Die Mutter ist Alkoholikerin. Ihre älteste Tochter Tilda (Luna Wedler) kümmert sich um sie und ihre elfjährige Schwester Ida, studiert an einer nahe gelegenen Universität Mathematik und jobbt an der Kasse des Supermarktes. In einem Gedankenspiel versucht sie anhand der gekauften Lebensmittel zu erraten, wer sie kauft. Sie ist nur mäßig erfolgreich bei diesem Ratespiel. Zur Ruhe kommt sie im Freibad beim Schwimmen von 22 Bahnen.
„22 Bahnen“ ist auch der Titel von Caroline Wahls Bestseller-Debütroman „22 Bahnen“, der jetzt von Mia Maariel Meyer, nach einem Drehbuch von Elena Hell, mit Luna Wedler und Jannis Niewöhner in den Hauptrollen verfilmt wurde.
Nachdem die Grundpfeiler von Tildas Leben schnell etabliert sind, gerät ihr chaotisches, aber durchgeplantes Leben etwas in Unordnung. Im Freibad trifft sie auf Viktor (Jannis Niewöhner), den älteren, geheimnisumwitterten Bruder einer fünf Jahre zurückliegenden Beziehung, und ihr Lehrer informiert sie über eine Promotionsstelle in Berlin, die sie mühelos bekommen könnte. Aber dann müsste Tilda die Kleinstadt verlassen und ihre schutzbedürftige Schwester mit ihrer Mutter zurücklassen.
Als Charakterstudie und feinfühlige Beschreibung einer jungen Frau und ihres allernächsten Umfelds ist „22 Bahnen“ durchaus gelungen. Aber vieles bleibt oberflächlich und wird eher angedeutet als auserzählt. Dazu gehört auch der Plot, in dem Tilda versucht, das Selbstvertrauen ihrer jüngeren Schwester zu stärken. Er wird mit einem Voice-Over-Satz angedeutet. Es gibt später ein, zwei entsprechend interpretiertbare Szenen und dann, viele Filmminuten später, das Ergebnis ihrer Bemühungen.
Letztendlich ist „22 Bahnen“ eine weitere deutsche Coming-of-Age-Geschichte, in der die Hauptperson während des gesamten Films darüber räsoniert, dass das Leben im Dorf furchtbar sei und sie eigentlich in die große Stadt ziehen möchte. Über neunzig Minuten dreht sich die Geschichte im Kreis. Dann passiert ein Unglück, beispielsweise ein Autounfall, und die Hauptfigur verlässt das Dorf, ihre Familie und Freunde. Niemand hindert sie daran, das zu tun, was sie schon vor langer Zeit hätte tun können.
Meyer variiert diesen Grundplot an einigen Stellen. Aber die meiste Zeit des Films wird nur eine statische Situation beschrieben.
P. S.: Keine Ahnung, warum Tilda immer 22 Bahnen schwimmt.
P. P. S.: Es gibt verschiedene Hilfsangebote, die von Betroffenen und deren Umfeld in Anspruch genommen werden können und sollten.
22 Bahnen (Deutschland 2025)
Regie: Mia Maariel Meyer
Drehbuch: Elena Hell
LV: Caroline Wahl: 22 Bahnen, 2023
mit Luna Wedler, Zoë Baier, Laura Tonke, Jannis Niewöhner, Zoe Fürmann, Eleanor Reissa, Kosmas Schmidt, Ercan Karacayli
„Hagen – Im Tal der Nibelungen“ erzählt die allgemein bekannte Geschichte von Siegfried, dem Drachentöter, seinem Tod und, wenn es eine Fortsetzung gibt, Kriemhilds Rache. Nur aus einer anderen Perspektive. Nämlich der von Hagen, dem Waffenmeister von Burgund, der den unbesiegbaren Drachentöter Siegfried tötet. Wolfgang Hohlbein erzählte Hagens Geschichte 1986 in seinem Roman „Hagen von Tronje“.
Dieser wurde jetzt von Cyrill Boss und Philipp Stennert verfilmt als zweieinhalbte Kinoverfilmung der Geschichte. Die Stummfilm-Version von Fritz Lang genießt unter Cineasten immer noch hohes Ansehen. Harald Reinls Verfilmung von 1966 befindet sich dann im trashigen Fahrwasser damaliger Epen, in denen es auch zum „Tiger aus Eschnapur“ und, mit der Hilfe von Karl May „Durchs wilde Kurdistan“ ging.
Beide Filme sind Zweiteiler. Im ersten Teil wird Siegfrieds Geschichte, im zweiten Teil die von Kriemhilds Rache erzählt. „Hagen – Im Tal der Nibelungen“ endet ebenfalls mit Siegfrieds Tod. Auch wenn ich im Kino wenige Minuten vor dem Filmende dachte, dass sie vielleicht die Geschichte von Siegfrieds Tod in einem zweiten Teil erzählen. Und Kriemhilds Rache für einen dritten Teil geplant ist, der vielleicht irgendwann in naher oder ferner Zukunft realisiert wird.
Bis dahin haben wir die aktuelle Verfilmung, die die bekannte Geschichte von Siegfried und Hagen aus einer anderen Perspektive erzählt. Hagen von Tronje, durchgehend mit unbewegter Leidensmine von Gijs Naber gespielt, ist hier der Gute. Siegfried von Xanten, gespielt von Jannis Niewöhner, sein Antagonist: ein trinkfreudiger Hallodri, der sich immer wieder in Lebensgefahr begibt, weil er unsterblich ist.
Mit gut 140 Minuten wird sie in einem ziemlich langen Kinofilm erzählt, der allerdings nur die gekürzte Fassung einer mehr als doppelt so langen sechsteiligen Serie für RTL+ ist. Diese soll nächstes Jahr im Fernsehen gezeigt werden. Die Macher sagen zwar, dass Film und Serie unabhängig voneinander funktionieren. Aber der Erzählrhythmus des Kinofilms ist oft verstörend schlecht. Immer wieder wird sich für Unwichtiges zu viel Zeit genommen und Wichtiges wird zu schnell, teils zwischen zwei Bildern, erledigt. Und die Schauspieler hängen viel zu oft und zu lang in dunklen Räumen herum und unterhalten sich. Schließlich müssen Palastintrigen und Liebesgefühle ausgehandelt werden.
Echte Kinomomente, also Landschaftsaufnahmen, ausgedehnte Kampfszenen und das Protzen mit Schauwerten sind selten. Stattdessen dominiert eine TV-Ästhetik.
Das macht den Kinofilm „Hagen – Im Tal der Nibelungen“ zu einem langen Trailer für die TV-Serie, über deren Qualitäten nichts gesagt werden kann.
