Christian Petzolds in die Gegenwart verlegte Interpretation des Undine-Mythos. Das ist gewohnt durchdacht und gut inszeniert. Trotzdem spricht „Undine“ mich weniger an als Christian Petzolds andere Filme.
Christian Petzold erzählt von vier jungen Menschen, die an der Ostsee in einem abgelegenem Ferienhaus einige Tage gemeinsam verbringen, prokrastinieren, reden und sich verlieben.
Definitv nicht sein bester Film. Aber das ist Jammern auf ziemlich hohem Niveau.
Auf der Berlinale gab es für seinen Sommerfilm viel Kritkerlob und den Silbernen Bären.
Filmregisseur Tomas (Franz Rogowski) lebt seit fünfzehn Jahren mit Martin (Ben Whishaw) zusammen. Eines Tages beginnt Tomas mit Agathe (Adéle Exarchopoulos) eine Affäre – und schon beginnt das Liebesdrama.
TV-Premiere. Stellvertretend für die vielen euphorischen Besprechungen: „überzeugend gespieltes Drama über den schmalen Grat zwischen Freiheitsdrang und Egoismus“ (Lexikon des Internationalen Films)
Mit Franz Rogowski, Ben Whishaw, Adéle Exarchopoulos, Erwan Kepoa Falé, Arcadi Radeff
Die zwölfjährige Bailey (Nykiya Adams) lebt bei ihrem nur einige Jahre älteren Vater Bug (Barry Keoghan) in Kent in einem besetzten Haus. Bug ist selbst noch ein Kind. Auf den ersten Blick wirkt er wie der etwas ältere coole Bruder, der seine kleine Schwester mitnimmt. Er verbringt seine Zeit mit spinnerten Geschäftsideen, plant seine Hochzeit mit einer Frau, die er erst seit einigen Tagen kennt und konsumiert Drogen. Als Erzieher im auch nur halbwegs traditionellem Sinn ist er ein Totalausfall. Das Gleiche gilt für Baileys Mutter.
Also streift Bailey durch die Stadt. Eines Tages trifft sie auf Bird (Franz Rogowski), einer auch für die Gegend seltsamen Mischung aus schüchternem Sonderling und harmlosen Menschenfreund, der anscheinend vom Himmel gefallen ist.
„Bird“, Andrea Arnolds neuer Spielfilm, ist eine musikalisch stimmig untermalte Charakterstudie zwischen Sozialdrama und Poesie. Etwas Magischen Realismus gibt es auch. Dabei präsentiert sie das Leben ihrer Figuren offen, ehrlich, ohne Scheuklappen, aber auch mit spürbarer Sympathie für sie. Nie verurteilt sie sie.
Damit fügt sich ihr neuester Film nahtlos an ihre früheren Kinospielfilme „Fish Tank“ (2009) und „American Honey“ (2016) an, mit denen sie ihren Ruf als eine der wichtigen Stimmen des zeitgenössischen britischen Kinos begründete.
Neben diesen drei Spielfilmen drehte sie in den vergangenen fünfzehn Jahren außerdem ein ziemlich unbekanntes Historiendrama („Wuthering Heights – Emily Brontës ‚Sturmhöhe’“, 2011), den Dokumentarfilm „Cow“ (über das Leben einer Milchkuh) und mehrere Episoden für TV-Serien.
Bird(Bird, Großbritannien 2024)
Regie: Andrea Arnold
Drehbuch: Andrea Arnold
mit Nykiya Adams, Barry Keoghan, Franz Rogowski, Jason Buda, Jasmine Jobson, Frankie Box
Ein verborgenes Leben (A hidden life, Deutschland/USA 2019)
Regie: Terrence Malick
Drehbuch: Terrence Malick
TV-Premiere. Malicks meditatives Biopic über Franz Jägerstätter, einen in Oberösterreich lebenden tiefgläubigen Bauern, der 1939 den Treueeid auf Adolf Hitler und irgendeine Teilnahme am Krieg verweigert, ist sein bester und zugänglichster Film seit „Der schmale Grat“ (The thin red Line).
mit August Diehl, Valerie Pachner, Maria Simon, Karin Neuhäuser, Tobias Moretti, Ulrich Matthes, Matthias Schoenaerts, Franz Rogowski, Karl Markovics, Bruno Ganz, Michael Nyqvist, Martin Wuttke, Sophie Rois, Alexander Fehling, Joel Basman, Jürgen Prochnow
Georg Seidler will aus Europa nach Mexiko flüchten. In Marseille wartet er auf das rettende Transitvisum und trifft auf die Frau des Mannes, dessen Identität er angenommen hat.
