimnisses und fast jeder Satz und jede Handlung kann auf mindestens zwei Arten interpretiert werden.
Auch weil Michèle, nachdem sie die Identität ihres Vergewaltigers enthüllte, mit ihm eine Beziehung eingeht.
„Elle“ gehört zu den Filmen, die beim zweiten Ansehen besser als beim ersten Ansehen sind. Wie gut wird der Erotik-Thriller dann beim dritten Ansehen sein?
Elle (Elle, Frankreich/Deutschland/Belgien 2016)
Regie: Paul Verhoeven
Drehbuch: David Birke
LV: Philippe Djian: Oh…, 2012 (Oh…)
mit Isabelle Huppert, Laurent Lafitte, Anne Consigny, Christian Berkel, Charles Berling, Virginie Efira, Judith magre, Jonas Bloquet, Alice Isaaz, Vamila Pons
WDR, 22.10 Liebe(Amour, Frankreich/Deutschland/Österreich 2012)
Regie: Michael Haneke
Drehbuch: Michael Haneke
Georges pflegt seine Frau Anne, mit der er seit Jahrzehnten verheiratet ist – und Michael Haneke beobachtet diesen Weg in den Tod mit der ihm eigenen Präzision.
Der grandiose Film erhielt unter anderem die Goldene Palme (kurz nach seiner Weltpremiere), den Oscar als bester ausländischer Film (er war auch nominiert als bester Film, beste Regie, bestes Drehbuch und beste Hauptdarstellerin), mehrere Césars und viele weitere Preise. Warum ich den Film so gut finde, obwohl er nicht unproblematisch ist, habe ich hier erklärt.
mit Jean-Louis Trintignant, Emmanuelle Riva, Isabelle Huppert, Alexandre Tharaud, William Shimell, Ramón Agirre, Rita Blanco
ZDFkultur, 20.15 Biester (Frankreich/Deutschland 1995, Regie: Claude Chabrol)
Drehbuch: Claude Chabrol, Caroline Eliacheff
LV: Ruth Rendell: A Judgment in Stone, 1977 (Urteil in Stein)
Die wohlhabenden Lelièvres schätzen Sophie als Hausmädchen. Dabei wissen sie nichts über ihre Perle. Ganz im Gegensatz zur Postbeamtin Jeanne.
Chabrols ruhiger Thriller blickt einmal mehr hinter die Kulissen der Provinz-Bourgeoisie. Der Ausgang seines „marxistischen Thrillers“ (Chabrol über Biester) ist letal. „Der sozialen Hinrichtung der Repräsentanten der Unterschicht folgt die körperliche Hinrichtung der Bourgeoisie. Das ist der totale Krieg zwischen den Klassen. Und Chabrol setzt ihn unverhüllt in Szene.“ (Fischer Film Almanach 1996)
Mit Isabelle Huppert, Sandrine Bonnaire, Jean-Pierre Cassel, Jacqueline Bisset
ZDFkultur, 20.15/23.40 Biester (Frankreich/Deutschland 1995, Regie: Claude Chabrol)
Drehbuch: Claude Chabrol, Caroline Eliacheff
LV: Ruth Rendell: A Judgment in Stone, 1977 (Urteil in Stein)
Die wohlhabenden Lelièvres schätzen Sophie als Hausmädchen. Dabei wissen sie nichts über ihre Perle. Ganz im Gegensatz zur Postbeamtin Jeanne.
Chabrols ruhiger Thriller blickt einmal mehr hinter die Kulissen der Provinz-Bourgeoisie. Der Ausgang seines „marxistischen Thrillers“ (Chabrol über Biester) ist letal. „Der sozialen Hinrichtung der Repräsentanten der Unterschicht folgt die körperliche Hinrichtung der Bourgeoisie. Das ist der totale Krieg zwischen den Klassen. Und Chabrol setzt ihn unverhüllt in Szene.“ (Fischer Film Almanach 1996)
Mit Isabelle Huppert, Sandrine Bonnaire, Jean-Pierre Cassel, Jacqueline Bisset
LV: Robert Thomas: Huit Femmes, 1958/1962 (Theaterstück)
Weihnachten in einem verschneiten Landhaus: In der Nacht wird der Hausherr ermordet. Die Täterin ist eine der acht Frauen, die im Haus sind. Selbstverständlich hat jede von ihnen auch ein gutes Motiv das Ekel umzubringen.
