Neu im Kino/Filmkritik: Dreimal Arthaus, dreimal enttäuschend: „The Son“, „Close“ und „Return to Seoul“

Januar 31, 2023

In seinem neuen Film spielt Hugh Jackman den erfolgreichen New Yorker Anwalt Peter Miller. Er lebt mit Beth (Vanessa Kirby) zusammen. Sie haben ein gemeinsames Baby. Beruflich könnte er vor neuen Herausforderungen stehen.

Als bittet Peters Ex-Frau Kate (Laura Dern) ihn, ihren gemeinsamen Sohn Nicholas (Zen McGrath) bei sich aufzunehmen. Der Siebzehnjährige schwänzt die Schule, ist antriebslos, will nicht mehr bei seiner Mutter leben und er hat Stimmungsschwankungen. Jetzt will er bei Peter leben.

Peter und Beth nehmen ihn bei sich auf. Aber an Nicholas erratischem Verhalten ändert sich nichts.

The Son ist nach seinem Debüt „The Father“ Florian Zellers zweiter Spielfilm. Wieder entstand der Film nach einem seiner Theaterstücke, wieder schrieb er das Drehbuch mit Christopher Hampton und wieder spielt Anthony Hopkins (der dieses in einer Nebenrolle einen ganz anderen Vater spielt) mit. Trotzdem enttäuscht „The Son“.

In „The Father“ erzählt Zeller die Geschichte des zunehmend dementen Anthony (Anthony Hopkins). Er inszenierte den Film aus Anthonys Perspektive und wir begreifen schnell, wie ein Mensch, der langsam sein Gedächtnis verliert, die Realität sieht und versucht sie zu begreifen, während ihm seine Vergangenheit und die Gegenwart zunehmend entgleiten.

The Son“ ist dagegen nur ein konventionell erzähltes Vater-Sohn-Drama, in dem ein Vater seinem Sohn helfen will, ohne die Krankheit seines Sohnes zu verstehen. Das ist gut gespielt und auch gut inszeniert, aber meilenweit von der Qualität seines Debüts entfernt. Zellers neues Drama unterscheidet sich letztendlich kaum von einem banalen Herzkino-Film.

The Son (The Son, USA/Frankreich 2022)

Regie: Florian Zeller

Drehbuch: Florian Zeller, Christopher Hampton

LV: Florian Zeller: Le Fils, 2018 (Theaterstück)

mit Hugh Jackman, Laura Dern, Vanessa Kirby, Zen McGrath, Anthony Hopkins

Länge: 123 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Moviepilot über „The Son“

Metacritic über „The Son“

Rotten Tomatoes über „The Son“

Wikipedia über „The Son“ (deutsch, englisch)

Auch Lukas Dhont überzeugte mit seinem Debüt „Girl“. In ihm ging es um ein fünfzehnjähriges Transmädchen, das in einer bekannten Ballettschule ausgebildet werden möchte, während sie sich gleichzeitig auf ihre geschlechtsangleichende Operation vorbereitet.

In seinem zweiten Film „Close“, der aktuell für den Auslandsoscar nominiert ist, geht es um zwei Jungen, die auf dem Land jede Minute miteinander verbringen. Als die beiden Dreizehnjährigen auf eine neue Schule kommen und eine Klassenkameradin bemerkt, dass sie offensichtlich mehr als nur Freunde seien, verändert sich ihre Beziehung.

In der ersten Filmhälfte zeichnet Dhont diese Freundschaft und wie sie sich verändert äußerst sensibel und mit wenigen Worten. Léo und Rémi stehen am Beginn ihrer Pubertät auch vor der Frage, wie sie sich künftig sexuell orientieren wollen. Bislang war ihnen das egal.

In der Filmmitte gibt es dann ein überraschendes Ereignis, das die Handlung der zweiten Hälfte entscheidend beeinflusst. Gleichzeitig ist danach, auch ohne eine Antwort, die Frage der Klassenkameradin final beantwortet und der Film steht vor der Frage, was er in der zweiten Hälfte erzählen will.

