Neu im Kino/Filmkritik: Love you Bruce „Springsteen: Deliver me from nowhere“

Oktober 23, 2025

Die Fakten…früher, wenn ein neues Buch oder eine neue Schallplatte eines bewunderten Künstlers oder Band erschien, wusste man nichts über den Entstehungsprozess. Manchmal gab es vielleicht vereinzelte Interviews. Aber das Werk war die LP. Vierzig Minuten Musik. Auf B-Seiten von Singles und Maxis wurde vielleicht noch ein weiterer Song veröffentlicht. Aber das war’s. Ein Song. Eine Version.

Heute wissen wir oft viel mehr über die Entstehung der Werke. Es gibt lange Reportagen und dicke Bücher über die Entstehung wichtiger LPs. Es gibt umfassende Werkausgaben, die aus der ursprünglichen LP und mehreren Bonus-CDs bestehen. Die Box enthält unzählige Versionen der bekannten Stücke und Stücke, die damals nicht veröffentlicht wurden. Oft gibt es auch bislang nicht veröffentlichte Konzertmitschnitte. Wie sehr es diesen Blick in den Schaffensprozess des Künstlers wirklich braucht, muss hier jetzt nicht debattiert werden. Puristen können ja immer noch auf das ursprünglich veröffentlichte Werk zurückgreifen. Komplettisten werden die neue Ausgabe in ihr Regal stellen. Vielleicht gibt es neue Fans, die dann auch die anderen Werke des Künstlers kaufen. Und das die Entstehung einer LP umgebende Mysterium wird immer weiter enthüllt.

Ausgehend von dem Sachbuch „Deliver me from nowhere: The Making of Bruce Springsteen’s ‚Nebraska’“ liefert jetzt Scott Cooper in seinem neuen Film „Springsteen: Deliver me from nowhere“ einen solchen Blick hinter die Kulissen. Es geht um die Entstehung von Bruce Springsteens 1982 erschienener Solo-LP „Nebraska“. Sie erschien nachdem er und die E Street Band sich mit mehreren LPs und Live-Auftritten bereits einen guten Ruf erarbeitet hatten. Er war ein bekannter Musiker. Viele seiner immer noch beliebten Songs gehörten bereits zum Repertoire. Seine Plattenfirma würde gerne das nächste Hit-Album produzieren. Das lieferte Springsteen 1984 mit der LP „Born in the U. S. A.“. Sie machte ihn zum immer noch Stadien füllenden Superstar.

Seitdem Warren Zanes Sachbuch 2023 erschien, veröffentlichte Bruce Springsteen fleißig weiter Material aus seinem Archiv. Neben Mitschnitten von Auftritten und weiteren Versionen der Songs, die bereits veröffentlicht wurden, hat Springsteen kürzlich auch mehrere Alben veröffentlicht, die er in den vergangenen Jahrzehnten aus verschiedenen Gründen nicht veröffentlichte.

Zuletzt und pünktlich zum Filmstart erschien mit „Nebraska ’82: Expanded Edition“ eine aus fünf CDs bestehende Box, die die von der E Street Band gespielten elektrischen Versionen der Songs enthält, die Springsteen ursprünglich im Wohnzimmer als Demos für die neue LP von ihm und seiner Band aufnahm. Bislang verstaubten die Aufnahmen im Archiv.

Mit diesem Wissen würde Scott Cooper die Filmgeschichte vielleicht anders erzählen.

Vielleicht auch nicht. Denn in der jetzigen Fassung gefällt die klare Ausrichtung auf Bruce Springsteen (Jeremy Allen White) und die LP „Nebraska“. Alles, was nicht unmittelbar zur Entstehung gehört, wird ignoriert. Die legendäre E Street Band spielt in Coopers Drama keine nennenswerte Rolle. Das ganze Rock’n’Roll-Leben findet vor und nach dem Film statt.

In „Springsteen: Deliver me from nowhere“ geht es ausschließlich um Springsteens Schaffensprozess als Dichter (was nur im stillen Kämmerlein geschehen kann), seine Selbstzweifel (die er, mehr oder weniger offen, in seinen Songs dokumentiert) und wie er sich mit seiner Depression, seinen Gefühlen und seiner Kindheit, besonders seiner Beziehung zu seinem Vater, auseinandersetzt. Er denkt nach über sich, sein bisheriges und künftiges Leben. Er schreibt Songs, die später auf „Nebraska“ und „Born in the U. S. A.“ veröffentlicht werden. Cooper zeigt die unter Springsteen-Fans allgemein bekannten Inspirationen für die Songs.

