Die Mutter ist Alkoholikerin. Ihre älteste Tochter Tilda (Luna Wedler) kümmert sich um sie und ihre elfjährige Schwester Ida, studiert an einer nahe gelegenen Universität Mathematik und jobbt an der Kasse des Supermarktes. In einem Gedankenspiel versucht sie anhand der gekauften Lebensmittel zu erraten, wer sie kauft. Sie ist nur mäßig erfolgreich bei diesem Ratespiel. Zur Ruhe kommt sie im Freibad beim Schwimmen von 22 Bahnen.
„22 Bahnen“ ist auch der Titel von Caroline Wahls Bestseller-Debütroman „22 Bahnen“, der jetzt von Mia Maariel Meyer, nach einem Drehbuch von Elena Hell, mit Luna Wedler und Jannis Niewöhner in den Hauptrollen verfilmt wurde.
Nachdem die Grundpfeiler von Tildas Leben schnell etabliert sind, gerät ihr chaotisches, aber durchgeplantes Leben etwas in Unordnung. Im Freibad trifft sie auf Viktor (Jannis Niewöhner), den älteren, geheimnisumwitterten Bruder einer fünf Jahre zurückliegenden Beziehung, und ihr Lehrer informiert sie über eine Promotionsstelle in Berlin, die sie mühelos bekommen könnte. Aber dann müsste Tilda die Kleinstadt verlassen und ihre schutzbedürftige Schwester mit ihrer Mutter zurücklassen.
Als Charakterstudie und feinfühlige Beschreibung einer jungen Frau und ihres allernächsten Umfelds ist „22 Bahnen“ durchaus gelungen. Aber vieles bleibt oberflächlich und wird eher angedeutet als auserzählt. Dazu gehört auch der Plot, in dem Tilda versucht, das Selbstvertrauen ihrer jüngeren Schwester zu stärken. Er wird mit einem Voice-Over-Satz angedeutet. Es gibt später ein, zwei entsprechend interpretiertbare Szenen und dann, viele Filmminuten später, das Ergebnis ihrer Bemühungen.
Letztendlich ist „22 Bahnen“ eine weitere deutsche Coming-of-Age-Geschichte, in der die Hauptperson während des gesamten Films darüber räsoniert, dass das Leben im Dorf furchtbar sei und sie eigentlich in die große Stadt ziehen möchte. Über neunzig Minuten dreht sich die Geschichte im Kreis. Dann passiert ein Unglück, beispielsweise ein Autounfall, und die Hauptfigur verlässt das Dorf, ihre Familie und Freunde. Niemand hindert sie daran, das zu tun, was sie schon vor langer Zeit hätte tun können.
Meyer variiert diesen Grundplot an einigen Stellen. Aber die meiste Zeit des Films wird nur eine statische Situation beschrieben.
P. S.: Keine Ahnung, warum Tilda immer 22 Bahnen schwimmt.
P. P. S.: Es gibt verschiedene Hilfsangebote, die von Betroffenen und deren Umfeld in Anspruch genommen werden können und sollten.
22 Bahnen (Deutschland 2025)
Regie: Mia Maariel Meyer
Drehbuch: Elena Hell
LV: Caroline Wahl: 22 Bahnen, 2023
mit Luna Wedler, Zoë Baier, Laura Tonke, Jannis Niewöhner, Zoe Fürmann, Eleanor Reissa, Kosmas Schmidt, Ercan Karacayli
„Weisheit des Glücks – Eine inspirierende Begegnung mit dem Dalai Lama“ ist eine spielfilmlange Predigt des 14. Dalai Lama über all die Dinge, die er in wahrscheinlich jeder seiner Reden über den Frieden, die Welt und das Zusammenleben sagt. Unterlegt werden seine Worte mit einigen wenigen historischen Aufnahmen und vielen schönen Naturbildern, die wir so ähnlich aus anderen esoterisch angehauchten essayistischen Dokumentarfilmen kennen.