Über dieses Ereignis wird im folgenden kaum gesprochen. Stattdessen gibt es eine Abfolge weitgehend unzusammenhängender Szenen, in denen die Geschichte sich keinen Millimeter vorwärts bewegt. Nach der konzentrierten ersten Hälfte plätschert das Drama jetzt nur noch langatmig in Richtung Abspann.

Close (Close, Belgien/Frankreich/Niederlande 2022)

Regie: Lukas Dhont

Drehbuch: Lukas Dhont, Angelo Tijssens

mit Eden Dambrine, Gustav de Waele, Èmilie Dequenne, Léa Drucker, Keven Janssens, Marc Weiss

Länge: 104 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Homepage zum Film

Allociné über „Close“

Moviepilot über „Close“

Metacritic über „Close“

Rotten Tomatoes über „Close“

Wikipedia über „Close“ (deutsch, englisch, französisch)

Meine Besprechung von Lukas Dhonts „Girl“ (Girl, Belgien/Niederlande 2018)

Als Fünfundzwanzigjährige kehrt Freddie 2013 für einige Tage nach Seoul zurück. Als Baby wurde sie von einem französischen Ehepaar adoptiert. Jetzt will sie ihre Eltern, über die sie nichts weiß und an die sie bislang offensichtlich niemals dachte, kennen lernen. Über eine Adoptionsagentur kann sie ihre Eltern kontaktieren. Diese sind inzwischen geschieden. Ihre Mutter will sie nicht sehen. Ihr Vater schon.

Über letztendlich ein Jahrzehnt erzählt Davy Chou in „Return to Seoul“ Freddies Geschichte und wie sich ihre Suche und ihre Beziehung zu ihren biologischen Eltern entwickelt. Und eben dieser lange Zeitraum erweist sich als ein Problem. Freddie erster Besuch in Seoul, der den größten Teil des Films einnimmt, überzeugt. Es wird eine junge Frau auf der Suche gezeigt. Gleichzeitig sind für sie die Tage an Seoul eine Gelegenheit all das zu tun, was Studentinnen in fremden Städten tun. Mit Zufallsbekanntschaften stürzt sie sich lebenslustig in das pulsierende Nachtleben und verbreitet eine wohltuende Portion Unruhe.

Danach wird es episodischer und zunehmend unklarer, wohin sich die Geschichte entwickeln soll. 2015 führt sie ein langes Gespräch mit einem Waffenhändler, bei den zunächst unklar ist, warum sie sich mit ihm unterhält, warum sie wieder (?) in Seoul ist und was sie in Seoul tut oder tun will. Sie trifft wieder ihren Vater und seine Familie. Sie hat einen Freund, der sie nach Seoul begleitet. Sie wird älter und irgendwann ist der Film vorbei.

Return to Seoul“ ist, wie „Close“, strikt chronologisch erzählt und nach einer starken ersten Hälfte plätschert der Film, wie „Close“, unentschlossen vor sich hin. Im Gegensatz zu „Close“, dessen Geschichte sich innnerhalb weniger Monate abspielt, überspringt Day Chou in seinem Drama immer wieder mehrere Jahre und Freddie wird von einer Mittzwanzigerin zu einer Mittdreißigerin.

Return to Seoul (Return to Seoul/Retour à Séoul, Belgien/Deutschland/Frankreich 2022)

Regie: Davy Chou

Drehbuch: Davy Chou

mit Park Ji-Min, Oh Kwang-Rok, Guka Han, Yoann Zimmer, Hur Ouk-Sook, Kim Sun-Young, Louis-Do de Lencquesaing, Emeline Briffaud

Länge: 119 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Der Film ist mehrsprachig. Für die deutsche Kinofassung wurde Französisch synchronisiert. Die anderen Sprachen sind untertitelt.

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

Filmportal über „Return to Seoul“

Moviepilot über „Return to Seoul“

AlloCiné über „Return to Seoul“

Metacritic über „Return to Seoul“

Rotten Tomatoes über „Return to Seoul“

Wikipedia über „Return to Seoul“ (englisch, französisch)


TV-Tipp für den 22. April: Die Möbius-Affäre

April 21, 2021

Servus TV, 22.05

Die Möbius-Affäre (Möbius, Frankreich 2013)

Regie: Éric Rochant

Drehbuch: Éric Rochant

Der russische Top-Spion Grégory Lioubov soll in Monaco einem Oligarchen das Handwerk legen. Er hofft, über eine eine amerikanische Finanzexpertin an die benötigten Informationen zu kommen. Dummerweise wird sie auch vom US-Geheimdienst erpresst – und schon sind wir in einem Agententhriller, in dem jeder jeden betrügt, aber die Gewissheiten des Kalten Krieges vorbei sind.