Christian Petzold verlegt Anna Seghers während des Zweiten Weltkriegs spielenden Roman in die Gegenwart. Mit einem sehr überzeugendem Ergebnis.
mit Franz Rogowski, Paula Beer, Godehard Giese, Lilien Batman, Maryam Zaree, Barbara Auer, Matthias Brandt, Sebastian Hülk, Antoine Oppenheim, Ronald Kukulies, Justus von Dohnányi, Alex Brendemühl, Trystan Pütter
–
Die lesenswerte Vorlage
ist in verschiedenen Ausgaben erhältlich, u. a.
Anna Seghers: Transit
Aufbau Taschenbuch, 2018
416 Seiten
12 Euro
–
Der Roman erschien zuerst 1944 in den USA auf englisch, anschließend in Mexiko auf spanisch und 1947 auf deutsch als Fortsetzungsroman in der Berliner Zeitung.
Spätere deutsche Veröffentlichungen bearbeiteten den Text.
Erst 2001 erschien im Rahmen der Werkausgabe die erste authentische deutsche Buchausgabe.
TV-Premiere. Für den Homosexuellen Hans Hoffmann ist 1945 die Befreiung aus dem KZ nicht der Tag der Befreiung, sondern der Weg ins nächste Gefängnis. In den kommenden 25 Jahren verbringt Hans, weil er seine Homosexualität im einvernehmlichen Sex mit anderen Männern ausleben will, mit Unterbrechungen, einen großen Teil seines Lebens im Gefängnis. Dabei entwickelt sich im Gefängnis eine Freundschaft mit dem lebenslänglich verurteiltem Mörder Viktor, der zuerst nichts mit dem 175er zu tun haben will.
Der Strafgesetzparagraph 175, der Homosexualität unter Strafe stellte, wurde in Westdeutschland 1969 entschärft und 1994 gestrichen.
Sehenswertes, top gespieltes kammerspielartiges Drama mit kleinen Schwächen.
TV-Premiere. Christian Petzolds in die Gegenwart verlegte Interpretation des Undine-Mythos. Das ist gewohnt durchdacht und gut inszeniert. Trotzdem spricht „Undine“ mich weniger an als Christian Petzolds andere Filme.
Bitterböses Porträt einer Bauunternehmerfamilie, in der der Patriarch sich umbringen will, die Tochter die Geschäfte führt, der Sohn fremdgeht und ihre Kinder sich so überhaupt nicht für die Firmennachfolge empfehlen.
Böswillig gesagt ist „Happy End“ ein Haneke Best-of. Schlecht ist das nicht, aber halt nicht so wahnsinnig innovativ und nicht so grandios, wie seine besten Werke.
„Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt“ konstatierte Rosa von Praunheim 1971. Und weil das auch der Titel von seinem damals entstandenem, dokumentarischem Spielfilm ist, konnte Sebastian Meise ihn für seinen sehenswerten Film nicht verwenden. Dabei wäre er auch eine gute Beschreibung seiner Geschichte. In Meises Drama geht es um den Homosexuellen Hans Hoffmann, der zwischen 1945, nachdem die Allierten ihn aus dem KZ befreien und er wegen seiner Homosexualität sofort in das nächste Gefängnis gesteckt wird, und 1968, dem Jahr seiner letzten Verurteilung, immer wieder im Gefängnis landet. Sein Verbrechen ist seine sexuelle Orientierung, die er auslebt. Er ist, wie gesagt, homosexuell. Und das, also auch freiwilige Geschlechtsverkehr mit anderen Männern, war bis 1969 aufgrund des Paragraphen 175 Strafgesetzbuch eine Straftat. Damals wurde die Strafbarkeit für homosexuelle Handlungen zwischen Männern über 21 Jahre abgeschafft.
Davor hielten Homosexuelle, aufgrund der berechtigten Angst vor Repressionen, ihre sexuelle Orientierung geheim. Die Hochphase dieser Verfolgung Homosexueller in der Bundesrepublik war in den fünfziger und sechziger Jahren. Jedes Jahr wurden deutlich über 1000, meistens deutlich über 2000 Männer verurteilt. Der Höchststand war 1959 mit über 3800 Verurtelungen. Die Jahre davor und danach nur unwesentlich weniger. Insgesamt wurden im Nachkriegsdeutschland zwischen 1950 und 1970 ungefähr 50.000 Männer wegen des Verstoßes gegen den § 175 verurteilt. Möglich waren Urteile von bis zu zehn Jahren Zuchthaus.