Auch die Beziehung zu seinem Manager Jon Landau, der ihn bedingungslos unterstützt, ist wichtig. Mit ihm unterhält er sich über seine Pläne. Landau lässt später die klanglich schlechten Demo-Aufnahmen soweit polieren bis sie als LP veröffentlicht werden können und er überzeugt die Plattenfirma davon, dass Springsteen nach mehreren Rockmusik-LPs ein Homerecording-Folkalbum mit düsteren Songs veröffentlicht wird, das schon auf den ersten Blick ein unverkäufliches Liebhaberprojekt ist.

Dazwischen trifft Springsteen sich mit einer Kellnerin und ihrer Tochter. Sie ist eine auf mehreren Frauen, die Springsteen damals traf, basierende erfundene Figur, die auch gut in einen Springsteen-Song passen würde.

Das ist gut inszeniert, aber auch wenig mitreisend. Die meiste Zeit sehen wir einen Mann allein in einem Zimmer sitzen, vor sich hin brüten, nachdenklich in die Landschaft starren, komponieren und Demo-Versionen unzähliger neuer Songs einspielen. „Springsteen: Deliver me from nowhere“ ist die Huldigung des Künstlers als einsames Genie.

Springsteen: Deliver me from nowhere (Springsteen: Deliver me from nowhere, USA 2025)

Regie: Scott Cooper

Drehbuch: Scott Cooper

LV: Warren Zanes: Deliver Me from Nowhere: The Making of Bruce Springsteen’s „Nebraska“, 2023

mit Jeremy Allen White, Jeremy Strong, Paul Walter Hauser, Stephen Graham, Odessa Young, Gaby Hoffman, Marc Maron, David Krumholtz, Harrison Sloan Gilbertson, Metthew Pellicano Jr.

Länge: 120 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Englische Homepage zum Film

Moviepilot über „Springsteen: Deliver me from nowhere“

Metacritic über „Springsteen: Deliver me from nowhere“

Rotten Tomatoes über „Springsteen: Deliver me from nowhere“

Wikipedia über „Springsteen: Deliver me from nowhere“ (deutsch, englisch) und Bruce Springsteen (deutsch, englisch)

Homepage von Bruce Springsteen

AllMusic über Bruce Springsteen

Meine Besprechung von Scott Coopers „Auge um Auge“ (Out of the Furnace, USA 2013)

Meine Besprechung von Scott Coopers „Black Mass“ (Black Mass, USA 2015)

Meine Besprechung von Scott Coopers „Antlers“ (Antlers, USA 2021)


Neu im Kino/Filmkritik: Über Scott Coopers Horrorfilm „Antlers“

Oktober 28, 2021

Auf den ersten Blick ist Scott Cooper ein ungewöhnlicher und auch der falsche Regisseur für diesen Film. Immerhin ist „Antlers“ ein Horrorfilm und Cooper ist für langsam erzählte, sich auf seine Schauspieler verlassende, düstere Dramen bekannt.

Auf den zweiten Blick ist Scott Cooper dann doch nicht so unpassend. In seinen bisherigen Filmen wechselte er munter die Genres – „Crazy Heart“ ist ein Country-Musikfilm, „Auge um Auge“ (Out of the Furnace) ist ein Hinterland-Sozialdrama, „Black Mass“ ein Gangsterfilm, „Feinde – Hostiles“ ein Western -, aber immer erzählt er teils wahre, teils sich nah der Wirklichkeit bewegenden Geschichten über dunkle, vergessene und ignorierte Abschnitte der US-amerikanischen Geschichte. Es sind Gegenerzählungen zum idealisierten Selbstbild. Da ist ein Horrorfilm nicht nur ein weiteres Genre, um seine Themen durchzuspielen, sondern eine fast schon natürliche und folgerichtige Wahl, um seine Themen durchzuspielen. Verdrängung und die Angst vor Verdrängtem sind schließlich inhärente Bestandteile des Horrorgenres. Und spätestens seit Jordan Peeles Horrorfilmen „Get out“ und „Wir“ (Us) wissen wir wieder, dass gute Horrorfilme kein billiges Feierabendvergnügen, sondern Kommentare zur Gesellschaft sind.