„Die Möbius-Affäre“ ist ein altmodischer, elegant erzählter Spionagethriller, der, wie ein Finanzderivat, etwas zu sehr im luftleeren Raum hängt. Warum sage ich in meiner ausführlichen Besprechung.

mit Jean Dujardin, Cécile de France, Tim Roth, Émilie Dequenne, Wendell Pierce, Aleksey Gorbunov

Wiederholung: Freitag, 23. April, 02.55 Uhr (Taggenau!)

Hinweise

Rotten Tomatoes über “Die Möbius-Affäre”

Wikipedia über „Die Möbius-Affäre“ (englisch, französisch)

Meine Besprechung von Éric Rochants „Die Möbius-Affäre“ (Möbius, Frankreich 2013)


DVD-Kritik: Auch nach den letzten Wahlen aktuell: „Das ist unser Land!“

Januar 2, 2018

Als Lucas Belvaux‘ grandioser Polit-Thriller „Das ist unser Land!“ Ende August in unseren Kinos anlief schrieb ich ziemlich begeistert:

Vor wenigen Wochen, während der Präsidentschaftswahl in Frankreich, in der es Marine Le Pen (Front National) gelang, in die Stichwahl zu kommen, war Jérôme Leroys gerade auf Deutsch erschienener Roman „Der Block“ der Roman, der die gesellschaftlichen Hintergründe der Wahl im Rahmen einer fiktiven Geschichte erklären konnte. Leroy ist auch einer der Drehbuchautoren von „Das ist unser Land!“ und die Parteichefin Agnès Dorgelle und der Problemlöser Stanko, tauchen auch im Film auf. Das verwundert nicht. Auch in dem Film geht es um Rechtspopulisten, die an Macht wollen und der von Leroy erfundene „Patriotische Block“ (im Film Rassemblement National Populaire [RNP]) ist selbstverständlich die fiktionale Version der Front National.

In dem Film steht Pauline Dunez (Émilie Dequenne) im Mittelpunkt. Die alleinerziehende Mutter lebt in der Kleinstadt Hénart im strukturschwachen Norden Frankreichs. Als Krankenschwester kommt sie bei ihren Hausbesuchen herum. Sie sieht, wie die Stadt zunehmend zerfällt. Sie hört die Geschichten der Leute und sie kümmert sich nicht um die Politik. Das hat ihr Vater, ein stramm kommunistischer Gewerkschaftler, getan und er konnte den ökonomischen Abstieg der Region nicht verhindern.

Eines Tages wird sie während der Arbeit von Dr. Philippe Berthier (André Dussollier) angesprochen. Denn Pauline ist nicht nur in der Stadt bekannt, sondern auch beliebt. Die Leute vertrauen der Krankenschwester. Sie ist als Mittdreißigerin noch jung und sie sieht gut aus. Sie ist, kurz gesagt, die etwas ältere Ausgabe des Mädchens, mit dem man Pferde stehlen möchte. Sie wäre bei der anstehenden Bürgermeisterwahl das perfekte Gesicht für den „Patriotischen Block“.

Nach einem kurzen Zögern, in dem sie vom „Patriotischen Block“ umworben wurde, die Hand von Marine-Le-Pen-Lookalike Agnès Dorgelle (Catherine Jacob), der RNP-Vorsitzenden, schütteln durfte und ihr gesagt wurde, sie könne etwas verändern, erklärt sie sich bereit, zu kandidieren. Obwohl sie bislang keinerlei politische Erfahrung hat, wird sie das Gesicht der Rassisten für den anstehenden Wahlkampf.