Das ist der reale Hintergrund, vor dem sich die Geschichte von Hans und Viktor entfaltet. Viktor ist ein lebenslänglich verurteilter Mörder. Als er erfährt, dass sein neuer Zellennachbar ein 175er sein soll, protestiert er. Erfolglos. Er muss seine Zelle mit Hans teilen.
Aus dem brüchigen Verständnis, das sie in den folgenden Wochen entwickeln, wird über die nächsten Jahre, die zu Jahrzehnten werden, eine Freundschaft. Denn Hans wird immer wieder aufgrund des § 175 verurteilt.
Regisseur Sebastian Meise und sein Co-Drehbuchautor Thomas Reider konzentrieren sich in ihrem Kammerspiel „Große Freiheit“ auf Hans Hoffmann (Franz Rogowski) und Viktor (Georg Friedrich) und wie sich aus anfänglicher Abneigung Vertrauen und Freundschaft entwickeln. Dabei erfahren wir wenig bis nichts über den von Viktor verübten Mord, über die Umstände, unter denen Hans seine Straftaten begangen hat und warum es ihm nicht gelingt, ein Leben zu führen, bei dem er zwar weiter Sex mit Männern haben kann, er aber nicht mit der Justiz in Konflikt gerät. Diese Konzentration auf Hans und Viktor ist die Stärke und auch eine der Schwächen des Films.
Ein weiteres Problem des Films ist, dass die Geschichte sich über 25 Jahre entfaltet, aber die beiden Hauptfiguren nicht altern. Es ist, als habe das Gefängnis einen Jungbrunneneffekt auf die beiden Raucher. Das Gegenteil dürfte der Wahrheit entsprechen.
Über das Ende, also wenn die titelgebende ‚große Freiheit‘ endlich da ist, Hans deswegen um 1970 entlassen wird und sie endlich genießen kann, müssen wir gesondert sprechen. Auch wenn absolut nichts gegen einen Auftritt von Free Jazzer Peter Brötzmann, der hier in einer Schwulenkneipe erwartbar kraftvoll losrotzt, zu sagen ist.
Neben Brotzmann ist Trompeter Nils Petter Molvær für die Filmmusik verantwortlich. Als Jazzfan bin ich darüber, auch wenn die Musik, bis auf das Free-Jazz-Konzert am Filmende, unauffällig ist, sehr erfreut.
P. S.: Endgültig gestrichen wurde der § 175 1994.
Große Freiheit (Deutschland/Österreich 2021)
Regie: Sebastian Meise
Drehbuch: Thomas Reider, Sebastian Meise
mit Franz Rogowski, Georg Friedrich, Anton von Lucke, Thomas Prenn
Drehbuch: Sebastian Schipper, Olivia Neergaard-Holm, Eike Frederik Schulz
Eine Nacht in Berlin: vier Jungs treffen eine Spanierin. Sie zeigen ihr ihren Kiez, reden mit ihr, nehmen sie zu einem Banküberüberfall mit, der schiefgeht und müssen flüchten.
Inzwischen dürfte der große Clou von Schippers Film bekannt sein: er drehte die über zweistündige Liebes- und Gangstergeschichte ohne einen einzigen Schnitt.
Dafür hat Kameramann Sturla Brandth Grøvlen, der mit der schweren Kamera die Protagonisten an all die Orte begleiten musste, ein Extra-Lob verdient.
Mit dem Känguru verabschiedete das Kino sich in die Corona-Auszeit. Mit Undine wird diese Zwangspause, unter Einhaltung der Abstandsregeln, beendet und wenn die Infektionszahlen in Deutschland so bleiben, wie sie im Moment sind, können die Kinos in den kommenden Wochen und Monaten geöffnet bleiben. Möglicherweise werden die Regeln demnächst sogar gelockert und Kinos (und auch Theater und bestuhlte Konzertsäle) nähern sich langsam wieder einem normaleren Betrieb. Denn die aktuellen Abstandsregeln hier in Berlin – jede zweite Reihe bleibt leer, zwischen den Gästen sind immer mindestens zwei Plätze frei – ermöglichen keinen gewinnbringenden, sondern, sogar unter den allergünstigsten Bedingungen nur einen nicht zu verlustreichen Betrieb. Aktuell rechnen alle Kinobetreiber, die sich in den Medien äußerten und mit denen ich mich unterhalten habe, mit einer Höchstauslastung zwischen zwanzig und dreißig Prozent. Wenn in der Hauptstadt der Singles für eine Vorstellung nur abstandsbewusste Singles Eintrittskarten kaufen, sitzen natürlich noch weniger zahlende Zuschauer im Kino.