Hagen – Im Tal der Nibelungen (Deutschland 2024)
Regie: Cyrill Boss, Philipp Stennert
Drehbuch: Cyrill Boss, Philipp Stennert, Doron Wisotzky
LV: Wolfgang Hohlbein: Hagen von Tronje, 1986
mit Gijs Naber, Jannis Niewöhner, Dominic Marcus Singer, Lilja van der Zwaag, Rosalinde Mynster, Jördis Triebel, Jörg Hartmann, Bela Gabor Lenz, Alessandro Schuster, Johanna Kolberg, Emma Preisendanz, Maria Erwolter
In den USA, wo “Elemental” bereits letzte Woche anlief, wird der neueste Pixar-Animationsfilm bereits als Flop gehandelt. Er kostete 200 Millionen US-Dollar und spielte am Startwochenende keine dreißig Millionen US-Dollar ein. Das ist einer der schlechtesten Kinostarts für einen Pixar-Film.
Bei den Kritikern und dem Publikum kam die Geschichte von Ember Lumen, die sich in Wade Ripple verliebt und mit dem Widerstand ihrer Familie und der Elemente zu kämpfen hat, gut an .
In Element City leben die Elemente Feuer, Wasser, Erde und Luft zusammen, aber auch getrennt voneinander. Vor allem Feuer und Wasser vertragen sich, wie jedes Kind weiß, nicht miteinander. Ember ist Feuer, Wade Wasser. Doch es kommt noch schlimmer. Ember ist ein Einwandererkind. Ihre Eltern wanderten aus Fireland nach Element City aus. Dort leben sie in einem Ghetto. Ihr Vater hat den kleinen Gemischtwarenladen „Fireplace“ eröffnet. Die ganze Familie hilft mit und irgendwann soll Ember den in der Nachbarschaft beliebten Laden übernehmen. Sie muss nur noch lernen, ihr Temperament zu zügeln. Denn nervige Kundschaft faucht sie schon einmal an und verbrannte Kunden sind schlechte Kunden.
Da platzt im Keller ein Rohr, überschwemmt ihn und Wade taucht aus dem Rohr auf. Er ist städtischer Inspektor in Element City, großherzig, leicht schusselig, easy-going und, in den falschen Momenten ein Paragraphenreiter. Deshalb meldet er den Wasserschaden seiner Vorgesetzten und gefährdet damit den Familienbetrieb.
Als Ember, die er ganz nett findet, ihm erklärt, was er angerichtet hat, will er ihr helfen.
Im Gegensatz zu früheren Pixar-Filmen ist “Elemental” ziemlich konventionell. Regisseur Peter Sohn erzählt eine Romeo-und-Julia-Liebesgeschichte zwischen Einwanderern und Einheimischen. Nur dass die ‚Menschen‘ jetzt die Eigenschaften der Elemente haben, ist neu und sorgt immer wieder für überraschende Momente. Zum Beispiel wenn Wade Ember seiner Familie in ihrer Wohnung vorstellt.
Das mag für Erwachsene etwas wenig sein, aber gerade jüngeren dürfte die gut gemachte und witzige Geschichte gefallen. Sie gewährt auch einen gelungenen Einblick in die Sorgen, Nöte und Hoffnungen von Einwanderern. Sie werden von den Einheimischen, die mit dem Feuer fremdeln, gemieden. Sie versuchen ihren Kindern ein besseres Leben zu geben. Sie versuchen den Spagat zwischen Anpassung an die neue Gesellschaft und der Bewahrung der eigenen Traditionen. Es geht auch um Werte, Traditionen, Toleranz und Weltoffenheit. Das alles wird so angesprochen, dass Kinder es verstehen können, ohne die Komplexität der Themen zu negieren. Es gibt eine starke Heldin – und Männer, die riesige Fontänen weinen. Vor allem Wade kann nicht genug weinen. Vor Freude.
„Elemental“ ist ein weiterer gelungener Pixar-Animationsfilm, der auch für Erwachsene gut ansehbar ist (was nicht von jedem Kinderfilm gesagt werden kann) und der eine sehr sympathische Botschaft hat. Sohns Film ist ein Film, den ich meinen Kindern empfehlen würde, wenn ich welche hätte. So müssen jetzt halt die Kinder anderer Leute reingehen.
Als Vorfilm läuft „Carl’s Date“ von Bob Peterson. In dem witzigen Kurzfilm begegnen wir wieder Carl Fredricksen und seinem Hund Dug, beide bekannt aus „Oben“. Dieses Mal wird Carl zu einem Date eingeladen. Dug gibt ihm Tipps, wie so ein Date erfolgreich verläuft. Jedenfalls bei Hunden.
Elemental (Elemental, USA 2023)
Regie: Peter Sohn
Drehbuch: John Hoberg, Kat Likkel, Brenda Hsueh (nach einer Geschichte von Peter Sohn , John Hoberg, Kat Likkel und Brenda Hsueh)
mit (im Original den Stimmen von) Leah Lewis, Mamoudou Athie, Ronnie Del Carmen, Shila Ommi, Wendi McLendon-Covey, Catherine O’Hara
(in der deutschen Fassung den Stimmen von) Emilia Schüle, Jannis Niewöhner
Was haben wir? Einen Klassiker der deutschen Literatur, der schon einmal fürs Kino verfilmt verfilmt. Aber das war vor fast 65 Jahren und in Schwarzweiß. Daniel Kehlmann als Drehbuchautor. Detlev Buck als Regisseur. Sie arbeiteten schon bei „Die Vermessung der Welt“ (Deutschland/Österreich 2012) zusammen. Eine prominente Besetzung, bestehend aus Jannis Niewöhner als Felix Krull, David Kross als Marquis Louis de Venosta, Liv Lisa Fries als ihre Freundin Zaza und, in Nebenrollen, Maria Furtwängler, Joachim Król, Nicholas Ofczarek, Annette Frier, Dominique Horwitz, Martin Wuttke und Desirée Nosbusch.
Das klingt nach einer Klassikerverfilmung, die interessant sein könnte.
Felix Krull ist ein Hochstapler, der in Paris zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts in einem noblen Straßencafé an einem Abend Marquis Louis de Venosta die Geschichte seines Lebens erzählt. Er erzählt von seiner Kindheit im Rheingau als Sohn eines auf großem Fuß lebenden Inhabers einer Sektfirma. Als die Firma bankrott geht, begeht Krulls Vater Suizid. Danach eröffnet seine Mutter in Frankfurt eine kleine Pension. Aus diesem Leben flüchtet Krull nach Paris, dem Land seiner Träume. In Paris heuert er im Grandhotel als Page an. Schnell steigt der allseits beliebte Schlawiner und anpassungsfähige Charmeur auf.
In Paris trifft er auch wieder Zaza. Mit ihr verbrachte er in Frankfurt glückliche Stunden. Sie ist, wie er, eine Hochstaplerin.
Zaza ist auch die große Liebe des Marquis. Er weiß allerdings nicht, dass Krulls große Liebe auch seine große Liebe ist. Allerdings kann er Zaza wegen ihres Standes nicht heiraten. Außerdem will sein Vater ihn auf eine Weltreise schicken. Der Marquis möchte nicht. Aber der Erhalt seines Erbes ist an diese Reise geknüpft.