Ein Cozy mit Gesang und einem Darstellerinnenensemble, das über jeden Zweifel erhaben ist und die Crème de la Crème des französischen Films versammelt.
ZDFkultur, 22.20 Biester (Frankreich/Deutschland 1995, Regie: Claude Chabrol)
Drehbuch: Claude Chabrol, Caroline Eliacheff
LV: Ruth Rendell: A Judgment in Stone, 1977 (Urteil in Stein)
Die wohlhabenden Lelièvres schätzen Sophie als Hausmädchen. Dabei wissen sie nichts über ihre Perle. Ganz im Gegensatz zur Postbeamtin Jeanne.
Chabrols ruhiger Thriller blickt einmal mehr hinter die Kulissen der Provinz-Bourgeoisie. Der Ausgang seines „marxistischen Thrillers“ (Chabrol über Biester) ist letal. „Der sozialen Hinrichtung der Repräsentanten der Unterschicht folgt die körperliche Hinrichtung der Bourgeoisie. Das ist der totale Krieg zwischen den Klassen. Und Chabrol setzt ihn unverhüllt in Szene.“ (Fischer Film Almanach 1996)
Mit Isabelle Huppert, Sandrine Bonnaire, Jean-Pierre Cassel, Jacqueline Bisset
Wiederholung: Mittwoch, 20. Mai, 02.15 Uhr (Taggenau!)
3sat, 22.20 Heaven’s Gate – Das Tor zum Himmel (USA 1980, Regie: Michael Cimino)
Drehbuch: Michael Cimino
Michael Ciminos epische, lose vom Johnson County War inspirierte Chronik eines blutigen Krieges zwischen neuen Siedlern aus Osteuropa und alteingesessenen Großgrundbesitzern in Wyoming um 1890, bei dem die Nationalgarde den Großgrundbesitzern zum Sieg verhalf.
Ein jeder Beziehung grandioser Western, der damals auch grandios floppte. Heute ist er als Klassiker anerkannt, erhielt 2012 den Ehrenlöwen der Filmfestspiele Venedig – und wartet in Deutschland immer noch auf eine würdige DVD/Blu-ray-Ausgabe, die es in den USA schon lange gibt.
In Deutschland lief der Film erst 1985 im Kino an und der Fischer Film Almanach schrieb: „irgendwann einmal wird (…) ‚Heaven’s Gate‘ – vermutlich in der langen Originalfassung – als Meisterwerk und Kultfilm entdeckt werden.“
In Deutschland lief die 219-minütige Originalfassung. In den damals Ronald-Reagan-patriotisch besoffenen USA wurde der Film kurz nach dem Kinostart auf 149 Minuten gekürzt und immer noch wollte niemand das kritische Geschichtsbild sehen.
Cimino drehte davor „Die letzten beißen die Hunde“ und „Die durch die Hölle gehen“. Beides hochgelobte und an der Kinokasse erfolgreiche Filme. Danach kämpfte er um jeden Film, schaffte aber noch „Im Jahr des Drachen“, „Der Sizilianer“ (eher nett) und „24 Stunden in seiner Gewalt“.
mit Kris Kristofferson, Christopher Walken, John Hurt, Isabelle Huppert, Joseph Cotten, Jeff Bridges, Sam Waterston, Brad Dourif, Richard Masur, Mickey Rourke (fast sein Debüt) Hinweise Rotten Tomatoes über „Heaven’s Gate“
Wikipedia über „Heaven’s Gate“ (deutsch, englisch) Kriminalakte: Publikumsgespräch über „Heaven’s Gate“ mit Michael Cimino und Kris Kristofferson
ARD, 21.45 Liebe(Amour, Frankreich/Deutschland/Österreich 2012)
Regie: Michael Haneke
Drehbuch: Michael Haneke
Georges pflegt seine Frau Anne, mit der er seit Jahrzehnten verheiratet ist – und Michael Haneke beobachtet diesen Weg in den Tod mit der ihm eigenen Präzision.