In diesem Umfeld startet Christian Petzolds neuer Film „Undine“, in dem er den Mythos der Wasserfrau Undine in die Gegenwart und, jedenfalls zu einem großen Teil, nach Berlin, einer Stadt mit einem sehr feuchten Untergrund und vielen Flüssen, verlegt.
Petzolds Undine (Paula Beer) ist eine typische junge Großstadtfrau. Sie lebt allein in einem anonymen Apartment und erklärt als Stadthistorikerin (per Honorarvertrag) in der Senatsstelle für Stadtentwicklung an Miniaturmodellen Berlin-Besuchern die Baugeschichte Berlins. Ihrem letzten Freund hat sie gerade, nachdem er sie für eine andere Frau verlassen hat, Himmel und Hölle an den Hals gewünscht.
Kurz darauf trifft sie den Industrietaucher Christoph (Franz Rogowski), ein riesiges Aquarium in einem Restaurant zerbirst und die altbekannte Geschichte von Undine beschreitet über und unter Wasser zwischen Berlin und einem Staudamm in der Nähe von Köln neue Wege. In dem Stausee soll auch ein riesiger Wels leben, der sich in einem der gefluteten Gebäude und Höhlen versteckt.
Auf der Berlinale wurde „Undine“ abgefeiert. Paula Beer erhielt für ihr Spiel einen Silbernen Bären. Und „Undine“ hat auch alles, was man von einem Petzold-Film erwarten kann. Das Drehbuch verknüpft geschickt mehrere Bedeutungsebenen und Interpretationsfolien miteinander. In diesem Fall trifft die mythische Welt des Märchens auf den prosaischen Großstadtalltag der Twenty/Thirty-Somethings.
Undine ist in der Mythologie die Wasserfrau, die zum Mann kommt, der unglücklich verliebt ist. Sobald der Mann sie verrät, muss er sterben. Er ertrinkt in einer Wasserblase. Und Undine muss zurück ins Wasser. Petzold ließ sich bei seiner Interpretation des Undine-Mythos von Peter von Matts „Liebesverrat“ (in dem es ein Kapitel über den Undine-Mythos gibt) und Ingeborg Bachmanns Erzählung „Undine geht“ inspirieren. Bachmann erzählt in ihrer Neuinterpretation die Geschichte von Undine aus Undines Sicht und bei Bachmann sind die Männer niemals treu, weil sie sich nur selber lieben. Petzolds Undine versucht ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen. Sie will nicht wieder zurück in das Wasser.
Im Film gibt es klug platzierte Zitate. Schließlich ist Petzold ein stilbewusster Regisseur, der die Filmgeschichte kennt. Die Schauspieler sind gewohnt gut. Die Inszenierung ebenso. Da gibt es nichts zu mäkeln.
Aber mich hat die Geschichte von Undine vollkommen kalt und desinteressiert zurückgelassen. Das Liebesdrama berührte mich nicht. Weder im Positiven, noch im Negativen – und dabei haben mir Petzolds frühere Filme ausnahmslos gut gefallen.
Das ändert nichts daran, dass „Undine“ sehenswert ist. Es ist halt nur kein Film für mich.
Auch beim zweiten Sehen ändert sich an dieser Einschätzung nichts. „Undine“ ist unbestritten gut gemacht und absolut sehenswert. Aber emotional packt mich Christian Petzolds neuer Film immer noch nicht richtig. Ich kann einfach mit der für den Film essentiell wichtigen Welt deutscher Märchen, Mythen und Sagen wenig anfangen.
Das Bonusmaterial ist knapp, aber sehr informativ. Das sechzehnseitige Booklet enthält ein ausführliches Interview mit Christian Petzold und zwei Seiten über den Undine-Mythos. In der halbstündigen Berlinale-Pressekonferenz spricht Petzold ausführlich über die verschiedenen Aspekte des Films.
Vor einer Woche wurden die Nominierungen für den Europäischen Filmpreis verkündet. „Undine“ ist als „Bester Film“ und Paula Beer als „Beste Darstellerin“ nominiert. Der Preis wird zwischen dem 8. und 12. Dezember 2020 verliehen. Die ursprünglich in Island geplante Gala zur Preisverleihung entfällt aus offensichtlichen Corona-Gründen.