Diese väterliche Erpressung, von der wir erst ziemlich spät im Film erfahren, ist dann auch der Grund für Krulls Redseligkeit. Denn Krull würde sehr gerne eine Weltreise unternehmen. Sehr gerne auch unter falschem Namen und mit einer gut gefüllten Reisekasse.
Nach den grandiosen, wagemutigen, sehr eigenständigen neuen Literaturverfilmungen „Fabian oder Der Gang vor die Hunde“ und „Martin Eden“ ist Detlev Bucks „Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“ mehr als fünf Schritte zurück zu den sattsam bekannten Literaturverfilmungen, die brav die Vorlage bebildern und jegliche eigene Handschrift vermissen lassen. Wenn Detlev Buck nicht als Regisseur genannt würde, würde man es nicht einmal erahnen, dass hier der Regisseur von „Wir können auch anders…“ am Werk war.
„Felix Krull“ ist selbstverständlich kein grottenschlechter Film. Dafür sind die Schauspieler zu gut. Die Kostüme und die Ausstattung ebenfalls. Und natürlich ist alles gut aufgenommen. Auch wenn das im Film gezeigte Paris der Jahrhundertwende verdächtig nach einer missglückten Mischung aus Kulisse und CGI aussieht.
Das Drehbuch krankt an seiner Rückblenden-Struktur, die keine Spannung aufkommen lässt. Schließlich ist Krull jeder gefährlichen Situation entkommen. Sonst könnte er dem Marquis jetzt nicht seine Lebensgeschichte erzählen. Warum er das tut, wird erst viel zu spät im Film deutlich und das Erzählen der eigenen Untaten ist sicher nicht die geeignetste Methode, um einen anderen Menschen zu einem Identitästausch anzustiften.
Krulls in Rückblenden erzählte Lebensgeschcihte wird so präsentiert, als gäbe es nur eine Wahrheit und als ob der passionierte Schwindler sie genau jetzt erzählt. Mit dieser Erzählhaltung fällt Bucks „Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“ erzählerisch hinter Alfred Hitchcocks „Die rote Lola“ (1950) zurück. In dem Film zeigte Hitchcock eine Rückblende, die eine Lüge war. Dabei galt bis dahin die Regel, dass in Rückblenden, weil sie bebildert sind, die Wahrheit erzählt wird. Heute, auch nach Filmen wie „Rashomon“ (ebenfalls 1950), betrachten wir eine Rückblende als die subjektive Sicht des Erzählenden auf die Ereignisse.
Auch Krull könnte uns belügen. Es gibt im Film allerdings keinen entsprechenden Hinweis. Außer vielleicht, dass Krull nur von schönen Frauen und honorigen Männern begehrt wird.
Und so ist „Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“ als langweiliges, niemals herausforderndes oder irritierendes Bildungsbürgertumskino nur die nächste Klassikerverfilmung für den Deutschunterricht.
Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull (Deutschland 2021)
Regie: Detlev Buck
Drehbuch: Daniel Kehlmann, Detlev Buck
LV: Thomas Mann: Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull, 1954
mit Jannis Niewöhner, Liv Lisa Fries, David Kross, Maria Furtwängler, Nicholas Ofczarek, Joachim Król, Christian Friedel, Harriet Herbig-Matten, Dominique Horwitz, Annette Frier, Martin Wuttke, Anian Zollner, Désirée Nosbusch, Detlev Buck, Heinrich Schafmeister
2016 erschien posthum der von Siegfried Lenz bereits 1951 geschriebene Roman „Der Überläufer“. Er schrieb ihn ganz am Anfang seiner Schriftstellerkarriere. Die autobiographisch inspirierte Geschichte des jungen Wehrmachtssoldaten Walter Proska sollte als sein zweiter Roman erscheinen. Aber sein Verlag hatte Einwände gegen die Geschichte. Das Manuskript verschwand in der Schublade. Lenz schrieb danach „Duell mit dem Schatten“, „So zärtlich war Suleyken“ und viele weitere Romane und Erzählungen.
2014 starb Siegfried Lenz. In seinem Nachlass wurde das Manuskript entdeckt und vor vier vier Jahren veröffentlicht. Der Roman entwickelte sich zum Bestseller, den Florian Gallenberger („John Rabe“, „Colonia Dignidad“) jetzt mit einer hochkarätigen Besetzung als TV-Zweiteiler verfilmte.
Im Sommer 1944 stößt Proska nach einem Heimaturlaub zu einem einsam im sumpfigen polnischen Niemandsland gelegenem Posten, der die Bahnstrecke an die Front sichern soll. Partisanen belagern sie, während sie selbst sich gegenseitig nerven. Später (in der zweiten Hälfte des Romans und im zweiten Teil des Films) wechselt Proska die Seiten und kämpft auf der Seite der Roten Armee gegen deutsche Soldaten. Nach dem Krieg arbeitet er weiter für sie – und er sucht noch immer seine große Liebe Wanda. Er traf die junge Polin und Partisanin, zum ersten Mal in einem Zug, den sie in die Luft sprengen wollte.
Diese Liebesgeschichte nimmt im Film einen größeren Raum ein als im Roman. Dabei wird sie auch unglaubwürdiger. Einerseits weil ich Jannis Niewöhner und Malgorzata Mikolajczak nie das Liebespaar abkaufte, andererseits weil Wanda immer auch etwas als eine nicht von dieser Welt stammende Traumgestalt inszeniert wird. Sie ist mehr eine Fantasie als eine reale Person, die im Sumpf als Partisanin gegen Nazis kämpft.
Bernd Lange (Drehbuch) und Florian Gallenberger (Drehbuch, Regie) folgen vor allem im ersten Teil Siegfried Lenz‘ skizzenhaftem und episodischen Roman sehr genau. Sie übernehmen, bis auf wenige Ausnahmen, alle Szenen und viele Dialoge direkt aus dem Buch. Damit überträgt sich auch der alptraumhafte Stillstand aus dem Roman in den Film.
Im zweiten Teil, wenn der Roman noch skizzenhafter wird, füllen sie die Lücken aus, erfinden Episoden, legen auch eigene Schwerpunkte und präsentieren ein 1956 in Hamburg spielendes Ende, das sich von dem Romanende unterscheidet. Diese Hälfte ist dann konventioneller als die erste Hälfte.
Am Ende ist „Der Überläufer“ gediegene TV-Unterhaltung, die brav dem Roman und seinem sich durch die Geschichte treibendem und rätselhaftem Protagonisten folgt.
Dabei hätte man vor allem aus der ersten Hälfte von „Der Überläufer“ einen experimentellen Alptraum im Geist von „Apocalypse Now“ machen können. Das waren jedenfalls die Bilder, die ich beim Lesen im Kopf hatte.
Das Bonusmaterial ist mit über fünfzig Minuten erfreulich umfangreich ausgefallen. Qualitativ überzeugt die Mischung aus lobenden Schauspielerstatements und Bildern von den Dreharbeiten kaum. Immerhin wurden auch der Regisseur und die Produzenten befragt, warum sie den Film so machen wollten.