In „Das ist unser Land!“ erzählen Leroy und Regisseur Lucas Belvaux (auch Drehbuch) anhand der Geschichte einer jungen Frau, wie Rechtspopulisten Stimmungen ausnutzen und befördern und wie sie versuchen, an die Macht zu gelangen. Da ist eine beliebte Krankenschwester das perfekte Gesicht, das nur das hübsche Gesicht für den Stimmenfang sein soll. Alles weitere erledigt die Partei, die überhaupt nicht an wirklichen Lösungen für die Betroffenen, die sie gewählt haben, interessiert ist. Aber die Partei hat genaue Vorstellungen über Paulines öffentliches Auftreten, ihre Kleiderwahl, ihre Frisur (sie soll sich die Haare blond färben) und ihren Freund. Sie hat nämlich zufällig Stanko (Guillame Gouix) getroffen. Er war (und hier sollten wir uns nicht mit Vergleichen zwischen Buch- und Film-Stanko belasten) ein Schläger für den „Patriotischen Block“, der jetzt behauptet, mit seiner Vergangenheit gebrochen zu haben. Aber die Partei betrachtet Stankos Vergangenheit für ihren Wahlkampf und hätte gerne, dass er aus Paulines Leben verschwindet.

Gleichzeitig verändert Pauline, die durchaus gefallen an ihrer neuen Rolle findet, sich und die Umwelt reagiert anders auf sie. Schließlich ist sie nicht mehr die patente Krankenschwester, sondern die Vertreterin einer rassistischen Partei.

Das ist viel Stoff für einen Spielfilm. In knapp zwei Stunden werden auch, in einem tiefen Blick in das Parteileben der Führungsschicht des Blocks, die Hintergründe der Rekrutierung und der Wahlkampagne um Pauline gezeigt. Durch die so notwendigen Pointierungen wirkt der glänzend strukturierte und durchkomponierte, niemals gehetzt wirkende Film stellenweise etwas lehrbuchhaft und überdeutlich. Trotzdem fällt Belvaux keine Urteile über seine Figuren oder missbraucht sie als politische Pappkameraden. Er erzählt seine Geschichte mit einem analytischen Blick, der nie seine Sympathie für die Menschen (aber nicht unbedingt für ihre Meinung) verhehlt. Und genau das macht seinen Film so sehenswert.

Das ist unser Land!“ ist politisch engagiertes Kino, das aufklärt und das zum Nachdenken auffordert. Denn das was in Frankreich mit dem Aufstieg der Front National passierte, kann auch in Deutschland passieren und die Methoden der Rattenfänger gleichen sich.

 

Das Bonusmaterial der DVD besteht aus dem Trailer und einem gut 25-minütigen Gespräch zwischen Lucas Belvaux und Filmjournalist Yves Alion (L’Avant-Scène Cinéma), das nach dem Kinostart des Films und vor der Wahl von Emmanuel Macron im Mai 2017 zum französischen Staatspräsidenten geführt wurde. Sie unterhalten sich über das Thema des Films, den Front National, ihre Methoden und wie sie gegen den Film polemisierten, und, immer wieder, auch über andere Filme.

Das ist unser Land! (Chez nous, Frankreich/Belgien 2017)

Regie: Lucas Belvaux

Drehbuch: Lucas Belvaux, Jérôme Leroy

mit Émilie Dequenne, André Dussollier, Guillaume Gouix, Catherine Jacob, Anne Marivin, Patrick Descamps, Charlotte Talpaert, Stéphane Caillard

DVD

Alamode Film

Bild: 2.35:1 (16:9)

Ton: Deutsch, Französisch (DD 5.1)

Untertitel: Deutsch

Bonusmaterial: Interview mit Lucas Belvaux, Trailer, Wendecover

Länge: 114 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

Moviepilot über „Das ist unser Land!“

AlloCiné über „Das ist unser Land!“

Rotten Tomatoes über „Das ist unser Land!“

Wikipedia über „Das ist unser Land!“ (englisch, französisch) und Jérôme Leroy

Meine Besprechung von Lucas Belvaux‘ „Das ist unser Land!“ (Chez nous, Frankreich/Belgien 2017)

Meine Besprechung von Jérôme Leroys „Der Block“ (Le bloc, 2011)


Neu im Kino/Buch- und Filmkritik – und ein Hinweis auf eine Lesung: „Der Block“ behauptet „Das ist unser Land!“