Das ist erbaulich, aber in dieser Form auch arg weltfremd. Denn nach dem allgemein zustimmungsfähigen Satz ‚wir wollen alle Frieden‘ führt er nicht aus, wie wir zu diesem Zustand kommen. Der Übergang von der Theorie in die Praxis ist der schwierige und wirklich interessante Punkt.
So bleibt nach neunzig Minuten Predigt nur Glückskeks-Wunschdenken, das seinen Jüngern gefallen wird.
Weisheit des Glücks – Eine inspirierende Begegnung mit dem Dalai Lama (Wisdom of Happiness, China/USA 2024)
Nach dem Tod ihres Mannes übernimmt die titelgebende ‚Witwe Clicquot‘ 1805 als 27-jährige in der französischen Provinz Champagne die Leitung der familieneigenen, damals unbedeutenden Weinkellerei. In den folgenden Jahren revolutioniert sie umfassend die Art, wie Champagner hergestellt wird. Ihre Verfahren werden noch heute angewandt. Sie legte den Grundstein für die heute noch bestehende Champagnermarke Veuve Clicquot Ponsardin.
Über diese Verfahren erfährt man in Thomas Nappers Biopic „Die „Die Witwe Clicqout“ nichts. Wie sie sich genau gegen die rein männliche Konkurrenz durchsetzte und ihren Hof behielt, erfährt man fast nichts. Die dafür entscheidenden Momente erzählt Napper zwischen den Bildern oder in nichtssagenden Bildern von einer Frau, die in einem Labor steht und mit Flüssigkeiten gefüllte Gefäße missvergnügt anschaut. Und so ist das Biopic eine Ansammlung wenig beeindruckender, meist beliebiger Szenen, in denen nie klar wird, warum wir uns für sie interessieren sollten. Aber wir erfahren einiges über ihr Liebesleben und, in Rückblenden, die Beziehung zu ihrem Mann. Beides wird ebenfalls an den interessanten Punkten nicht vertieft.
Barbe Nicole Clicquot-Ponsardin (16. Dezember 1777 – 29. Juli 1866), die „Grande Dame de Champagne“, hätte einen besseren Film als diese halbgare, auf zwei Zeitebenen spielende Schmonzette verdient.
Die Witwe Clicquot (Widow Clicquot, USA 2023)
Regie: Thomas Napper
Drehbuch: Erin Dignam (nach einer Geschichte von Christopher Monger und Erin Dignam)
LV: Tilar J. Mazzeo: The Widow Clicquot, 2008 (Veuve Clicquot – Die Geschichte eines Champagner-Imperiums und der Frau, die es regierte)
mit Haley Bennett, Tom Sturridge, Sam Riley, Leo Suter, Natasha O’Keeffe, Anson Boon, Ben Miles
Gleiches gilt für den Dokumentarfilm „Bekenntnisse des Hochstaplers Thomas Mann“. „Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“ gehören immer noch zu Manns bekanntesten und beliebtesten Werken. Mann begann mit der Arbeit an dem Roman 1905. Der Roman sollte der Auftakt für eine monumentale Trilogie sein. 1954 veröffentlichte er den Roman. Ein Jahr später starb er.
André Schäfer geht in seinem Dokumentarfilm, der auch mit nachgestellten Szenen arbeitet, der Verbindung zwischen Mann und Krull nach und wie sehr Krull ein alter ego von Mann ist. Allerdings kratzt sein Film nur an der Oberfläche. Am Ende hat man den Eindruck, weder über den Autor noch über den von ihm erfundenen Hochstapler viel erfahren zu haben.
Jedenfalls wenn man kein Mannianer ist.
Bekenntnisse des Hochstaplers Thomas Mann (Deutschland 2024)
Ein Jahr nach einem islamistischen Anschlag fährt Martin Harirat (Zejhun Demirov) an die Universität. Der 35-jährige Familienvater will mit Professor Doktor Neuweiser (Ulrich Tukur) über den Koran reden. Der Universitätsgelehrte soll ihm die aus dem Koran hergeleitete Absolution für einen von ihm geplantes Bombenattentat erteilen. Schnell entspinnt sich zwischen den beiden Männern ein Dialog über die richtige und falsche Interpretation des Korans.