Im Mittelpunkt von „Antlers“ stehen die Lehrerin Julia Meadows und einer ihrer Schüler. Julia kehrte nach fünfzehn Jahren wieder in ihre alte Heimat, ein Dorf in Oregon, zurück. Sie wohnt wieder in ihrem Elternhaus. Ihr Mitbewohner ist ihr jüngerer Bruder Paul, der niemals das Dorf und das Haus verlassen hat. Er ist inzwischen der Ortssheriff. In dem Haus wird Julia wieder von Erinnerungen an ihre Kindheit und ihren gewalttätigen Vater geplagt.

Lucas Weaver ist einer ihrer Schüler. Der introvertierte Junge wird von seinen Mitschülern gemobbt und er hat sogar für den kärglichen Standard von Oregon nur ärmliche Kleiderfetzen an. Mit seinem jüngerem Bruder wohnt er bei seinen Vater Frank. Er ist polizeilich bekannt und drogensüchtig. Aber trotzdem darf er seine beiden Söhne weiter erziehen.

Als Julia eine von Lucas gezeichnete Geschichte entdeckt, interpretiert sie diese, auch aufgrund eigener Erfahrungen, als Dokument häuslichen Missbrauchs. Sie will Lucas helfen und fährt zu dem einsam gelegenem, baufälligem Holzhaus, in dem Lucas lebt.

Spätestens ab dem Moment, in dem Julia Lucas‘ Bilder sieht, weiß nicht nur der gestandene Horrorfilmfan, wie die Geschichte weiter gehen wird und dass in dem Haus ein Monster lauert.

Ein Horrorfan, der sich etwas in nordamerikanischer Folklore auskennt, dürfte das Wesen, das von Frank Besitz ergriffen hat, schnell als einen aus der Anishinabe-Kultur stammenden bösartigen Geist, einen Wendigo, erkennen. Ein Wendigo ist ein Geist, der im Wald (bzw. in „Antlers“ in einer verlassenen Bergwerksmine) lebt. Er ergreift, so der Mythos, von Menschen Besitz, macht sie wahnsinnig und zu Menschenfressern.

Auch Frank beginnt Menschen zu jagen. Für Scott Cooper ist das allerdings nicht der Anlass, um einen gewöhnlichen Horrorfilm mit billigen Jump-Scares, jungfräulich kreischenden Teenagern, dekorativ ausgeweiteten Leichen und blutigen Metzelorgien, zu beginnen. Wie in seinen vorherigen Filmen erzählt er seine Geschichte extrem langsam und ohne überraschende Wendungen. Wieder stehen die Schauspieler im Zentrum und wieder zeichnet er ein Bild der USA, die ihre besten Zeiten hinter sich haben. In Coopers Oregon haben sich die Menschen schon lange vom amerikanischen Traum verabschiedet. Sie leben zwischen industriellen Hinterlassenschaften, Schrott und verfallenden Häusern. Sie haben keine Hoffnung mehr auf ein besseres Leben und jeder verschweigt Erfahrungen von Gewalt und sexueller Gewalt. Einen Ausbruch aus diesem Teufelskreis von Gewalt, Drogenmissbrauch und Hoffnungslosigkeit scheint es nicht zu geben.

Am Ende führt Cooper diese Analyse nicht zu einer Anklage. Stattdessen lässt er, auch weil er durchgehend vieles nur andeutet, mehrere mögliche Interpretationen zu und er folgt in den letzten Minuten des Films zu sehr den etablierten Horrorfilmkonventionen, um restlos zu begeistern. Wer allerdings einen ungewöhnlichen Horrorfilm sehen möchte, der sich einfachen Antworten verweigert, unbequeme Themen anspricht und zum Nachdenken anregt, sollte einen Blick riskieren.