Der Überläufer(Deutschland/Polen 2020)
Regie: Florian Gallenberger
Drehbuch: Bernd Lange, Florian Gallenberger
LV: Siegfried Lenz: Der Überläufer, 2016
mit Jannis Niewöhner, Malgorzata Mikolajczak, Sebastian Urzendowsky, Rainer Bock, Bjarne Mädel, Florian Lukas, Katharina Schüttler, Alexander Beyer, Leonnie Benesch, Ulrich Tukur
–
Die DVD (und Blu-ray)
Pandastorm
Bild: 1,78:1 (16:9)
Ton: Deutsch DD 2.0
Untertitel: –
Bonusmaterial: Making of, Interviews mit Cast & Crew
Zweiteilige Verfilmung von Siegfried Lenz‘ posthum erschienenem Roman „Der Überläufer“, den er schon 1951, ganz am Beginn seines Schriftstellerlebens, schrieb.
Im Mittelpunkt der Geschichte steht der junge Wehrmachtssoldat Walter Proska. Im Sommer 1944 stößt er nach einem Heimaturlaub zu einem einsam im sumpfigen polnischen Niemandsland gelegenem Posten, der die Bahnstrecke an die Front sichern soll. Partisanen belagern sie, während sie selbst sich gegenseitig nerven. Später (in der zweiten Hälfte des Romans und im zweiten Teil des Films) wechselt Proska die Seiten und kämpft auf der Seite der Roten Armee gegen deutsche Soldaten. Nach dem Krieg arbeitet er weiter für sie – und er sucht noch immer seine große Liebe Wanda, eine junge Polin und Partisanin, die er zum ersten Mal traf, als sie einen Zug, in dem er mitfuhr, in die Luft jagen wollte.
Diese Liebesgeschichte nimmt im Film einen größeren Raum als im Roman ein. Dabei wird sie auch unglaubwürdiger. Einerseits weil ich Jannis Niewöhner und Malgorzata Mikolajczak nie das Liebespaar abkaufte, andererseits weil Wanda immer auch etwas als eine nicht von dieser Welt stammende Traumgestalt inszeniert wird. Sie ist mehr eine Fantasie als eine reale Person, die als Partisanin gegen Nazis kämpft.
Bernd Lange (Drehbuch) und Florian Gallenberger (Drehbuch, Regie) folgen vor allem im ersten Teil Siegfried Lenz‘ skizzenhaftem und episodischen Roman sehr genau. Sie übernehmen, bis auf wenige Ausnahmen, alle Szenen und viele Dialoge direkt aus dem Buch. Damit überträgt sich auch der alptraumhafte Stillstand aus dem Roman auf den Bildschirm.
Im zweiten Teil, wenn der Roman noch skizzenhafter wird, füllen sie Lücken aus, erfinden Episoden, legen auch eigene Schwerpunkte und präsentieren ein 1956 in Hamburg spielendes Ende, das sich von dem Romanende unterscheidet.
Am Ende ist „Der Überläufer“ gediegene TV-Unterhaltung, die brav dem Roman und seinem rätselhaftem Protagonisten, der sich durch die einzelnen Episoden treiben lässt, folgt.
Dabei hätte man vor allem aus der ersten Hälfte von „Der Überläufer“ einen experimentellen Alptraum im Geist von „Apocalypse Now“ machen können. Das waren jedenfalls die Bilder, die ich beim Lesen im Kopf hatte.
Der zweite Teil (mit Ulrich Tukur in einem kurzen Auftritt) wird am Freitag, den 10. April, um 20.15 Uhr gezeigt.
mit Jannis Niewöhner, Malgorzata Mikolajczak, Sebastian Urzendowsky, Rainer Bock, Bjarne Mädel, Florian Lukas, Katharina Schüttler, Alexander Beyer, Leonnie Benesch, Ulrich Tukur
Wiederholung: Donnerstag, 9. April, 01.10 Uhr (Taggenau!)
–
Die Vorlage
Siegfried Lenz: Der Überläufer
Hoffmann und Campe, 2016
368 Seiten
25 Euro
–
Taschenbuch-Ausgabe, jetzt mit Filmcover
Atlantik, 2020
12 Euro
–
Die DVD (und Blu-ray)
mit fünfzig Minuten Bonusmaterial angekündigt für den 8. Mai 2020
Pandastorm
Bild: 1,78:1 (16:9)
Ton: Deutsch DD 2.0
Untertitel: –
Bonusmaterial: Making of, Interviews mit Cast & Crew
Laut der IMDB ist „Narziss und Goldmund“ die, wenn man die TV-Filme mitzählt, achte Hermann-Hesse-Verfilmung. Das ist angesichts der immer noch vorhandenen Popularität des 1962 verstorbenen Literaturnobelpreisträgers erstaunlich. Auch weil viele während ihrer Jugend (so mit 14 Jahren beim Interrail-Fahren durch Europa) eine Hesse-Phase hatten. Die zweite Hesse-Phase soll dann im hohen Alter kommen. Da sollte es in den vergangenen Jahrzehnten doch einige Regisseure gegeben haben, die sich seiner Romane annehmen und daraus einen Film machen. Die bisherigen Verfilmungen, unter anderem „Der Steppenwolf“ mit Max von Sydow, sind weitgehend und aus verschiedenen Gründen obskur. Das kann von Stefan Ruzowitzkys Verfilmung von „Narziss und Goldmund“ nicht behauptet werden. Mit einem ordentlichem Budget, mittelalterlichen Schauwerten und bekannten Schauspielern (Jannis Niewöhner, André M. Hennicke, Emilia Schüle, Uwe Ochsenknecht, Kida Khodr Ramadan, Jessica Schwarz, Sunnyi Melles, Matthias Habich und Sabin Tambrea) bearbeitete er Hesses Geschichte für die große Leinwand und für ein Mainstream-Publikum. Und er nahm sich einige Freiheiten.
Im Mittelpunkt der irgendwann im Mittelalter spielenden Geschichte stehen Narziss und Goldmund, die sich zum ersten Mal als Knaben im Kloster Mariabronn treffen. Narziss ist ein sehr begabter Novize, der auch seinen Lehrern widerspricht. Er ist ein Intellektueller, ein Geistesmensch, der mit einem enthaltsamen, von der Welt abgewandtem Leben im Kloster glücklich wird.
Goldmund ist das Gegenteil. Der Zehnjährige wird von seinem Vater ins Kloster gebracht, damit er etwas lernt. Narziss wird vom Abt zu Goldmunds Lehrer ernannt. Der Abt hofft, dass so auch Narziss etwas für sein weiteres Leben lernt.