Das Zwei-Personenstück „Martin liest den Koran“ ist, auch wenn es auf einem Originaldrehbuch basiert, abgefilmtes Thesentheater, bei dem die Interpretation des Korans zu sehr an den Worten der Schrift kleben bleibt und sich dann verschiedene Koranzitate mit triumphierender Stimme um die Ohren gehauen werden. Dabei sollte gerade Prof. Neuweiser wissen, wie wichtig bei den Worten auch immer der konkrete historische und kulturelle Hintergrund ist. Denn kein Werk entsteht im luftleeren Raum. Jedes Werk reagiert auf sein Umfeld.
Jurijs Saule inszenierte das Gespräch mit einem guten Gefühl für die Räume. Vor allem der große Hörsaal und die Mensa geben auch für das Auge etwas her. Störend sind allerdings die immer wieder aufmerksamkeitheischende, oft subjektive Kamera und die überlaute Geräuschkulisse.
„Martin liest den Koran“ ist ein klitzekleiner Baustein in der Diskussion über Islam, Islamismus und Terrorismus, die sich auf das akademische Spiel mit Koranzitaten konzentriert.
Das Drehhbuch erhielt 2022 die Goldene Lola für das beste unverfilmte Drehbuch.
Martin liest den Koran(Deutschland 2024)
Regie: Jurijs Saule
Drehbuch: Michail Lurje, Jurijs Saule
mit Ulrich Tukur, Zejhun Demirov, Sarah Sandeh, Alissia Krupsky, Prince Chughtai
Länge: 106 Minuten
FSK: ab 16 Jahre (wegen kurzer Visionen und Fotos von Attentaten; – aber nichts, was nicht auch in der „Tagesschau“ gezeigt wird)
In dem Road-Movie „Marianengraben“ fahren Helmut (Edgar Selge) und Paula (Luna Wedler) nach Italien. Getroffen haben sie sich mitten in der Nacht auf einem Friedhof. Paula besuchte das Grab ihres jüngeren Brüders. Helmut grub die Urne mit der Asche seiner Frau aus. Als sie vom Wachpersonal entdeckt werden, flüchten sie gemeinsam.
Helmut will nach Südtirol fahren, dabei die Asche seiner Frau verstreuen und, nun, sterben. Er hat seine letzte Reise zu den Orten, an denen er mit seiner Frau schöne Tage verbrachte, akribisch geplant. Paula will dagegen, von Schuldgefühlen geplagt, nur an einem bestimmten Tag in Triest sein. Dort ertrank ihr kleiner Bruder, der jetzt zehn Jahre alt geworden wäre, vor einem Jahr.
Weil er seinen Camper nicht mehr alleine fahren kann und sie keinen Zug benutzen kann, fahren sie gemeinsam Richtung Süden.
Eileen Byrnes Bestsellerverfilmung über zwei Trauernde, die sich auf einer gemeinsamen Reise langsam öffnen und dabei ihre Trauer überwinden, bewegt sich auf vertrauten Pfaden. Nur der konstant mangelnde Respekt vor der Friedhofsordnung und der damit verbundenen Totenruhe überrascht.
Marianengraben(Luxemburg/Italien/Österreich 2023)
Regie: Eileen Byrne
Drehbuch: Eileen Byrne
LV: Jasmin Schreiber: Mariannengraben, 2020
mit Luna Wedler, Edgar Selge, William Vonnemann, Martin Maria Abram, Katharina Grabher, Markus Stolberg
Kelly-Anne (Juliette Gariépy) und Clementine (Laurie Babin) verfolgen in Montreal im Gericht gespannt den Prozess gegen den Serienmörder Ludovic Chevalier (Maxwell McCabe-Lokos). Sie sind Serienkiller-Groupies, die den Dämon von Rosemont für unschuldig halten. Während der langen Gerichtstage lernen sie sich kennen. Auch außerhalb des Gerichtssaal verbringen sie Zeit miteinander.