Der grandiose Film erhielt unter anderem die Goldene Palme (kurz nach seiner Weltpremiere), den Oscar als bester ausländischer Film (er war auch nominiert als bester Film, beste Regie, bestes Drehbuch und beste Hauptdarstellerin), mehrere Césars und viele weitere Preise. Warum ich den Film so gut finde, obwohl er nicht unproblematisch ist, habe ich hier erklärt.
mit Jean-Louis Trintignant, Emmanuelle Riva, Isabelle Huppert, Alexandre Tharaud, William Shimell, Ramón Agirre, Rita Blanco
Wirklich gelungene Verfilmung eines der besten Thompson-Bücher: ein Haufen Menschen geht ihren niederen Trieben (Sex, Ehebruch, Mord) nach und fühlt sich dabei von moralischen Gesetzen nicht gebunden.
Tavernier verlegte die Handlung von einem Südstaaten-Kaff nach Französisch-Westafrika, blieb aber der Seele des Buches treu.
Mit Philippe Noiret, Isabelle Huppert, Stéphane Audran, Guy Marchand
LV: Robert Thomas: Huit Femmes, 1958/1962 (Theaterstück)
Weihnachten in einem verschneiten Landhaus: In der Nacht wird der Hausherr ermordet. Die Täterin ist eine der acht Frauen, die im Haus sind. Selbstverständlich hat jede von ihnen auch ein gutes Motiv das Ekel umzubringen.
Ein Cozy mit Gesang und einem Darstellerinnenensemble, das über jeden Zweifel erhaben ist und die Crème de la Crème des französischen Films versammelt.
Denis Diderots posthum erschienener Roman „Die Nonne“ gehört zu den Klassikern der französischen Aufklärung und das Thema ist heute immer noch aktuell.
Die Geschichte beginnt 1765 in Frankreich, als die junge, bürgerliche Suzanne Simonin (Pauline Ètienne) auf Wunsch ihrer Eltern eine Nonne werden soll. Das Geld für eine standesgemäße Heirat ist, nachdem ihre Geschwister verheiratet wurden, nicht mehr vorhanden und als sie sich zunächst weigert, das Gelübde abzulegen, weil sie Gott nicht belügen will, sagt ihr ihre Mutter, dass sie ein uneheliches Kind ist und das beste was sie vom Leben erwarten könne, ein Leben im Kloster sei. Schweren Herzens legt sie doch das Gelübde ab und, obwohl die Oberin des ersten Klosters, in dem sie lebt, eine verständnisvolle Frau ist, die sie mit Engelsgeduld zu einem Leben im Einklang mit der Kirche (und Gott) überreden will, beginnt ihr Leidensweg. Denn Suzannes Freiheitsdrang, ihr unabhängiges Denken und ihre reine Beziehung zu Gott stehen im ständigen Konflikt mit der Amtskirche und den klösterlichen Strukturen, die von der einen Oberin mit drakonisch-sadistischer Strenge, von der anderen mit obsessiv ausgelebten lesbischen Gelüsten unter dem schützenden Dach der unangefochtenen Kirche ausgelebt werden.
Regisseur Guillaume Nicloux hätte daraus ein süffiges Historiendrama über den Kampf einer unbeugsamen Frau für ihre Freiheit, für Gedankenfreiheit und Selbstverwirklichung, und ein flammendes Plädoyer gegen totalitäre Institutionen und Bigotterie machen können. Eine richtige David-gegen-Goliath-Geschichte vor historischer Kulisse, aber mit gedanklichen Brückenschlägen zur Gegenwart.
Das tat er aber nicht. Er übernimmt die Struktur des Briefromans, indem er in einer eher überflüssigen Rahmengeschichte einen jungen Mann in einer Nacht, in der er sich auch um seinen kranken Vater kümmert, die Briefe von Suzanne lesen lässt und diese Briefe möglichst undramatisch bebildert. Teils indem wichtige Ereignisse und Konflikte mit ein, zwei Sätzen abgehandelt werden, teils indem die Kamera das Geschehen und damit Suzannes Weg durch die Höllenkreise des Klosterlebens bis zum unpassenden Ende teilnahmslos beobachtet.