Nach einer kurzen Zeit, in der die beiden Jungen sich näher kommen (und, ja, im Buch und Film wird einem eine homosexuelle Liebesgeschichte nahe gelegt), verlässt Goldmund das Kloster. Er will die Welt erkunden, Abenteuer erleben und Sex haben. Seine Schule sind nicht Bücher und das Nachdenken in einer stillen Kammer, sondern das eigene Erleben und, später, das Schaffen von Kunstwerken, die aus seinem eigenen Erleben ihre Kraft ziehen.
Während Hesse die Geschichte von Narziss und Goldmund chronologisch erzählt und immer bei Goldmund bleibt, wählt Ruzowitzky eine wesentlich komplizierte Struktur. Bei ihm kommt Goldmund, wie im Roman, fünfzehn Jahre nach seinem Abschied aus dem Kloster zurück. In dem Moment sind ungefähr 25 Filmminuten vergangen. Im Kloster erhält Goldmund von Narziss, der inzwischen zum Abt wurde, den Auftrag, einen Altar zu schnitzen. Während der Arbeit am Altar erzählt Goldmund Narziss, was er in den vergangenen Jahren erlebte. Gleichzeitig regt sich im Kloster Widerstand gegen Goldmunds viel zu offensichtlich von seinen weltlichen Erlebnissen und der Suche nach seiner Mutter inspirierte Arbeit.
Außerdem verlegte Ruzowitzkys Hesses zeitlich nicht genau verorteten Roman in ein Fantasy-Mittelalter, das zeitlich überhaupt nicht mehr zu verorten ist. Es wurde einfach genommen, was gefällt. Auch wenn es aus verschiedenen Jahrhunderten stammt. Ruzowitzkys Hesse-Mittelalter ist sauber. Die Schauspieler haben blendend weiße Zähne, einen akkuraten Haarschnitt und trendige Klamotten. Die Männer dürfen sehr oft ihren nackten Körper präsentieren. Vor allem „Goldmund“ Jannis Niewöhner zeigt mehrmals einen preiswürdigen Waschbrettbauch, der eindeutig aus dem Fitness-Studio um die Ecke stammt. Die Frauen bleiben dagegen züchtig verhüllt.
Die Filmgeschichte wird durch die von Ruzowitzky gewählte Struktur in den Rückblenden schnell redundant. Wie Casanova stolpert Goldmund von dem einen unglücklich endendem Liebesabenteuer zum nächsten, das ebenso unglücklich endet, weil Goldmund sich wieder in die falsche Frau verliebt hat. Außerdem hat er überhaupt kein Interesse an einer längerfristigen Bindung. Deshalb kann er sich umstandslos in die nächste Affäre stürzen.
Zur gleichen Zeit bleibt der von Ruzowitzky erfundene Konflikt um den Altar, den Goldmund für das Kloster anfertigt, an der Oberfläche und über Narziss‘ Aufstieg im Kloster erfahren wir im Film nicht mehr als im Buch. Da verschwindet er allerdings die meiste Zeit aus der Geschichte.
Ruzowitzkys „Narziss und Goldmund“ ist eine gut gemeinte Literaturverfilmung, die immerhin gut genug für den Schulunterricht ist.
P. S.: Fun Fact: Sunnyi Melles, die hier eine Gräfin spielt, hatte ihr Filmdebüt 1974 als Judith Melles in der schon erwähnten Verfilmung von „Der Steppenwolf“.
Narziss und Goldmund (Deutschland 2020)
Regie Stefan Ruzowitzky
Drehbuch: Stefan Ruzowitzky, Robert Gold (Ko-Autor)
LV: Hermann Hesse: Narziss und Goldmund, 1930
mit Jannis Niewöhner, Sabin Tambrea, André M. Hennicke, Henriette Confurius, Emilia Schüle, Uwe Ochsenknecht, Kida Khodr Ramadan, Jessica Schwarz, Sunnyi Melles, Roxane Duran, Matthias Habich
Ein Gerichtsthriller aus Deutschland. Wann gab es das zuletzt im Kino?
Halbwegs spontan fallen mir Hark Bohms „Der Fall Bachmeier – Keine Zeit für Tränen“ (1984 – fast zeitgleich drehte Burkhard Driest mit „Annas Mutter“ die deutlich sensationslüsterne Version des wahren Falls der Mutter, die den Mörder ihrer Tochter im Gerichtssaal erschoss), Roland Suso Richters „Nichts als die Wahrheit“ (1999 – mit Götz George als Dr. Josef Mengele) und, auch wenn hier die Gerichtsverhandlung eine Travestie ist, Fatih Akins „Aus dem Nichts“ (2017) ein. Reinhard Hauffs „Stammheim“ (1986), der den Prozess gegen die Baader-Meinhof-Gruppe nachinszenierte, würde ich nicht als Gerichtsthriller bezeichnen. Eher als Theaterstück oder Reenactment.
Und dann gibt es noch Hans W. Geissendörfers Friedrich-Dürrenmatt-Verfilmung „Justiz“ (1993).
An diese Geschichte erinnerte Ferdinand von Schirachs „Der Fall Collini“ mich spontan. Dürrenmatt erzählt die Geschichte von Regierungsrat Isaak Kohler, der in Zürich in einem vollen Nobelrestaurant Professor Winter erschießt. Er wird verhaftet und verurteilt. Danach beauftragt er den jungen Anwalt Felix Spät, den Fall neu aufzurollen unter der Prämisse, dass er unschuldig ist.
In dem Roman und der Verfilmung geht es um Moral, Justiz und Gerechtigkeit.
„Der Fall Collini“ beginnt ähnlich. 2001 ermordet Fabrizio Collini (Franco Nero) in Berlin in einem Nobelhotel Hans Meyer (Manfred Zapatka). An der Täterschaft des siebzigjährigen, bislang gesetzestreuen Gastarbeiters besteht kein Zweifel. Der junge Anwalt Caspar Leinen (Elyas M’Barek) übernimmt den Fall als Pflichtverteidiger (und spätestens seit dem NSU-Prozess wissen wir, dass Pflichtverteidiger nicht so einfach ihr Mandat niederlegen können). Weil Collini beharrlich schweigt, beginnt Leinen in Collinis und Meyers Vergangenheit nach dem Grund für die Tat zu suchen.
Emotional komplizierter wird der Fall für Leinen, als er erfährt, wer der Ermordete ist. Hans Meyer förderte ihn in seiner Kindheit und Jugend. Für ihn ist der Großindustrielle ein liebevoller Vaterersatz; – behauptet zumindest der Film.
Und das ist ein Problem von Marco Kreuzpaintners „Der Fall Collini“. Er wirkt durchgehend konstruiert und damit wirken die Konflikte unglaubwürdig. Wir sehen in Rückblenden die Beziehung zwischen Leinen und Meyer. Wir wissen, dass er ihn förderte. Aber wir wissen nicht, welche emotionale Verbindung sie hatten und was Leinen von Meyer lernte. Dass Meyer seine Ausbildung finanzierte, verpflichtet ihn zunächst einmal zu nichts und „Dankbarkeit“ ist in einer Filmgeschichte eine eher schlechte Motivation. Vor allem wenn die Person, der er dankbar sein könnte, tot ist. Bestimmte Prinzipien, eine bestimmte Einstellung zum Leben oder eine emotionale Abhängigkeit schon.