Vor allem Kelly-Anne will immer mehr über den brutalen Mädchenmörder Chevalier, der seine Taten aufgenommen hat, erfahren. Sie möchte das bislang unbekannte Video von seinem dritten Mord, den an der dreizehnjährigen Camille, sehen und begibt sich dafür ins Darknet.
Pascal Plantes psychologischer Horrorfilm „Red Rooms – Zeugin des Bösen“ beginnt wie ein karg, quasi-dokumentarisch in langen, oft stummen Szenen inszenierter, das Geschehen kühl und distanziert beobachtender Gerichtsfilm. Er wird, ohne seinen Stil zu ändern, zu einem Film über die beginnende Freundschaft zwischen zwei einsamen Frauen, der im letzten Drittel wieder zu einem anderen Film wird. Dabei reduziert Plante die Zahl der handelnden Personen mit zunehmender Laufzeit immer mehr. Die schon anfangs einsame Kelly-Anne isoliert sich immer weiter von der Gesellschaft und taucht immer tiefer in die Welt des Darknets ein. Dabei deutet Plante die schlimmsten Bilder nur an. Wir sehen die Reaktionen auf grausame Bilder aber keine grausamen Bilder.
Red Rooms – Zeugin des Bösen(Les chambres rouges, Kanada 2023)
Regie: Pascal Plante
Drehbuch: Pascal Plante
mit Juliette Gariépy, Laurie Babin, Elisabeth Locas, Natalie Tannous, Pierre Chagnon, Guy Thauvette, Maxwell McCabe Lokos
TV-Premiere von Maggie Perens sehenswertes Drama „Der Passfälscher“ über den jungen Juden Cioma Schönhaus, der sich 1942 in Berlin ins pulsierende Großstadtleben stürzt, nach dem Motto „wenn mich alle sehen, kann ich kein von den Nazis verfolgter Jude sein“ und der gleichzeitig zahlreiche Pässe für andere Juden, die aus Deutschland flüchten wollen, fälscht.
Manchmal läuft es dumm. Margarethe von Trotta drehte ihren Film über Ingeborg Bachmann im Frühjahr 2022. Im Mittelpunkt steht die Beziehung der Dichterin zu Max Frisch.
Zwischen dem Ende der Dreharbeiten und der Premiere auf der diesjährigen Berlinale im Wettbewerb wurde im November 2022 der bis dahin nicht veröffentllichten Briefwechsel zwischen Bachmann und Frisch veröffentlicht. Die Briefe werfen ein neues Licht auf die offene Beziehung zwischen den beiden Dichtern und sie widerlegten einige Legenden über diese Beziehung.
Damit war der Film als faktengetreuer Blick durch das Schlüsselloch schon vor der Premiere überholt. Insofern betrachtet man „Ingeborg Bachmann – Reise in die Wüste“ besser nicht als quasi-dokumentarisches Biopic, sondern als die Geschichte einer toxischen Liebesgeschichte, die in den späten fünfziger und sechziger Jahren im Künstlermilieu spielt und unnötig verschachtelt erzählt wird. Von Trotta springt nämlich hin und her zwischen Szenen, in denen Ingeborg Bachmann, von Alpträumen geplagt, im Krankenhaus behandelt wird, zurück zu ihrer vier Jahre dauernden Beziehung zu Max Frisch und zu einer Reise nach Ägypten, bei der sie von dem jüngeren Schriftsteller Adolf Opel begleitet wird.
Weil von Trotta Jahreszahlen nicht nennt, fällt es schwer, die einzelnen Rückblenden in eine chronologische Struktur einzuordnen. Das wäre wichtig, um zu wissen, an welchem Punkt ihrer Beziehung zu Max Frisch Ingeborg Bachmann gerade steht. Von Trotta stellt auch die verschiedenen prominenten Freunde von Ingeborg Bachmann namentlich nicht weiter vor. So erfahren wir erst im Abspann, dass der Pianist, den sie in Rom besucht und mit dem sie offen redet, nicht irgendein Pianist, sondern der Komponist Hans Werner Henze ist.