Undine (Deutschland/Frankreich 2020)
Regie: Christian Petzold
Drehbuch: Christian Petzold
mit Paula Beer, Franz Rogowski, Maryam Zaree, Jacob Matschenz, Anne Ratte-Polle, Rafael Stachowiak
Georg Seidler will aus Europa nach Mexiko flüchten. In Marseille wartet er auf das rettende Transitvisum und trifft auf die Frau des Mannes, dessen Identität er angenommen hat.
TV-Premiere. Christian Petzold verlegt Anna Seghers während des Zweiten Weltkriegs spielenden Roman in die Gegenwart. Mit einem sehr überzeugendem Ergebnis.
mit Franz Rogowski, Paula Beer, Godehard Giese, Lilien Batman, Maryam Zaree, Barbara Auer, Matthias Brandt, Sebastian Hülk, Antoine Oppenheim, Ronald Kukulies, Justus von Dohnányi, Alex Brendemühl, Trystan Pütter
–
Die lesenswerte Vorlage
ist in verschiedenen Ausgaben erhältlich, u. a.
Anna Seghers: Transit
Aufbau Taschenbuch, 2018
416 Seiten
12 Euro
–
Der Roman erschien zuerst 1944 in den USA auf englisch, anschließend in Mexiko auf spanisch und 1947 auf deutsch als Fortsetzungsroman in der Berliner Zeitung.
Spätere deutsche Veröffentlichungen bearbeiteten den Text.
Erst 2001 erschien im Rahmen der Werkausgabe die erste authentische deutsche Buchausgabe.
Seit einigen Tagen kann Christian Petzolds neuer Film „Undine“ online bei den einschlägigen Plattformen gekauft werden. Am 19. November veröffentlicht Piffl Medien/good!movies den Film als Stream, DVD- und Blu-ray.
Die gebürtige Mongolin Wessi lebt seit Ewigkeiten in Deutschland. Ihre frühere Heimat ist ihr inzwischen so fern, dass ihr dominanter Mann Franz sogar glaubt, dass Wessis Gerede von ihrer Schwester nur Gerede sei. Aber eines Tages hat Wessi genug von Franz. Sie packt ihre Tasche und fliegt in die Mongolei zu ihrer Schwester Ossi.
Ossi lebt noch das traditionelle, harte Mongolenleben mitten in der menschenleeren Steppe, in der es deutlich mehr Tiere als Menschen gibt.
Es ist ein Leben, zu dem Wessi keine Verbindung mehr hat. Auch ihre Schwester kennt sie eigentlich nur aus Erinnerungen.
Das Selbstfindungsdrama „Schwarze Milch“ wird vom Verleih „semibiographisch“ genannt. Regisseurin, Drehbuchautorin und Hauptdarstellerin Uisenma Borchu (sie spielt Wessi) kam als Kind aus der Mongolei in die damals noch existierende DDR. „Ich bin mongolisch und bin in den Jahren auch deutsch geworden. Damit beginnt für mich eine wahnsinnig interessante Kollision zweier Kulturen. Ob ich es wollte oder nicht, diese Kollision hat bisher mein Leben bestimmt“, sagt Borchu.
Gut dreißig Tage drehte sie in der Mongolei in der Wüste Gobi und einige Tage in der Hauptstadt Ulaanbaatar mit vielen Laiendarstellern, die sie teilweise schon länger kennt.
Es gibt viele semidokumentarische Aufnahmen vom harten Leben der Mongolen, inclusive einer Schlachtung (Keine Panik. Es war eine professionelle Schlachtung.). Es gibt etwas Sex in der Jurte. Es gibt Bilder, die auch in einem Softporno nicht weiter auffielen. Es gibt, selbstverständlich, etwas Streit zwischen den beiden Schwestern, die sich seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen haben. Und Wessi verstößt, unwissentlich, gegen hehre Traditionen.
Nur fehlt die leitende, die Szenen und Ereignisse zusammenhaltende Frage und die damit verbundene emotionale Reise. Die Szenen reihen sich aneinander, ohne dass erkennbar ist, warum sie in dieser und nicht in irgendeiner anderen Abfolge gezeigt werden und wie sie Wessis in irgendeiner Weise näher an ihr Ziel bringen. Auch weil unklar ist, was sie sich genau von ihrer Reise zu ihrer Schwester erhofft.
Es ist halt einfach unklar, worum es in diesem weiblichen Selbstfindungsdrama gehen soll.