Antlers (Antlers, USA 2021)

Regie: Scott Cooper

Drehbuch: C. Henry Chaisson, Nick Antosca, Scott Cooper

LV: Nick Antosca: The Quiet Boy, 2019 (Kurzgeschichte)

mit Keri Russell, Jesse Plemons, Jeremy T. Thomas, Graham Greene, Sott Haze, Rory Cochrane, Amy Madigan

Länge: 100 Minuten

FSK: ab 16 Jahre

Hinweise

Englische Homepage zum Film

Moviepilot über „Antlers“

Metacritic über „Antlers“

Rotten Tomatoes über „Antlers“

Wikipedia über „Antlers“ (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von Scott Coopers „Auge um Auge“ (Out of the Furnace, USA 2013)

Meine Besprechung von Scott Coopers „Black Mass“ (Black Mass, USA 2015)


Neu im Kino/Buch- und Filmkritik: „Black Mass“ – ein Sachbuch und ein Film über Bostons Gangsterboss Whitey Bulger

Oktober 15, 2015

Was für ein Stoff! Die Geschichte eines Gangsterbosses, der auch jahrelang FBI-Informant war. Sein FBI-Führungsoffizier ist auch aus South Boston und kennt ihn seit Kindertagen. Sein Bruder, ein Demokrat, ist ein geachteter und einflussreicher Politiker, der von 1978 bis 1996 der Präsident des Repräsentantenhaus von Massachusetts war und damit immer noch der Politiker ist, der das Amt am längsten inne hatte. Entsprechend einflussreich und beliebt war er bei der Bevölkerung. Und dann ist das keine Hollywood-Fiktion, sondern Wahrheit. Der irischstämmige James ‚Whitey‘ Bulger war auf dem Höhepunkt seiner Karriere der unantastbare Gangsterboss von Boston. 1975 wurde der 1929 geborene Verbrecher FBI-Informant. Ende 1994 tauchte er unter, weil seine Tätigkeit für das FBI kurz vor der Enthüllung stand und er Anklagen für seine vielen Verbrechen befürchten musste.
Im Film, der mit der öffentlichen Enthüllung von Bulgers jahrzehntelanger Informantentätigkeit endet, wird Bulger von Johnny Depp gespielt und Depp lässt seine in den letzten Jahren gepflegten Komödien-Manierismen links liegen. Neben ihm sind Joel Edgerton, Benedict Cumberbatch, Kevin Bacon, Peter Sarsgaard, Rory Cochrane und Corey Stoll dabei. Das Drehbuch ist von Mark Mallouk (sein erstes verfilmtes Drehbuch, aber als Produzent war er involviert in „Rush“, „Ruhet in Frieden“ und „Everest“) und Jez Butterworth (u. a. „Fair Game – Nichts ist gefährlicher als die Wahrheit“, „Edge of Tomorrow“, „Get on up“ und „Spectre“, der neue Bond), also Jungs, die eine wahre, spannende und auch komplexe Geschichte erzählen können.
Die Regie übernahm Scott Cooper, dessen Debüt „Crazy Heart“ von der Kritik abgefeiert wurde und dessen zweiter Film „Auge um Auge – Out of the Furnace“ ein etwas schleppend erzähltes düsteres Drama ist.
Das klingt doch vielversprechend.
Und doch ist „Black Mass“ eine große Enttäuschung. Es ist ein Gangsterfilm, der so eifrig bemüht ist, alles zu ignorieren, was einen Gangsterfilm ausmacht, was natürlich ein etwas unsinniges Unterfangen ist (als würde man ein Musical ohne Gesangsnummern inszenieren), aber gelingen könnte, wenn die Macher gewusst hätten, was sie erzählen wollen. Geht es um den Aufstieg und Abstieg von Bulger? Geht es um seine Beziehung zu dem FBI-Agenten John Connolly? Geht es um Vertrauen, Verrat und Verhaltensregeln? Den Ehrenkodex des Gangsters?
Wahrscheinlich geht es darum. Immerhin beginnt der Film mit einem Verhör bei der Polizei; wobei der Vernehmungsbeamte für den Film egal ist. Der Gangster, der betont, dass er aussagen werde, aber kein Verräter sei, gehört zwar zur Bande von Whitey Bulger, aber der Film wird nicht aus seiner Perspektive erzählt. Denn wir sehen hier und nach den folgenden Verhörszenen immer wieder Szenen, in denen Dinge gezeigt werden, die die Verhörten nicht wissen können. Sowieso sind die eher willkürlich eingestreuten Verhörszenen mit verschiedenen Bandenmitglieder nur ein Gimmick, der die sprunghafte Handlung nur mühsam kaschiert. Denn mit jedem neuen Verhör wird einfach ein weiteres Kapitel aufgeschlagen und manchmal auch ein längerer Zeitraum überbrückt. Wer dann von Bulger und seinen Jungs umgebracht wird, ist