Die im Zentrum des Films stehende Beziehung zwischen Ingeborg Bachmann (1926 – 1973) und Max Frisch (1911 – 1991) dauerte von 1958 bis 1962. Sie beginnt mit einem Brief von ihm, in dem er schreibt, wie sehr ihn ihr Hörspiel „Der gute Gott von Manhattan“ beeindruckt hatte. Er lädt sie nach Paris zur Premiere von seinem Stück „Biedermann und der Brandstifter“ ein. Sie verlieben sich und beginnen eine offene Beziehung, die von beiden ausgenutzt wird.
Im Film sind die Rollen schnell und sehr eindeutig verteilt. Max Frisch (Ronald Zehrfeld) ist ein bräsiger, teils selbstmitleidiger Egomane, der die gesamte Aufmerksamkeit auf sich zieht und Ingeborg Bachmann (Vicky Krieps), von der er abhängig ist, mehr oder weniger subtil terrorisiert. Sie braucht Ruhe für ihre dichterische Arbeit. Er hämmert seine Texte auf einer Schreibmaschine, die durch das gesamte Haus donnert. Er kann, weil er glaubt, in ihrem Schatten zu stehen, ihren Erfolg als Dichterin nicht akzeptieren. Rücksichtslos treibt er die zarte Dichterin in den Wahnsinn und den Tod. So weit, so eindeutig und so langweilig und unglaubwürdig. Denn es ist nie nachvollziehbar, warum eine erfolgreiche, freiheitsliebende und auch selbstbewusste Dichterin sich von so einem uninteressanten Mann abhängig macht.
Es ist schon erstaunlich, dass von Trotta, die vor elf Jahren Leben und Denken von Hannah Arendt kongenial in den Griff bekam, hier so versagt. In „Ingeborg Bachmann – Reise in die Wüste“ erzählt sie nur, ziemlich verworren, eine Beziehungsgeschichte, die bei ihr weiter banalisiert wird.
Dabei zeigt schon ein Blick in den Wikipedia-Eintrag über Ingeborg Bachmann, dass ihr Leben die Grundlage für mindestens ein gutes Biopic ist. Dieser Film ist es nicht.
Ingeborg Bachmann – Reise in die Wüste(Schweiz, Österreich/Deutschland/Luxemburg 2023)
Regie: Margarethe von Trotta
Drehbuch: Margarethe von Trotta
mit Vicky Krieps, Ronald Zehrfeld, Tobias Resch, Basil Eidenbenz, Luna Wedler, Marc Limpach
Wenn Oma Selma von einem Okapi träumt, stirbt jemand in dem Dorf im Westerwald. Aber das passiert nur alle Jubeljahre. Das Dorf sieht wie eine liebevoll zusammengestellte, die alte Bundesrepublik in all ihrer provinziellen Enge und wohligem Charme repräsentierende Modellstadt aus. Zwischen Oma Selmas Okapi-Träumen geht das Leben im Dorf seinen gewohnten Gang zwischen Erwachsenwerden, Liebe und nicht eingestandener Liebe weiter. Es passiert einiges. Und doch passiert nichts.
Erzählt wird die Romanverfilmung „Was man hier aus sehen kann“ von Selmas Enkeltochter Luise, „die vor der Liebe genauso viel Angst hat wie vor dem Tod“ (Mariana Leky).
Wenn Luise lügt, fällt etwas Großes herunter. Das kann sie sich allerdings auch einbilden. Trotzdem sorgt ihr schlechtes Gewissen für einige überraschende Splattereinlagen, die sich Sekunden später als Phantasien herausstellen. Irgendwann verliebt sie sich in einen schweigsamen jungen buddhistischen Mönch, den sie im Wald trifft. Er wohnt mit seinem Glaubensbrüdern bei einer abergläubischen Hausvermieterin. Und so könnte das Leben weiter seinen geruhsamen Gang gehen.