Aber vielleicht fehlt mir im Moment einfach die Sensibilität für weibliche Selbstfindungsdramen und ich bin mit harmlos-herzigen Komödien wie „Master Cheng in Pohjanjoki“ (läuft nächsten Donnerstag an) besser bedient.
Schwarze Milch (Khar Suu, Deutschland 2020)
Regie: Uisenma Borchu
Drehbuch: Uisenma Borchu
mit Uisenma Borchu, Gunsmaa Tsogzol, Terbish Demberel, Franz Rogowski, Borchu Bawaa, Bud-Ochir Tegshee, Bayarsaikhan Renchinjugder
Mit dem Känguru verabschiedete das Kino sich in die Corona-Auszeit. Mit Undine wird diese Zwangspause, unter Einhaltung der Abstandsregeln, beendet und wenn die Infektionszahlen in Deutschland so bleiben, wie sie im Moment sind, können die Kinos in den kommenden Wochen und Monaten geöffnet bleiben. Möglicherweise werden die Regeln demnächst sogar gelockert und Kinos (und auch Theater und bestuhlte Konzertsäle) nähern sich langsam wieder einem normaleren Betrieb. Denn die aktuellen Abstandsregeln hier in Berlin – jede zweite Reihe bleibt leer, zwischen den Gästen sind immer mindestens zwei Plätze frei – ermöglichen keinen gewinnbringenden, sondern, sogar unter den allergünstigsten Bedingungen nur einen nicht zu verlustreichen Betrieb. Aktuell rechnen alle Kinobetreiber, die sich in den Medien äußerten und mit denen ich mich unterhalten habe, mit einer Höchstauslastung zwischen zwanzig und dreißig Prozent. Wenn in der Hauptstadt der Singles für eine Vorstellung nur abstandsbewusste Singles Eintrittskarten kaufen, sitzen natürlich noch weniger zahlende Zuschauer im Kino.
In diesem Umfeld startet Christian Petzolds neuer Film „Undine“, in dem er den Mythos der Wasserfrau Undine in die Gegenwart und, jedenfalls zu einem großen Teil, nach Berlin, einer Stadt mit einem sehr feuchten Untergrund und vielen Flüssen, verlegt.
Petzolds Undine (Paula Beer) ist eine typische junge Großstadtfrau. Sie lebt allein in einem anonymen Apartment und erklärt als Stadthistorikerin (per Honorarvertrag) in der Senatsstelle für Stadtentwicklung an Miniaturmodellen Berlin-Besuchern die Baugeschichte Berlins. Ihrem letzten Freund hat sie gerade, nachdem er sie für eine andere Frau verlassen hat, Himmel und Hölle an den Hals gewünscht.
Kurz darauf trifft sie den Industrietaucher Christoph (Franz Rogowski), ein riesiges Aquarium in einem Restaurant zerbirst und die altbekannte Geschichte von Undine beschreitet über und unter Wasser zwischen Berlin und einem Staudamm in der Nähe von Köln neue Wege. In dem Stausee soll auch ein riesiger Wels leben, der sich in einem der gefluteten Gebäude und Höhlen versteckt.
Auf der Berlinale wurde „Undine“ abgefeiert. Paula Beer erhielt für ihr Spiel einen Silbernen Bären. Und „Undine“ hat auch alles, was man von einem Petzold-Film erwarten kann. Das Drehbuch verknüpft geschickt mehrere Bedeutungsebenen und Interpretationsfolien miteinander. In diesem Fall trifft die mythische Welt des Märchens auf den prosaischen Großstadtalltag der Twenty/Thirty-Somethings.
Undine ist in der Mythologie die Wasserfrau, die zum Mann kommt, der unglücklich verliebt ist. Sobald der Mann sie verrät, muss er sterben. Er ertrinkt in einer Wasserblase. Und Undine muss zurück ins Wasser. Petzold ließ sich bei seiner Interpretation des Undine-Mythos von Peter von Matts „Liebesverrat“ (in dem es ein Kapitel über den Undine-Mythos gibt) und Ingeborg Bachmanns Erzählung „Undine geht“ inspirieren. Bachmann erzählt in ihrer Neuinterpretation die Geschichte von Undine aus Undines Sicht und bei Bachmann sind die Männer niemals treu, weil sie sich nur selber lieben. Petzolds Undine versucht ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen. Sie will nicht wieder zurück in das Wasser.
Im Film gibt es klug platzierte Zitate. Schließlich ist Petzold ein stilbewusster Regisseur, der die Filmgeschichte kennt. Die Schauspieler sind gewohnt gut. Die Inszenierung ebenso. Da gibt es nichts zu mäkeln.