Ein anderes Problem der Geschichte ist die Aufdeckung des Motivs. Sie erfolgt im Buch und Film als Höhepunkt. Damit steht sie am Ende des Films und das erschwert eine durchaus beabsichtigte Diskussion darüber ungemein. Auch wenn das Mordmotiv und der damit verbundene Skandal nicht wirklich überraschend sind. Jedenfalls wenn man etwas bewandert in der bundesdeutschen Geschichte ist und man sich fragt, warum die Geschichte 2001 spielt. Schon von Schirach ließ sie in der Vergangenheit spielen (sein Roman erschien 2011) und Kreuzpaintner änderte daran nichts.
In dem Moment, in dem Collinis Motiv enthüllt wird, wird gleichzeitig Collinis Selbstjustiz die Absolution erteilt. Es geht um ein Gefühl von Rache, aber nicht um das Funktionieren des Rechtssystems und wie Rechtsnormen angewandt und auch neu interpretiert werden.
Dabei ist in einem Punkt der Lösung das sogenannte Dreher-Gesetz wichtig. Eduard Dreher, damals Leiter der Strafrechtsabteilung im Bundesjustizministerium, schmuggelte 1968 in das „Einführungsgesetz zum Ordnungswidrigkeitengesetz“ (EGOWiG) einen Passus, der dazu führte, dass viele Nazi-Verbrecher plötzlich juristisch nicht mehr für ihre Taten bestraft werden konnten, weil ihre Taten verjährt waren. Die Richter und Staatsanwälte hätten dem Gesetz nicht folgen müssen. Sie hätten bestimmte Mörder immer noch als Mörder anklagen können. Sie taten es nicht. Schließlich waren sie Alt-Nazis, die sich über dieses Geschenk freuten. Später wurden von jüngeren Anwälten SS-Mitglieder und KZ-Aufseher für ihre Taten angeklagt. Und selbstverständlich ist die Aufarbeitung der Nazi-Diktatur nicht nur eine juristische, sondern eine Aufgabe für die gesamte Gesellschaft.
In „Der Fall Collini“ geht es am Ende nicht um klar angesprochene Defizite innerhalb des Rechtssystems und wie sie behoben werden können. Es geht auch nicht darum, wie bestimmte ältere Normen und Rechtsanwendungen neu interpretiert werden können oder verändert werden müssen. All das wären interessante Fragen, die der Strafverteidiger von Schirach hätte ansprechen können. Er stellt sich allerdings einseitig und bedingungslos auf Collinis Seite und erteilt ihm auf den letzten Seiten die Absolution. Diese Rechtfertigung von Selbstjustiz hinterlässt dann doch einen schalen Nachgeschmack.
Vor allem wenn die Selbstjustiz erst Jahrzehnte nach der Tat erfolgt, der Täter vorher nur einmal etwas tat, um Meyer für seine Tat zur Rechenschaft zu ziehen und er seine Tat kaltblütig plante und brutal durchführte.
Der Film folgt dem Roman, abgesehen von einigen eher kleineren, für eine Verfilmung notwendigen Abweichungen, sehr genau. Durch die Veränderungen, die neuen Figuren und mit ihnen zusammenhängenden Plots gibt es auch einige Akzentverschiebungen. So wird im Film Leinens emotionale Bindung an Meyer stärker betont. So schenkt er dem Arbeiterkind ein Auto und finanziert seine Ausbildung. Im Buch erscheinen Leinens Eltern vermögender zu sein, was dazu führt, dass Leinen und Meyer der gleichen gesellschaftlichen Schicht angehören. Weil von Schirach in seinem dünnen Roman, eigentlich eher eine Novelle oder eine Romanskizze, über Leinens Familie nichts schreibt, bleibt dieser Punkt im Dunkeln.
Leinens sexuelle Beziehung zu seiner Jugendliebe und Meyers Nichte Johanna (Alexandra Maria Lara) wird im Roman ausführlicher geschildert. Für die Handlung ist diese Bettgeschichte im Buch und im Film in jeder Beziehung egal.
Das größte Problem des Romans ist, dass von Schirach nie zuspitzt. „Der Fall Collini“ liest sich daher nicht wie ein Gerichtsthriller, sondern wie ein Protokoll. Wahlweise eines emotional desinteressierten Journalisten oder eines Gerichtsschreibers.
Der Film spitzt dagegen stärker zu und liefert auch einige Thrillerelemente, die im Film fehlen. Zum Beispiel wenn Leinen nachts durch das riesige Haus der Meyers schleicht und er eine Pistole sucht oder wenn er, mit einer Übersetzerin (die im Roman nicht vorkommt), nach Italien fährt und dort endgültig erfährt, warum Collini Meyer ermordete. Selbstverständlich gibt es auch einige juristische Winkelzüge und Konfrontationen zwischen der Vorsitzenden Richterin (Catrin Striebeck), Oberstaatsanwalt Reimers (Rainer Bock) und Nebenklage-Anwalt Richard Mattinger (Heiner Lauterbach mit furchtbarer Haartolle und böser als im Roman) im Gerichtssaal.
Und der Film hat Elyas M’Barek, der den Strafverteidiger Leinen glaubhaft verkörpert und aus der sparsam skizzierten Rolle des unerfahrenen Junganwalts viel herausholt.
Am Ende ist „Der Fall Collini“, trotz der guten Schauspieler, der eindeutig die große Leinwand anvisierenden Bilder von Kameramann Jakub Bejnarowicz („Gnade“, „Der Mann aus dem Eis“, „Abgeschnitten“) und Kreuzpaintners gediegener Inszenierung nur eine brave Verfilmung eines nicht besonders guten Romans. Dank einiger neuer Figuren, kleinerer Änderungen und kluger filmischer Zuspitzungen ist Kreuzpaintners Geschichtsstunde sogar besser als die Vorlage.
Der Fall Collini (Deutschland 2019)
Regie: Marco Kreuzpaintner
Drehbuch: Christian Zübert, Robert Gold, Jens-Frederik Ott
LV: Ferdinand von Schirach: Der Fall Collini, 2011
mit Elyas M’Barek, Franco Nero, Alexandra Maria Lara, Heiner Lauterbach, Manfred Zapatka, Jannis Niewöhner, Rainer Bock, Catrin Striebeck, Pia Stutzenstein, Peter Prager, Hannes Wegener
Die Prämisse von „High Society – Gegensätze ziehen sich an“ ist altbekannt und, auch wenn Regisseurin Anika Decker im Presseheft sagt, sie sei vor zweieinhalb Jahren durch die Lektüre eines Zeitungsartikels über vertauschte Babys in Frankreich darauf gekommen, schon in zahlreichen Spielfilmen durchgespielt worden. Denn sie ist ein wundervolles „was wäre wenn“-Gedankenexperiment: Was wäre, wenn du nach deiner Geburt vertauscht worden wärst? Üblicherweise sind die Familien vollkommen gegensätzlich. Üblicherweise ist eine Familie sehr arm und die andere sehr reich. Die Fragen und Konflikte ergeben sich aus dieser Prämisse fast von selbst: Was ist Erziehung? Was Vererbung? Wer sind deine Eltern? Die biologischen oder die, die dich erzogen haben? Soll der Tausch wieder rückgängig gemacht werden? Oder wäre das ein noch größeres Unrecht? Undsoweiter, undsofort. Eigentlich ist es kaum möglich, eine solche Verwechslungsgeschichte zu vergeigen.