Das ändert sich, als Selma wieder von einem Okapi träumt und die Dorfbewohner von ihrem Traum erfahren.
Aron Lehmanns „Was man von hier aus sehen kann“ ist ein zwischen Gegenwart und Vergangenheit vor sich hin mäanderndes Märchen voller skuriller Figuren. Ihre Wohnungen und die Stadt sind aus der Zeit gefallen und existieren jetzt in einer Fantasiezeit. Das ist durchaus sympathisch, aber auch arg ziellos und gefällig in seiner Beschwörung der heilen Vergangenheit des Dorflebens. Eigentlich irritieren, nachdem man sich auf diese etwas seltsame, gleichzeitig sehr vertraute und wohlige Welt eingelassen hat, nur die unpassenden, sekundenlangen Traum-Splatter-Einlagen.
Das gesagt, hat der Film „Triangle auf Sadness“ als Spitzenreiter der der Arthouse-Kinocharts abgelöst.
Was man von hier aus sehen kann (Deutschland 2022)
Regie: Aron Lehmann
Drehbuch: Aron Lehmann
LV: Mariana Leky: Was man von hier aus sehen kann, 2017
mit Corinna Harfouch, Luna Wedler, Karl Markovics, Ava Petsch, Cosmo Taut, Rosalie Thomass, Benjamin Radjaipour, Katja Studt
Eigentlich ist es noch nicht einmal eine Schnapsidee: In einem Café sagt der Schiffskapitän Jakob Störr (Gijs Naber) zu seinem Freund Kodor, er werde die nächste Frau heiraten, die das Lokal betrete.
Jakob ist ein schweigsamer Seemann, der den Beruf gefunden hat, der perfekt zu ihm passt. Er ist nicht verheiratet; auch weil er noch nie eine Ehefrau, zu der er nach seinen langen Seefahrten zurückkehren kann, vermisst hat. In der Gesellschaft von anderen Menschen ist er eher unbeholfen.
Bei der ersten Frau, die sich der Tür nähert, bereut er schon sein unbedacht abgegebenes Vesprechen. Denn es ist eine ältere, übergewichtige Frau. Sie betritt das Lokal dann doch nicht. Als erste Frau betritt Lizzy (Léa Seydoux) das Café. Sie ist jung, gutaussehend, charmant und gewitzt. Eine bessere Frau hätte, auf den ersten Blick, Jakob nicht finden können. Und, entgegen aller Erwartungen, nimmt sie, leicht amüsiert, den Heiratsantrag des ihr unbekannten Mannes an.
Es ist die sagenumwobene Liebe auf den ersten Blick, die in den folgenden Tagen und, nach der Heirat, Wochen vertieft wird.
Erst später, wenn Jakob von seinen Reisen zurückkehrt, bemerkt er, dass Lizzy ein eigenes Leben hat und ihm nicht alles sagt über ihre Freunde und ihre abend- und nächtlichen Unternehmungen.
„Die Geschichte meiner Frau“ ist die Verfilmung von Milán Füsts bekanntestem Roman. Ildikó Enyedi, die 2017 für „Körper und Seele“ den Goldenen Bären erhielt, bearbeitete den Roman, „ein riesiger, ausschweifender innerer Monolog, ein Strom von Selbstanalyse und Reflektion“ (Enyedi) zu einer strikt chronologisch erzählten Geschichte, die konsequent aus Jakobs Sicht erzählt wird.
Deshalb wissen wir nicht, was Lizzy in Jakobs Abwesenheit treibt. Also ob sie ihn, wie er vermutet, betrügt oder, was sie behauptet, einfach nur eine lebenslustige Frau ist, die gerne mit verschiedenen Männern ausgeht. Eigentlich erfahren wir während des gesamten gut dreistündigen Films nichts über sie, was wir nicht bereits nach den ersten Minuten wissen.