Aber mich hat die Geschichte von Undine vollkommen kalt und desinteressiert zurückgelassen. Das Liebesdrama berührte mich nicht. Weder im Positiven, noch im Negativen – und dabei haben mir Petzolds frühere Filme ausnahmslos gut gefallen.
Das ändert nichts daran, dass „Undine“ sehenswert ist. Es ist halt nur kein Film für mich.
Undine(Deutschland/Frankreich 2020)
Regie: Christian Petzold
Drehbuch: Christian Petzold
mit Paula Beer, Franz Rogowski, Maryam Zaree, Jacob Matschenz, Anne Ratte-Polle, Rafael Stachowiak
Bitterböses Porträt einer Bauunternehmerfamilie, in der der Patriarch sich umbringen will, die Tochter die Geschäfte führt, der Sohn fremdgeht und ihre Kinder sich so überhaupt nicht für die Firmennachfolge empfehlen.
Böswillig gesagt ist „Happy End“ ein Haneke Best-of. Schlecht ist das nicht, aber halt nicht so wahnsinnig innovativ und nicht so grandios, wie seine besten Werke.
Schon vor über einem Jahr erschienen und mit deutlich über eintausendreihundert Seiten kein leichtes Buch: „Die Drehbücher“ von Michael Haneke. Es enthält die Drehbücher der Kinofilme von Michael Haneke. Das sind „Der siebente Kontinent“ (1989), „Benny’s Video“ (1992), „71 Fragmente einer Chronologie des Zufalls“ (1994), „Der Kopf des Mohren“ (1995, verfilmt von Paulus Manker), „Funny Games“ (1997, US-Remake 2008), „Code: Unbekannt“ (2000), „Die Klavierspielerin“ (2001), „Wolfzeit“ (2003), „Caché“ (2005), „Das weiße Band“ (2009), „Liebe“ (2012), „Flashmob“ (noch nicht verfilmt) und „Happy End“ (2017).
Drehbuch: Sebastian Schipper, Olivia Neergaard-Holm, Eike Frederik Schulz
Eine Nacht in Berlin: vier Jungs treffen eine Spanierin. Sie zeigen ihr ihren Kiez, reden mit ihr, nehmen sie zu einem Banküberüberfall mit, der schiefgeht und müssen flüchten.
Inzwischen dürfte der große Clou von Schippers Film bekannt sein: er drehte die Liebes- und Gangstergeschichte ohne einen einzigen Schnitt.
Dafür hat Kameramann Sturla Brandth Grøvlen, der mit der schweren Kamera die Protagonisten an all die Orte begleiten musste, ein Extra-Lob verdient.
Nachdem die letzten Filme von Terrence Malick immer esoterisch-religiös verschwurbelter wurden und sie nur noch für einen immer kleineren Kreis restlos Überzeugter genießbar sind, waren meine Erwartungen an seinen neuen Film denkbar gering. Auch wenn es hieß, dass „Ein verborgenes Leben“ wieder traditioneller erzählt sei. Malick erzählt die wahre Geschichte von Franz Jägerstätter, einem österreichischen Bauern, der 2007 von der römisch-katholischen Kirche zum Seligen ernannt wurde. Er verweigerte den Kriegsdienst. Dafür wurde er wegen Wehrkraftzersetzung am 9. August 1943 im Zuchthaus Brandenburg hingerichtet.
Das klingt, angesichts von Malicks vorherigen Filmen „The Tree of Life“, „To the Wonder“, „Knight of Cups“ und „Song to Song“, schon auf dem Papier nach einem denkbar ungenießbarem religiösen Traktat. Und das war wahrscheinlich auch genau das, was Terrence Malick vor und während der Dreharbeiten, die im Sommer 2016 waren, plante. Aber irgendwann während des Schnitts scheint sich seine Einstellung zum Glauben zu einer wesentlich distanzierteren, möglicherweise sogar atheistischen Position verändert zu haben.