Anika Decker gelingt das in ihrem neuen Film „High Society“, den sie eine Familien- und Gesellschaftskomödie nennt, mit einer fast schon beeindruckenden Konsequenz.
In „High Society“ werden Anabel und Aura in der Geburtsklinik vertauscht. 25 Jahre später wird der Tausch entdeckt und, schwuppdiwupp, ist die reiche Anabel (Emilia Schüle) in der Familie von Carmen Schlonz (Katja Riemann) im Plattenbau (mit importiertem Ghetto-Feeling) und die arme Aura (Caro Cult) in der Familie von Trixie von Schlacht (Iris Berben) in der noblen Industrieellenvilla, in der Menschen mit offensichtlichen Geschmacksverirrungen leben dürfen. Wie im Plattenbau am anderen Ende von Berlin.
Beginnen wir mit dem Positiven: Iris Berben und Katja Riemann werfen sich mit einer Verve in ihre Rollen, dass man sich schnell fragt, warum sie das tun. Vielleicht wollten sie einfach ihren Spaß haben. Denn, und schon sind wir beim Negativen, das Drehbuch ist eine willkürliche Aneinanderreihung von Szenen, die höchstens für einen unlustigen Sketchabend taugen. Die gezeigten Milieus und Konflikte stammen dann auch aus genau dieser wirklichkeitsfernen TV-Soap- und Sketch-Welt mit ihren billigen Kulissen und unglaubwürdigen Charakteren. Stringenz in der Geschichte und Figurenzeichnung sind hier Fremdworte. Der Film ist ein einziger Kladderadatsch, der wirkt, als habe man einfach Szenen aus verschiedenen Drehbüchern zusammengeworfen und danach nicht einmal geprüft, ob das irgendwie auch nur halbwegs stimmig ist. Dass keine einzige Pointe zündet, verwundert in dieser kopflosen Fremdschäm-Veranstaltung, nicht. Wegen des Timings, wegen der Qualität der Pointen und wegen der Abwesenheit irgendeiner Idee, wie das Material sinnvoll angeordnet werden kann.
Dass es Anika Decker nicht gelingt, aus der Prämisse eine Geschichte zu entwickeln, verwundert dann doch. Denn bei der Prämisse schreibt sich die Geschichte wie von selbst. Wenn man denn ein Thema hat.
Anika Decker schrieb die Drehbücher für „Keinohrhasen“, „Zweiohrhasen“, „Rubbeldiekatz“ und „Traumfrauen“, ihrem Regiedebüt.
High Society – Gegensätze ziehen sich an (Deutschland 2017)
Regie: Anika Decker
Drehbuch: Anika Decker
mit Emilia Schüle, Jannis Niewöhner, Iris Berben, Katja Riemann, Caro Cult,Jannik Schümann, Manuel Rubey, Marc Benjamin, Rick Kavanian
Dass Alain Gsponer in seiner Verfilmung die Geschichte von Ödön von Horváths „Jugend ohne Gott“ aus der Nazi-Zeit in die Zukunft verlegt, ist nicht das größte Problem des Films. Im Gegenteil. Diese Verlegung der Handlung aktualisiert die Geschichte und macht sie auch für ein neues Publikum zugänglich.
Das gleiche gilt für den Wechsel des Protagonisten. Im Roman ist es der Lehrer. Ein Ich-Erzähler, der seinen Schülern etwas beibringen will und in Konflikt mit der herrschenden Ideologie gerät. Danach soll er, wie ihm sein Schuldirektor sagt, seine Schüler „moralisch zum Krieg erziehen“.
Im Film ist er eine Nebenfigur. Zach, einer seiner Schüler, ist der Protagonist. Um ein junges Publikum zu erreichen, ist das eine kluge Entscheidung. Schließlich identifiziert man sich als Jugendlicher eher mit einem Gleichaltrigen als mit einem Lehrer. Vor allem mit einem Lehrer, der an seiner Aufgabe hadert und von Selbstzweifeln darüber geplagt ist.
Diese beiden Änderungen und einige weitere, zu denen ich gleich komme, machen dann aus Gsponers Film eine freie Verfilmung des Romans.
In dem Film – und ich muss jetzt in Teilen der Filmhandlung weit vorgreifen – fährt die Schulklasse des namenlosen Lehrers (Fahri Yardim) in die Berge zu einem Zeltlager. Durch verschiedene Tests ihrer Persönlichkeit sollen die Schüler ausgewählt werden, die sich für einen Platz an Eliteuniversität qualifizieren.
Alle bis auf Zach (Jannis Niewöhner) folgen willig und ohne darüber nachzudenken, der in der Gesellschaft propagierten Leistungsideologie. Er ist, obwohl beliebt, schon in der Klasse ein hochintelligenter Außenseiter. Sein wertvollster Besitz ist ein Tagebuch, dem er seine Gedanken und Gefühle anvertraut. Im Gegensatz zu seinen Klassenkameraden denkt er nach. Er nimmt die gesellschaftlichen Veränderungen wahr und sie gefallen ihm nicht. Denn hinter dem schönen Schein der egalitären Wohlstandswelt gibt es bittere Armut. Letztendlich ist die von Gsponer gezeichnete Welt eine dystopische Zwei-Klassen-Gesellschaft. Es ist eine diktatorische Leistungsgesellschaft, die gnadenlos unliebsame, nicht angepasste oder nicht leistungsfähige Menschen aussortiert.
In dem Zeltlager werden sie von dem Aufseher vor einer im Wald lebenden Bande Jugendlicher, die außerhalb ihrer Zone leben und sich mit Diebstählen über Wasser halten, gewarnt. Zach lernt das im Wald lebende Mädchen Ewa (Emilia Schüle) kennen. Er verliebt sich in die Wilde.
Dann verschwindet Zachs Tagebuch (Leser des Romans kennen den Dieb) und ein Klassenkamerad, mit dem er schon in den vergangenen Tage handgreifliche Auseinandersetzungen hatte, wird ermordet im Wald aufgefunden. Aber hat er ihn auch ermordet?