Über ihn erfahren wir auch nicht mehr. Vor allem erfahren wir nicht, warum er Lizzy so abgöttisch liebt und unbedingt mit ihr zusammen bleiben will. Denn er glaubt, dass sie ihn betrügt. Er ist eifersüchtig. Aber er will sich auch nicht aus den Fängen dieser Femme Fatale befreien.
Und umgekehrt ist unverständlich, warum Lizzy unbedingt Jakobs Ehefrau bleiben möchte.
Die in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts spielenden Szenen einer Ehe kranken an dieser zunehmend unglaubwürdigen Liebesgeschichte. Entgegen des Titels „Die Geschichte meiner Frau“ wird nicht die Geschichte von Jakobs Frau erzählt. Das Liebesdrama erzählt höchstens die Geschichte seines Bildes seiner ihm unbekannten Frau, für deren Leben und Vergangenheit er sich niemals interessiert.
Außerdem ist der Film mit gut drei Stunden viel zu lang für seine doch arg redundante und damit auch langweiligen Geschichte.
Die Geschichte meiner Frau(A Feleségem Története, Ungarn/Deutschland/Frankreich/Italien 2021)
Regie: Ildikó Enyedi
Drehbuch: Ildikó Enyedi
LV: Milán Füst: A feleségem története, 1942 (Die Geschichte meiner Frau)
mit Gijs Naber, Léa Seydoux, Louis Garrel, Luna Wedler, Josef Hader, Sergio Rubini, Jasmine Trinca, Ulrich Matthes, Udo Samel
Die achtziger Jahre in der westdeutschen Provinz: „Formel Eins“ (die Musiksendung) im Fernsehen, zum Vorbild taugliche Terroristen auf Fahndungsplakaten, die neben Che-Guevara-Plakaten in WG- und Studentenwohnungen hängen, das Waldsterben vor der Haustür und die Gefahr des ersten und zugleich letzten Atomkrieg im Bewusstsein. Denn wenn Ost- und Westblock demnächst ihre Waffen ausprobieren, hat Deutschland nur als atomar verseuchte Wüste eine Zukunft.
In diesem Deutschland entschließen sich die Jugendlichen Frieder, Höppner, Vera und Cäcilia in ihrem Dorf in das verlassene Haus von Frieders Großvater einzuziehen. Später ziehen als Mitbewohner die Pyromanin Pauline und der Freigeist Harry in die WG ein. Er ist mehr ein Drogen liefernder ständiger Gast als ein richtiger Mitbewohner. Bov Bjerg erzählt in seinem erfolgreichen, jetzt verfilmten Roman „Auerhaus“ von den Erlebnissen der Schüler-WG.
Die Vier sind im letzten Jahr vor dem Abitur und ziemlich normal. Nur Frieder war wegen eines Suizidversuchs in der Psychiatrie. Jetzt wollen sie auf ihren Mitschüler aufpassen und schon einmal die kleine Freiheit genießen. Ohne Eltern, die ständig ihre Schlaf- und Trinkgewohnheiten überwachen, aber noch mit der elterlichen Vollversorgung bei den unangenehmen Dingen. Anscheinend sind alle Eltern sofort mit der Idee der Wohngemeinschaft damit einverstanden. „Auerhaus“-Regisseurin Neele Leana Vollmar zeigt jedenfalls keine Szene, in der die künftigen WG-Bewohner mit ihren Eltern über ihren Plan streiten müssen.
Aus dieser Idee einer Schüler-WG auf dem Dorf hätte ein vielschichtiges Sittengemälde der Bundesrepublik in den frühen achtziger Jahren und wie es war, in dieser bleiernen, vom Weltuntergang bedrohten Zeit am Arsch der Welt aufzuwachsen, entstehen können.