August 25, 2017

Vor wenigen Wochen, während der Präsidentschaftswahl in Frankreich, in der es Marine Le Pen (Front National) gelang, in die Stichwahl zu kommen, war Jérôme Leroys gerade auf Deutsch erschienener Roman „Der Block“ der Roman, der die gesellschaftlichen Hintergründe der Wahl im Rahmen einer fiktiven Geschichte erklären konnte. Leroy ist auch einer der Drehbuchautoren von „Das ist unser Land!“ und die Parteichefin Agnès Dorgelle und der Problemlöser Stanko, tauchen auch im Film auf. Das verwundert nicht. Auch in dem Film geht es um Rechtspopulisten, die an Macht wollen und der von Leroy erfundene „Patriotische Block“ (im Film Rassemblement National Populaire [RNP]) ist selbstverständlich die fiktionale Version der Front National.

In dem Film steht Pauline Dunez (Émilie Dequenne) im Mittelpunkt. Die alleinerziehende Mutter lebt in der Kleinstadt Hénart im strukturschwachen Norden Frankreichs. Als Krankenschwester kommt sie bei ihren Hausbesuchen herum. Sie sieht, wie die Stadt zunehmend zerfällt. Sie hört die Geschichten der Leute und sie kümmert sich nicht um die Politik. Das hat ihr Vater, ein stramm kommunistischer Gewerkschaftler, getan und er konnte den ökonomischen Abstieg der Region nicht verhindern.

Eines Tages wird sie während der Arbeit von Dr. Philippe Berthier (André Dussollier) angesprochen. Denn Pauline ist nicht nur in der Stadt bekannt, sondern auch beliebt. Die Leute vertrauen der Krankenschwester. Sie ist als Mittdreißigerin noch jung und sie sieht gut aus. Sie ist, kurz gesagt, die etwas ältere Ausgabe des Mädchens, mit dem man Pferde stehlen möchte. Sie wäre bei der anstehenden Bürgermeisterwahl das perfekte Gesicht für den „Patriotischen Block“.

Nach einem kurzen Zögern, in dem sie vom „Patriotischen Block“ umworben wurde, die Hand von Marine-Le-Pen-Lookalike Agnès Dorgelle (Catherine Jacob), der RNP-Vorsitzenden, schütteln durfte und ihr gesagt wurde, sie könne etwas verändern, erklärt sie sich bereit, zu kandidieren. Obwohl sie bislang keinerlei politische Erfahrung hat, wird sie das Gesicht der Rassisten für den anstehenden Wahlkampf.

In „Das ist unser Land!“ erzählen Leroy und Regisseur Lucas Belvaux (auch Drehbuch) anhand der Geschichte einer jungen Frau, wie Rechtspopulisten Stimmungen ausnutzen und befördern und wie sie versuchen, an die Macht zu gelangen. Da ist eine beliebte Krankenschwester das perfekte Gesicht, das nur das hübsche Gesicht für den Stimmenfang sein soll. Alles weitere erledigt die Partei, die überhaupt nicht an wirklichen Lösungen für die Betroffenen, die sie gewählt haben, interessiert ist. Aber die Partei hat genaue Vorstellungen über Paulines öffentliches Auftreten, ihre Kleiderwahl, ihre Frisur (sie soll sich die Haare blond färben) und ihren Freund. Sie hat nämlich zufällig Stanko (Guillame Gouix) getroffen. Er war (und hier sollten wir uns nicht mit Vergleichen zwischen Buch- und Film-Stanko belasten) ein Schläger für den „Patriotischen Block“, der jetzt behauptet, mit seiner Vergangenheit gebrochen zu haben. Aber die Partei betrachtet Stankos Vergangenheit für ihren Wahlkampf und hätte gerne, dass er aus Paulines Leben verschwindet.

Gleichzeitig verändert Pauline, die durchaus gefallen an ihrer neuen Rolle findet, sich und die Umwelt reagiert anders auf sie. Schließlich ist sie nicht mehr die patente Krankenschwester, sondern die Vertreterin einer rassistischen Partei.