uns egal, weil wir zu dem Opfer keine emotioale Verbindung aufbauen konnten. Sowieso scheinen die Opfer vor allem Mitglieder aus Bulgers Bande zu sein, was zu einem weiteren Problem führt. In einem Gangsterfilm kämpfen Gangster gegeneinander und gegen die Polizei. In „Black Mass“ nicht. Immerhin schützt das FBI Bulger. Über seinen Aufstieg vom das Viertel beherrschenden zum die Stadt beherrschenden Gangster erfahren wir nichts, außer dass einmal gesagt wird, dass er dank des Schutzes des FBIs vom Southie-Kleingangster zum Paten von Boston aufsteigen konnte. Dass es auch andere Gangsterbanden in Boston gibt, vor allem natürlich die italienische Mafia, gegen die das FBI in den Siebzigern einen Feldzug führte, bleibt daher letztendlich eine Behauptung, die wir dem FBI glauben müssen.
Und warum Bulger irgendwann mit der IRA Geschäfte macht, können wir uns aus unserem, sofern vorhandenem, historischen Wissen über die IRA und ihre Unterstützer in den USA zusammenreimen. Aus dem Film erfahren wir es nicht. Dort ist es nur eine Episode, in der plötzlich ein Schiff beladen wird.
Entspechend eindimensional bleiben alle Charaktere. Sie sind Stichwortgeber für eine nicht vorhandene Geschichte. Vor allem Bulger bleibt blass. Er ist immer ein etwas älterer Mann mit schütteren Haaren und schlechten Kleidern. Er sieht immer aus, wie ein älterer Arbeiter aus der nächsten Eckkneipe. Dass er kaltblütig mehrere Menschen erdrosselt und erschießt, erscheint da fast wie eine seltsame Marotte. Aber besonders furchterregend wird er dadurch nicht. In den Momenten versprüht er bestenfalls die Aura eines Mafia-Handlangers, der in der nächsten Filmszene stirbt.
Auch alle anderen Charaktere agieren wie in einem Korsett. Leblos und steif hängen die Staatsdiener in ihren Anzügen. Natürlich immer in unauffällig zeitlos-seriösen Farben, mit Schlips und Weste, wie es sich schon damals seit Jahrzehnten für den gut gekleideten Mann gehörte. Die Gangster pflegen dagegen die ebenso zeitlos funktionale Hafenarbeiterkluft, die sich schon damals seit Jahrzehnten nicht änderte. So verstärkt die Kleidung das Gefühl, dass in „Black Mass“ alles, aber auch wirklich alles, seit Jahrzehnten schon fest zementiert ist. Und niemand es ändern will.
Dass die Filmgeschichte sich über zwei Jahrzehnte erstreckt, erfahren wir nicht über die Bilder. Egal ob 1975, das Jahr in dem „Black Mass“ beginnt, oder die achtziger Jahre oder die frühen neunziger Jahre bis, Mitte der Neunziger, als Bulger als FBI-Spitzel enttarnt wird, immer sehen wir die gleichen abgeranzten Sechziger-Jahre-Arme-Leute-Küchen, South-Boston-Hinterhöfe, Hafenansichten, FBI-Büros (die nie durch Hippnes glänzten) und, selten, gehobene Restaurants, in denen ohne Schlips und Anzug niemand hineingelassen wird. Es sind Orte, an denen jede Modernisierung vorbei ging.
Die Dialoge stehen zwar in der George-V.-Higgins- und Elmore-Leonard-Schule, aber in „Black Mass“ bleiben sie nur folgenloses Gebabbel. Das ist in den ersten Minuten, wegen der vermeintlichen Authenzität noch toll, aber es wird zunehmend zu einem Problem. Denn die Dialoge drehen sich mehr im Kreis, als dass sie die Handlung vorantreiben. Die ist sowieso nur locker an Bulgers verschiedenen Morden aufgehängt. Morde, die für die Handlung keine erkennbare Bedeutung haben.
So wird der gesamte Film ziemlich schnell zu einer reinen Geduldsprobe, die gefühlt mindestens doppelt so lange ist wie der zweistündige Film.
Wieviel besser und kurzweiliger ist dagegen David O. Russells 138-minütiger „American Hustle“, der die gleichen Themen behandelte und ebenfalls auf einer wahren Geschichte basiert.
Und was hätte Martin Scorsese nur aus dieser Geschichte gemacht?
Uh, ähem, hat er schon. Vor neun Jahren. „Departed – Unter Feinden“ heißt der Film, Jack Nicholson spielt den Gangsterboss, der im Film Frank Costello heißt und der von Whitey Bulger inspiriert ist. Ein grandioser Film, der Scott Coopers Scheitern umso schmerzhafter zeigt.