Auch als Zuschauer wird man durch diese Inszenierung und die klare und strenge Struktur des Films nicht emotional, sondern nur intellektuell angesprochen, was dann für eine Film doch etwas karg ist.
P. S.: Jacques Rivette verfilmte Diderots Roman bereits 1966 mit Anna Karina und Liselotte Pulver. Anscheinend ziemlich gelungen, aber weil diese Version von „Die Nonne“ bei uns fast nie im Fernsehen läuft (die OFDB nennt eine TV-Ausstrahlung) und auch nicht auf DVD erschienen ist, kann ich sie nicht mit der Neuinterpretation vergleichen.
Die Nonne (La Religieuse, Frankreich/Deutschland 2012)
Regie: Guillaume Nicloux
Drehbuch: Guillaume Nicloux, Jérôme Beaujour
LV: Denis Diderot: La Religieuse, 1796 (Die Nonne)
mit Pauline Ètienne, Isabelle Huppert, Martina Gedeck, Louise Bourgoin, Francoise Lebrun, Lou Castel
Mit „8 Frauen“ feiern wir in einen runden Geburtstag von Madame Deneuve
MDR, 22.50
8 Frauen (F 2002, R.: Francois Ozon)
Drehbuch: Francois Ozon, Marina de Van
LV: Robert Thomas: Huit Femmes, 1958/1962 (Theaterstück)
Weihnachten in einem verschneiten Landhaus: In der Nacht wird der Hausherr ermordet. Die Täterin ist eine der acht Frauen, die im Haus sind. Selbstverständlich hat jede von ihnen auch ein gutes Motiv das Ekel umzubringen.
Ein Cozy mit Gesang und einem Darstellerinnenensemble, das über jeden Zweifel erhaben ist und die Crème de la Crème des französischen Films versammelt.
Die Spitzenklöpplerin (Schweiz/Frankreich/Deutschland 1977, R.: Claude Goretta)
Drehbuch: Claude Goretta, Pascal Lainé
LV: Pascal Lainé: La Dentellière, 1974
Die scheue Pomme, ein einfaches Landmädchen, verliebt sich in den Studenten Francois, zieht sogar nach Paris. Als er versucht, aus ihr etwas Besseres zu machen, wird die Beziehung auf eine Probe gestellt.
Selten gezeigter Klassiker des französischen Films.
„Eine hervorragend fotografierte, außergewöhnlich eindringliche und subtile Parteinahme für all jene, die ihre Gefühle sprachlich nicht auszudrücken vermögen.“ (Lexikon des internationalen Films)
mit Isabelle Huppert, Yves Beneyton, Florence Giorgetti, Annemarie Düringer, Michel de Ré
Auf dem Papier klingt das ziemlich Gaga (eine Nonne, die in New York Pornoschriftstellerin ist, hilft einem international gesuchtem Gangster mit Gedächtnisverlust; während sie von den Killern eines Syndikats verfolgt werden, treffen sie unter anderem einen frustrierten Pornostar und einen linkisch-psychopathischen Steuerberater), aber auf der Leinwand ist „Amateur“ ein wunderschöner Independent-Film von dem damals sehr populärem Hal Hartley, der in den letzten zehn Jahren ziemlich von der Bildfläche verschwand.
„‘Amateur’ ist kein eindeutiges Genrekino, sondern ein übergreifendes, in dem die Charaktere scheinbar willkürlich modelliert, demontiert oder deformiert werden. Viele Zitate verweisen auf filmgeschichtliche Zusammenhänge, aber Hartleys Versuchsanordnung ist mehr als nur eine Anspielung, da er ein Handlungskaleidoskop anbietet, in dem bewusst nicht die Logik, sondern der Zufall bestimmt.“ (Fischer Film Almanach 1995)
mit Isabelle Huppert, Martin Donovan, Elina Lowensohn, Damian Young, Chuck Montgomery