Das ist viel Stoff für einen Spielfilm. In knapp zwei Stunden werden auch, in einem tiefen Blick in das Parteileben der Führungsschicht des Blocks, die Hintergründe der Rekrutierung und der Wahlkampagne um Pauline gezeigt. Durch die so notwendigen Pointierungen wirkt der glänzend strukturierte und durchkomponierte, niemals gehetzt wirkende Film stellenweise etwas lehrbuchhaft und überdeutlich. Trotzdem fällt Belvaux keine Urteile über seine Figuren oder missbraucht sie als politische Pappkameraden. Er erzählt seine Geschichte mit einem analytischen Blick, der nie seine Sympathie für die Menschen (aber nicht unbedingt für ihre Meinung) verhehlt. Und genau das macht seinen Film so sehenswert.

Das ist unser Land!“ ist politisch engagiertes Kino, das aufklärt und das zum Nachdenken auffordert. Denn das was in Frankreich mit dem Aufstieg der Front National passierte, kann auch in Deutschland passieren und die Methoden der Rattenfänger gleichen sich.

Das ist unser Land! (Chez nous, Frankreich/Belgien 2017)

Regie: Lucas Belvaux

Drehbuch: Lucas Belvaux, Jérôme Leroy

mit Émilie Dequenne, André Dussollier, Guillaume Gouix, Catherine Jacob, Anne Marivin, Patrick Descamps, Charlotte Talpaert, Stéphane Caillard

Länge: 119 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Der Roman

Bereits 2011 veröffentlichte Jérôme Leroy in Frankreich seinen mit dem Prix Michel Lebrun ausgezeichneten Roman „Der Block“. Im März erschien die deutsche Ausgabe, die auch sofort auf den ersten Platz der Krimibestenliste kam. In Besprechungen wurde ohne mit der Wimper zu Zucken eine Verbindung zwischen dem Roman und der aktuellen Wahl in Frankreich hergestellt. So als sei das Buch der Kommentar zur Wahl.

In dem Roman will der Patriotische Block Stanko, den Chef des paramilitärischen Ordnungsdienstes der Partei, ausschalten. Er könnte verhindern, dass der Block Teil der neuen Regierung wird. Stanko muss untertauchen.

In einer Nacht erinnern er und sein Freund Antoine Maynard, Ehemann der Parteivorsitzenden Agnes Dorgelle, sich in getrennten Zimmern an ihre gemeinsame Vergangenheit, die bis in die siebziger Jahre zurückreicht, und an die mit ihrem Leben untrennbar verbundene Geschichte des Patriotischen Blocks, der in den vergangenen Jahrzehnten immer einflussreicher wurde.

Der Block“ ist die literarisch kaum getarnte Biographie und Analyse der Front National. Und genau auf dieser Ebene funktioniert Leroys Noir prächtig. Als handelsüblicher Kriminalroman oder Thriller weniger.

Jérôme Leroy: Der Block

(übersetzt von Cornelia Wend, mit einem Nachwort von Jérôme Leroy zur deutschen Ausgabe)

Edition Nautilus, 2017

320 Seiten

19,90 Euro

Originalausgabe

Le bloc

Éditions Gallimard, Paris, 2011

Die Lesung

Jérôme Leroy liest am Mittwoch, den 6. September, ab 20.00 Uhr, im DTK-Wasserturm (Kopischstraße 7, Ecke Fidicinstraße, 10965 Berlin) aus „Der Block“.

Der Autor spricht und liest auf Französisch. Der deutsche Part der Lesung wird von Milton Welsh übernommen. Barbara Wahlster (Deutschlandradio Kultur) moderiert.

Karten können gekauft und reserviert werden bei der Krimibuchhandlung Hammett: info@hammett-krimis.de.