Black Mass - Plakat

Black Mass (Black Mass, USA 2015)
Regie: Scott Cooper
Drehbuch: Mark Mallouk, Jez Butterworth
LV: Dick Lehr/Gerard O’Neill: Black Mass: Whitey Bulger, the FBI, and a Devil’s Deal, PublicAffairs, 2000 (Black Mass – Der Pate von Boston)
mit Johnny Depp, Joel Edgerton, Benedict Cumberbatch, Dakota Johnson, Kevin Bacon, Peter Sarsgaard, Jesse Plemons, Rory Cochrane, David Harbour, Adam Scott, Corey Stoll, Juno Temple, Julianne Nicholson
Länge: 123 Minuten
FSK: ab 16 Jahre

Die Vorlage: ein Lesebefehl für den True-Crime-Fan

Lehr - O Neill - Black Mass - 4

Pünktlich zum Filmstart erschien das von den „Boston Globe“-Journalisten geschriebene und mit dem Edgar ausgezeichnete Sachbuch „Black Mass“, das als Vorlage für den Film diente und schon auf den ersten Seiten fragte ich mich, wie es den Filmmachern gelang, all die auf dem Präsentierteller liegenden erzählerischen Goldstücke zu ignorieren. Vieles wird zwar im Film auch angesprochen oder angedeutet, aber erst beim Lesen des Buches versteht man die Hintergründe und damit auch die Handlungen der Beteiligten. Deshalb ist das Buch eine so ungemein spannende Lektüre, die einem so viel von der US-Kriminalitätsgeschichte erzählt und, im Gegensatz zum Film, den Wunsch weckt, South Boston zu besuchen.

Dick Lehr/Gerard O’Neill: Black Mass – Der Pate von Boston
(übersetzt von Joachim Körber)
Goldmann, 2015
512 Seiten
9,99 Euro

Originalausgabe
Black Mass: Whitey Bulger, the FBI, and a Devil’s Deal
PublicAffairs, 2000

Hinweise
Amerikanische Homepage zum Film
Film-Zeit über „Black Mass“
Moviepilot über „Black Mass“
Metacritic über „Black Mass“
Rotten Tomatoes über „Black Mass“
Wikipedia über „Black Mass“ (deutsch, englisch) und Whitey Bulger (deutsch, englisch)
History vs. Hollywood über die wahren Hintergründe von „Black Mass“

Die „Black Mass“-Pressekonferenz beim Filmfest in Venedig

Nachtrag (20. Oktober 2015)

„French Connection“ William Friedkin unterhält sich mit Scott Cooper über den Film

 

 