Das größte Problem von Gsponers von-Horváth-Verfilmung ist die Erzählweise. Anstatt die Geschichte, wie im Roman, einfach chronologisch vom Anfang bis zum Ende zu erzählen, gibt es zahlreiche Rückblenden, die einem zum Verständnis notwendige Informationen erst sehr spät geben und das Geschehen aus einer anderen Perspektive schildern. Das erschwert das Hineinfinden in die Geschichte und die Identifikation mit den Figuren. Das zeigt sich schon in den ersten Minuten. Der Film beginnt mit der Ankunft im Zeltlager und es wirkt, als ob sich die Jugendlichen nicht kennen. Dabei sind sie Klassenkameraden, die mit ihrem Klassenlehrer zu dem Camp gefahren sind und vor der Fahrt schon einen unliebsamen (vulgo nicht leistungsfähigen) Schüler aussortiert haben. Das setzt sich später fort, wenn wir erst später erfahren, wer das Tagebuch geklaut hat und ob der oder die Mordverdächtigen die Tat begangen haben.
Ein anderes Problem ist die zu sparsam gezeichnete dystopische Gesellschaft. Entsprechend diffus bleibt die Gesellschaftskritik.
Am Ende ist „Jugend ohne Gott“ ein weiterer gescheiterter Versuch eines deutschen Science-Fiction-Films, der nicht an seinem Budget, sondern an seinem Drehbuch und seiner Inszenierung scheitert. Jedenfalls in der Form, die im Kino läuft.
Jugend ohne Gott (Deutschland 2017)
Regie: Alain Gsponer
Drehbuch: Alex Buresch, Matthias Pacht
LV: Ödön von Horváth: Jugend ohne Gott, 1937
mit Jannis Niewöhner, Fahri Yardim, Emilia Schüle, Alicia von Rittberg, Jannik Schümann, Anna Maria Mühe, Rainer Bock, Katharina Müller Elmau, Iris Berben
Länge: 114 Minuten
FSK: ab 12 Jahre
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Die Vorlage
Ödön von Horváth: Jugend ohne Gott
Suhrkamp, 2017 (Movie Tie-In)
160 Seiten
5 Euro
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Erstausgabe
Exil-Verlag, Amsterdam, 1937
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Die aktuelle Suhrkamp-Ausgabe basiert auf „Gesammelte Werke. Kommentierte Werkausgabe in Einzelbänden – Band 4: Prosa und Werke 1918 – 1938“ (Suhrkamp, 1988)
Als Fünfjährige wird Kristina 1632, mitten im Dreißigjährigem Krieg, die Thronfolgerin für ihren im Kampf gestorbenen, protestantischen Vater König Gustav II. Adolf. Gemäß seinen Anweisungen wird sie zu einem Regenten erzogen. Sie erhält also, was damals ungewöhnlich war, eine rein männliche Ausbildung. Sie lernt Reiten, Fechten, Mathematik, Geographie und mehrere Sprachen. Die Protestantin interessiert sich für Philosophie, Glaubensfragen und die Künste.
1644 übernimmt sie mit 18 Jahren die Regentschaft von Schweden und sie ist eine der Betreiberinnen und Unterzeichnerinnen des Westfälischen Frieden, der 1648 geschlossen wird. Er ist der Ausgangspunkt für das moderne Völkerrecht. Sie versucht, aufgrund ihrer vielfältigen Interessen Stockholm zu einem Zentrum des intellektuellen Lebens zu machen. So korrespondiert sie mit René Descartes und lädt ihn nach Stockholm an ihren prunkvollen Hof ein. Und sie ist, wie der Prager Kunstraub zeigt, nicht zimperlich, wenn es darum ging, ihre Schatzkammer mit Gemälden, Statuen und Kristallen zu füllen.
1650 wird sie zur Königin gekrönt.
1654 dankt sie ab und überlässt die Krone ihrem Cousin Karl Gustav.
Kristina verlässt Schweden, tritt zum Katholizismus über und lebt bis zu ihrem Tod 1689 in Rom, wo die die Accademia dell‘ Arcadia für Philosophie und Literatur gründet.
Mika Kaurismäki, der ältere Bruder von Aki Kaurismäki, inszenierte jetzt mit „The Girl King“ einen Film über diese faszinierende Frau, der sich auf die zehn Jahre zwischen dem Anfang ihrer Regenschaft und ihrer Abdankung konzentriert. Das waren für Kristina bewegte Jahre, aus denen man mehrere Filme machen könnte. Aber „The Girl King“ findet nie eine wirkliche Haltung zu seiner Geschichte und seinem Umgang mit Fakten und mehr oder weniger elaborierter faktenbasierter Fiktion im Dienst einer stringenten Geschichte.
Das liegt auch an der lesbische Liebesgeschichte, die Kristina angedichtet wird und die ihre Abneigung gegenüber einer Heirat erklären soll. Danach war Kristina in ihre Kammerzofe Ebba Sparre verliebt und sie will diese Liebe nicht nur im stillen Kämmerlein ausleben. Denn dort wäre es für Niemanden am Hof ein Problem. Sie will auch keinen der Männer, die um sie werben, heiraten, weil sie sie nicht liebt. Allerdings war damals das Konzept der Liebesheirat noch unbekannt. Heirat war ein politisches Geschäft, um Königshäuser zusammenzulegen. Adoption, wie wir im Film sehen, genauso.
Diese Liebschaft, die sie nicht nur im Verborgenen ausleben will, ist dann auch der Grund und die Möglichkeit, um sie aus ihrem Amt zu drängen. Denn selbstverständlich ist der Freigeist, der neugierig ist und damit auch zwischen dem Protestantismus und dem Katholizismus schwankt, ein Problem für den schwedischen Reichsrat und ihre mehr oder weniger engen Berater. Nachdem der Dreißigjährige Krieg zwischen Protestanten und Katholiken geführt wurde, war die Frage des Glaubens hochpolitisch.
Dazu kamen noch ihre exorbitanten Ausgaben für die schönen Künste, die sie mehr als die Regierungsgeschäfte interessierten.
Da hätte man aus den Bruchstücken von Kristinas Biographie ein kraftvolles Drama erzählen können. Aber Kaurismäkis Film bebildert nur, wie ein Lexikonartikel, ihre Biographie ohne jemals emotional zu packen oder auch nur ein nachhaltiges Interesse für Kristina zu wecken. Martina Gedeck, die drei Szenen als Kristinas dem Wahnsinn verfallende Mutter Maria Eleonora von Brandenburg hat, hinterlässt dagegen einen nachhaltigen Eindruck als Frau, die den Tod ihres Mannes nicht überwinden kann.
„The Girl King“ ist halt TV-Ausstattungskino ohne eine erkennbare eigene Handschrift, europäisch finanziert und besetzt mit Schauspielern aus halb Europa.
The Girl King (The Girl King, Fnnland/Deutschland/Kanada/Schweden 2015)
Regie: Mika Kaurismäki
Drehbuch: Michel Marc Bouchard
mit Malin Buska, Sarah Gadon, Michael Nyqvist, Lucas Bryant, Laura Birn, Hippolyte Girardot, Peter Lohmeyer, Francois Arnaud, Patrick Bauchau, Jannis Niewöhner, Martina Gedeck