Es entstand allerdings ein in einer von der Welt abgewandten Blase spielendes Drama. Das beginnt schon mit der Ortlosigkeit der Geschichte. Alle Figuren sprechen Hochdeutsch. Eine regionale Verankerung gibt es nicht. Das Dorf scheint nur aus der Wohngemeinschaft, einem netten Polizisten und Höppners Mutter zu bestehen. Ihr neuer Freund, der ein cholerischer Idiot ist und vom Erzähler Höppner nur F2M2 genannt wird, tritt auch kurz auf. Diese wenigen Figuren können nie die Vielfalt eines ganzen Dorfes ersetzen. Es kann nichts über das Verhältnis der Dorfbewohner zur Wohngemeinschaft erzählt werden. Im Film scheint der einzige Konflikt zu sein, dass sie vielleicht mal etwas zu laut sind und dann Wachtmeister Bogatzki vorbeikommen muss. Wenn Frieder im Lebensmittelladen des Dorfes das Essen für eine Woche zusammenklaut, scheint das niemand zu stören. Wahrscheinlich weil seine Einkäufe anschließend bezahlt werden.
Die politischen Bezüge erschöpfen sich in einem in der WG-Küche aufgehängtem Terroristen-Fahndungsplakat. Ohne das Plakat könnte der Film auch zu irgendeiner anderen Zeit spielen.
Die episodenhafte Story kann mit viel Wohlwollen als Coming-of-Age-Geschichte gesehen werden, weil die sechs WG-Bewohner halt in dem Alter sind, in dem sie erwachsen werden und nach der Schule einige Entscheidungen anstehen. Für mich gehört zu einer Geschichte auch dazu, dass die Figuren etwas gelernt haben und dass sie am Ende des Films eine Entwicklung durchgemacht haben. Das kann über die Bewohner des Auerhauses nicht gesagt werden. Außerdem ist eine Ortsveränderung keine Erkenntnis, sondern in erster Linie eine Ortsveränderung.
Auerhaus (Deutschland 2019)
Regie: Neele Leana Vollmar
Drehbuch: Neele Leana Vollmar, Lars Hubrich
LV: Bov Bjerg: Auerhaus, 2015
mit Damian Hardung, Max von der Groeben, Luna Wedler, Devrim Lingnau, Ada Philine Stappenbeck, Sven Schelker, Hans Löw, Milan Peschel
1999 lernt die achtzehnjährige Jessica den etwas älteren Danny kennen. Es ist, jedenfalls von ihr, die sprichwörtliche Liebe auf den ersten Blick. Das liegt auch daran, dass Danny der in jeder Beziehung den Dorfjungen, die sie seit ihrer Kindheit kennt, überlegene Traumprinz ist. Er sieht gut aus, ist witzig, vernünftig, wenn nötig auch wehrhaft und er fährt einen tollen Sportwagen. Gut, dieser Punkt ist für Jessica eher ein Minuspunkt. Später erfährt sie, dass er keine Eltern mehr hat, eine sehr problematische Kindheit hatte, als Fotomodell gut Geld verdient und als Kickboxer Meister werden könnte. Oh, und er ist HIV-positiv.
Tim Trachtes Schnulze „Dem Horizont so nah“ basiert auf Jessica Kochs gleichnamigem, auf einer wahren Geschichte basierenden Bestseller. Wie nah an der wahren Geschichte die Filmgeschichte jetzt ist, weiß ich nicht. Aber es ist auch egal. Denn der Film erzählt, ohne irgendeinen weitergehenden Anspruch oder den Versuch einer zweiten Ebene, eine typische Kitsch-Geschichte für pubertierende Mädchen.
Alle anderen können getrost auf die nächste Nicholas-Sparks-Verfilmung warten. Da sind auch die schlechten Verfilmungen besser, interessanter und vielschichtiger als „Dem Horizont so nah“.
Dem Horizont so nah (Deutschland 2019)
Regie: Tim Trachte
Drehbuch: Ariane Schröder
LV: Jessica Koch: Dem Horizont so nah, 2016
mit Luna Wedler, Jannik Schümann, Luise Befort, Victoria Mayer, Stephan Kampwirth, Denis Moschitto, Frederick Lau