Neu im Kino/Filmkritik: Der top besetzte Rural-Noir „Auge um Auge“

April 6, 2014

Der deutsche Titel „Auge um Auge“ klingt alttestamentarisch martialisch, während der Originaltitel „Out of the furnace“, wie der Film, nachdenklicher ist. Denn auch wenn es in „Auge um Auge“ eine Rachegeschichte gibt, beginnt sie extrem spät, irgendwann nach der Filmmitte, und sie steuert dann so gradlinig auf diese letzte Konfrontation zwischen Russell Baze (Christian Bale) und Harlan DeGroat (Woody Harrelson) zu, dass offensichtlich ist, dass sie wirklich nicht im Zentrum des Interesses von Regisseur und Drehbuchautor Scott Cooper steht.
Im Mittelpunkt steht die Beziehung zwischen den beiden gegensätzlichen, durch ihre Hölle gehenden Brüdern Russell und Rodney Baze Jr. (Casey Affleck), der als Soldat viermal im Irak war, jetzt seine Zeit in Wettbüros verbringt, dort meistens verliert, und sich mit illegalen Faustkämpfen Geld verdient, um seine Schulden zu bezahlen. Russell ist das vernünftige Gegenteil: er arbeitet in Braddock, Pennsylvania, wie schon sein Vater, im Stahlwerk, schiebt Doppelschichten und will mit der Kindergärtnerin Lena Taylor (Zoe Saldana) eine Familie gründen. Er ist vielleicht nicht wirklich zufrieden mit seinem Leben, aber er weiß, was er erreichen kann und eine Anstellung im Stahlwerk ist ja nicht das schlechteste. Er versucht auch seinen Bruder Rodney vor dem Hinterzimmer-Geldverleiher John Petty (Willem Dafoe) zu schützen.
Das gelingt ihm auch ziemlich gut, bis Rodney in den Wäldern von New Jersey kämpfen will. Dort soll um das wirklich große Geld gekämpft werden und er könnte mit einem Kampf schuldenfrei sein. Soweit die Theorie. Die Wirklichkeit endet mit seinem Tod und der besonnene Russell will den psychopathischen Gangsterboss Harlan DeGroat, der auch die Kämpfe veranstaltet, zur Rechenschaft ziehen.
Das ist wahrlich keine neue Geschichte, aber sie gewinnt durch den präzisen Blick auf das Milieu der kleinen Leute und ihrer Sorgen – auch wenn sie alle von Hollywood-Stars gespielt werden.
„Auge um Auge“ ist ein Noir, wie er von Daniel Woodrell geschrieben sein könnte, und es ist der Versuch, die filmische Version des großen amerikanischen Romans zu erzählen, mit Reminiszenzen an „Die durch die Hölle gehen“ (The Deer Hunter, USA 1978), und der als Epos gerade keine Thriller-Spannung entfalten will. Deshalb gibt es in der ersten Hälfte auch einen längeren Gefängnisaufenthalt von Russell, der betrunken für einen Autounfall mit zwei Toten verantwortlich war. Nach dem Gefängnis hat Lena ihn verlassen, sein Vater ist gestorben, für die Beerdigung hat er keinen Freigang erhalten und natürlich wurde er als Stahlwerker entlassen. Die Stelle erhält er wieder.
Cooper erzählt trotz der Länge – und der für die Rachegeschichte verzichtbaren Gefängnisepisode, – oft elliptisch. So gibt es zwischen dem tödlichen Autounfall und Russells erstem Bild aus dem Gefängnis (das zuerst nur erkennbar an dem Schriftzug auf seiner Kleidung ist) keine verbindenden Szenen. Dass Russells Vater gestorben ist, erfahren wir auch auch erst, nachdem er nach seinem längeren Gefängnisaufenthalt (wie lange, erfahren wir nicht) das Grab besucht. In diesen Momenten hinterlässt Coopers elliptische Erzählweise das Gefühl, dass einige verbindende Szenen wenig elegant herausgeschnitten wurden, damit der Film nicht zu lang wird. Auch die Rolle von Forest Whitaker als Lenas neuer Freund und Ortssheriff ist für so einen bekannten und guten Schauspieler sehr klein ausgefallen.
Letztendlich hat „Auge um Auge“ vieles, was für ihn spricht, ohne wirklich hundertprozentig zu überzeugen, was auch an der extrem vorhersehbaren Geschichte, die eigentlich erst nach einer Stunde beginnt, liegt.
In der in seinem Blick auf die Schattenseite des amerikanischen Traums ähnlich düsteren Daniel-Woodrell-Verfilmung „Winter’s Bone“ beginnt die Hauptgeschichte viel früher und der Film ist auch viel kraftvoller als „Auge um Auge“. Aber Woodrell und Debra Granik, die den Roman verfilmte, wollten auch nur eine Geschichte erzählen, während Cooper eindeutig nach Höherem strebt.

Auge um Auge - Plakat - 4

Auge um Auge (Out of the Furnace, USA 2013)
Regie: Scott Cooper
Drehbuch: Scott Cooper, Brad Ingelsby
mit Christian Bale, Casey Affleck, Woody Harrelson, Willem Dafoe, Forest Whitaker, Zoe Saldana, Sam Shepard
Länge: 116 Minuten
FSK: ab 16 Jahre

Hinweise
Deutsche Homepage zum Film
Film-Zeit über „Auge um Auge“
Moviepilot über „Auge um Auge“
Metacritic über „Auge um Auge“
Rotten Tomatoes über „Auge um Auge“
Wikipedia über „Auge um Auge“ (deutsch, englisch)

Und die immer hörenswerten DP/30-Interviews

mit Scott Cooper und Woody Harrelson

Christian Bale

Casey Affleck