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

Moviepilot über „Das ist unser Land!“

AlloCiné über „Das ist unser Land!“

Rotten Tomatoes über „Das ist unser Land!“

Wikipedia über „Das ist unser Land!“ (englisch, französisch) und Jérôme Leroy

Blog von Jérôme Leroy

Edition Nautilus über „Der Block“ (mit den restlichen Terminen seiner Lesereise)

Perlentaucher über „Der Block“

 


TV-Tipp für den 7. September: Die Möbius-Affäre

September 7, 2015

Servus TV, 23.55
Die Möbius-Affäre (Möbius, Frankreich 2013)
Regie: Éric Rochant
Drehbuch: Éric Rochant
Der russische Top-Spion Grégory Lioubov soll in Monaco einem Oligarchen das Handwerk legen. Er hofft, über eine eine amerikanische Finanzexpertin an die benötigten Informationen zu kommen. Dummerweise wird sie auch vom US-Geheimdienst erpresst – und schon sind wir in einem Agententhriller, in dem jeder jeden betrügt, aber die Gewissheiten des Kalten Krieges vorbei sind.
„Die Möbius-Affäre“ ist ein altmodischer, elegant erzählter Spionagethriller, der, wie ein Finanzderivat, etwas zu sehr im luftleeren Raum hängt. Warum sage ich in meiner ausführlichen Besprechung.
mit Jean Dujardin, Cécile de France, Tim Roth, Émilie Dequenne, Wendell Pierce, Aleksey Gorbunov

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

Film-Zeit über „Die Möbius-Affäre“

Rotten Tomatoes über “Die Möbius-Affäre”

Wikipedia über „Die Möbius-Affäre“ (englisch, französisch)

Meine Besprechung von Éric Rochants „Die Möbius-Affäre“ (Möbius, Frankreich 2013)


TV-Tipp für den 20. Mai: Rosetta

Mai 20, 2015

Arte, 20.15
Rosetta (Belgien/Frankreich 1999, Regie: Luc Dardenne, Jean-Pierre Dardenne)
Drehbuch: Luc Dardenne, Jean-Pierre Dardenne
Die junge Rosetta sucht eine Arbeitsstelle. Aber niemand will sie einstellen.
Ein älteres, gewohnt sehenswertes und sozialkritisches Werk der Dardenne-Brüder, deren letzter Film „Zwei Tage, eine Nacht“ überall abgefeiert wurde.
In Cannes erhielt der Film die Goldene Palme und die Hauptdarstellerin wurde als beste Schauspielerin ausgezeichnet.
„Ein Film wie ‚Rosetta‘ rechtfertigt das Überleben des Kinos.“ (Alexander Horwath, Die Zeit, 3. Mai 2001)
In Belgien war der Film so erfolgreich, dass eine politische Maßnahme gegen die Jugendarbeitslosigkeit „Rosetta-Plan“ genannt wurde. Bei uns kam der Film erst 2001 in die Kinos.
Im Anschluss, um 21.45 Uhr, läuft die brandneue, gut einstündige Doku „Es war einmal…Rosetta“ über den Film.
mit Emilie Dequenne, Fabrizio Rongione, Anne Yernaux, Olivier Gourmet
Hinweise
Arte über „Rosetta“
Rotten Tomatoes über „Rosetta“
Wikipedia über „Rosetta“ (deutsch, englisch)
Meine Besprechung von Luc und Jean-Pierre Dardennes „Zwei Tage, eine Nacht“ (Deux Jours, Une Nuit, Belgien/Frankreich/Italien 2014)


Neu im Kino/Filmkritik: „Die Möbius-Affäre“ oder Doppelbödig ist das Agentenleben

August 1, 2013

Er war „OSS 117 – Der Spion, der sich liebte“. Er war, Oscar-prämiert, George Valentin, „The Artist“. Jetzt ist Jean Dujardin Grégory Lioubov in Éric Rochants ziemlich gelungenem, romantischen Polit-Thriller „Die Möbius-Affäre“.

Der russische Top-Spion Lioubov soll in Monaco mit seinem undercover operierendem Team den Oligarchen Ivan Rostovski (Tim Roth) überführen. Dieser hat sein Vermögen wohl irgendwie mit krummen Geschäften erzielt und ist immer noch in mehr oder weniger illegale Geschäfte verwickelt. So genau wird das in dem Film nie erklärt.

Lioubov will über die US-amerikanische Finanzexpertin Alice Redmond (Cécile de France) an Rostovski herankommen. Er weiß allerdings nicht, dass Alice auch vom US-amerikanischen Geheimdienst erpresst wird, weil dieser ebenfalls an Rostovski heran will. Und, als ob das nicht schon kompliziert genug wäre, spielt sie ihr eigenes Spiel, Rostovski lässt sie sein Wohlwollen spüren und Lioubov verliebt sich in sie und sie in ihn, den sie unter falscher Identität kennen lernt.

Die Möbius-Affäre“ ist ein eleganter, vor prächtiger Kulisse spielender Agententhriller, in dem alle Charaktere immer auch eine zweite Agenda verfolgen, es daher immer unklar ist, wie echt ihre Gefühle sind und ob sie zu den Guten oder zu den Bösen gehören. Es ist auch ein Liebesfilm. Regisseur und Drehbuchautor Rochant nennt Alfred Hitchcocks „Berüchtigt“/“Weißes Gift“ (Notorious, 1946) als Vorbild. Das ist nachvollziehbar und, auch wenn „Berüchtigt“ ein Hitchcock-Klassiker ist, hat er mir nie so richtig gefallen. Die Geschichte entwickelte sich zu langsam und die Liebesgeschichte verdrängte die verbrecherischen Geschäfte des Bösewichts, was man auch daran sieht, dass Claude Rains im Original einen Nazi, der andere Nazis in Brasilien versteckt, und in der ursprünglichen deutschen Synchronfassung (die als „Weißes Gift“ in die Kinos kam) einen Drogenhändler spielte. In dieser Fassung wurden auch alle Anspielungen auf Deutschland und die bösen Nazis entfernt.

Außerdem ist „Die Möbius-Affäre“ auch ein Finanzthriller. Oder will es sein. Denn genau wie in dem romantischen Thriller „Berüchtigt“ bleiben die verbrecherischen Geschäfte des Bösewichts im Ungefähren. Es hat irgendwie etwas mit Geld zu tun. Über Geldwäsche, spekulative Investitionen und den internationalen Finanzmarkt erfahren wir nichts, was nicht über einen MacGuffin hinausgeht. Das kann funktionieren, wenn die restliche Geschichte sich flott entwickelt. Es genug Action gibt, die von lästigen Fragen ablenkt. Und die Charaktere farbig und der Bösewicht hübsch dämonisch gezeichnet wurden. Hitchcock hat das verstanden und deshalb waren uns die mehr oder weniger elaborierten Geheimdienstplots egal, weil sie, wie in „39 Stufen“, „Der Mann, der zuviel wusste“ oder „Der unsichtbare Dritte“ nur dazu dienten, die Handlung in Gang zu setzen.

Doch gerade an Tempo mangelt es Rochants Film und die Geheimdienstintrigen werden, wie bei John le Carré, immer komplizierter und es wird immer deutlicher, dass die sich im Hintergrund befindenden Spieler, vulgo die Geheimdienstchefs in den USA und Russland, alle anderen, wie Spielfiguren, über ihr Schachbrett bewegen. Aber die alten Gewissheiten des Kalten Krieges sind vorbei und in „Die Möbius-Affäre“ befinden sich alle Charaktere in moralischen Graubereichen, in denen unklar ist, wer die Guten und wer die Bösen sind.

Das hat einen durchaus intellektuellen Reiz, aber ich hatte bei dem Film auch immer das Gefühl, dass mehr drin gewesen wäre. Denn im Gegensatz zur guten alten Zeit des Spionagefilms, in der man mit dem einfachen Hinweis, dass der Bösewicht ein Kommunist sei, alles erklärte, muss jetzt doch etwas mehr Energie in die Etablierung des Bösewichts gesteckt werden und wenn es um schmutzige Finanzgeschäfte geht, sollten die auch etwas genauer erklärt werden.

Aber so bleibt nur ein altmodischer, elegant erzählter Spionagethriller übrig, der, wie ein Finanzderivat, etwas zu sehr im luftleeren Raum hängt.

Die Möbius-Affäre - Plakat

Die Möbius-Affäre (Möbius, Frankreich 2013)

Regie: Éric Rochant

Drehbuch: Éric Rochant

mit Jean Dujardin, Cécile de France, Tim Roth, Émilie Dequenne, Wendell Pierce, Aleksey Gorbunov

Länge: 108 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

Film-Zeit über „Die Möbius-Affäre“

Rotten Tomatoes über „Die Möbius-Affäre“

Wikipedia über „Die Möbius-Affäre“ (englisch, französisch)


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