So ist „Ein verborgenes Leben“ jetzt ein Film über einen zutiefst religiösen Menschen, der sich weigert, die Geschichte eines zutiefst religiösen Menschen zu erzählen. Immer dann, wenn Malick Jägerstätters Glauben thematisieren könnte, immer dann, wenn er Jägerstätters Motive aus seinem Glauben erklären könnte, immer dann, wenn er aus diesem Glauben heraus ein kraftvolles Argument für die Ablehnung des Krieges machen könnte, schreckt er zurück. Sicher. Sein Glaube und die Gründe für seine Kriegsdienstverweigerung werden angesprochen. Es wird auch gebetet und einige Geistliche reden mit Jägerstätter über seine Handlungen. Aber es sind keine tiefgründigen Dialoge. Es sind eher lästige Pflichterfüllungen, die ein überwältigendes Desinteresse am Leben und den Ansichten des Porträtierten zeigen. Weil Malick Jägerstätter zu einem großen Schweiger werden lässt, wird auch kaum deutlich, warum er als Vorbild dienen könnte und warum er Jahrzehnte nach seinem Tod, nachdem sein Schicksal bekannter wurde, andere Menschen inspirierte.
Das spricht jetzt nicht gegen den Film. Im Gegenteil! Schließlich umgeht Malick so die inhaltlichen Fallen eines naiven Faith-based-Films. Optisch spielt Malick sowieso in einer ganz anderen Liga.
Weil Malick dieses Mal seine Geschichte weitgehend chronologisch erzählt, ist der Film deutlich zugänglicher als seine vorherigen Filme. Diese wurden seit „The new World“ immer assoziativer und damit auch offen für jede Interpretation. Das beliebige Potpourri aus Bildern und Tönen war immer schön anzusehen, aber auch todsterbenslangweilig. Das kann über „Ein verborgenes Leben“ nicht gesagt werden.
Trotzdem ist „Ein verborgenes Leben“ meilenweit von einem konventionellem Hollywood-Biopic entfernt. Malick bricht die Chronologie immer wieder auf. Er schweift ab. Immer wieder scheint die Geschichte in einer Wiederholungsschleife gefangen zu sein. Das trifft besonders auf die Szenen im Gefängnis zu, wenn Jägerstätter der Monotonie des Gefängnisalltags ausgesetzt ist. Malick nimmt sich Zeit, Jägerstätter, seine Frau und seine Kinder lange Zeit zu beobachten, wenn sie ihrer alltäglichen Arbeit auf ihrem abgelegenem Hof in St. Radegund, Oberösterreich, nachgehen oder mit ihren drei Töchtern Blinde Kuh spielen. Kameramann Jörg Widmer verfolgt dabei die Schauspieler so schwebend, wie man es aus Malicks vorherigen Filmen „The new World“, „The Tree of Life“, „To the Wonder“, „Knight of Cups“ und „Song to Song“ kennt. Für die war Emmanuel Lubezki der stilbildende Kameramann. Widmer war der Steadicam-Operator. Entsprechend vertraut ist er mit diesem sehr leicht wieder zu erkennendem Stil des Teams Lubezki/Malick.
Es gibt, selbstverständlich, viel Voice-Over und in der Originalfassung wird immer wieder willkürlich zwischen Deutsch und Englisch gewechselt. Im Gegensatz zu anderen Filmen, wo mich das wahnsinnig störte, störte es mich hier nicht. Es passt zu der medidativen Malick-Stimmung.
„Ein verborgenes Leben“ ist Malicks zugänglichster und auch bester Film seit „Der schmale Grat“ (The thin red Line).
Ein verborgenes Leben (A hidden life, Deutschland/USA 2019)
Regie: Terrence Malick
Drehbuch: Terrence Malick
mit August Diehl, Valerie Pachner, Maria Simon, Karin Neuhäuser, Tobias Moretti, Ulrich Matthes, Matthias Schoenaerts, Franz Rogowski, Karl Markovics, Bruno Ganz, Michael Nyqvist, Martin Wuttke, Sophie Rois, Alexander Fehling, Joel Basman, Jürgen Prochnow
Drehbuch: Sebastian Schipper, Olivia Neergaard-Holm, Eike Frederik Schulz
Eine Nacht in Berlin: vier Jungs treffen eine Spanierin. Sie zeigen ihr ihren Kiez, reden mit ihr, nehmen sie zu einem Banküberüberfall mit, der schiefgeht und müssen flüchten.
Inzwischen dürfte der große Clou von Schippers Film bekannt sein: er drehte die Liebes- und Gangstergeschichte ohne einen einzigen Schnitt.
Dafür hat Kameramann Sturla Brandth Grøvlen, der mit der schweren Kamera die Protagonisten an all die Orte begleiten musste, ein Extra-Lob verdient.
Georg, ein Mittzwanziger, hängt in Marseille fest. Wie unzählige andere Flüchtlinge. Er wartet und steht in Schlangen bei verschiedenen Konsulaten, um an Visa und Transitbescheinigungen zu gelangen. Denn er darf nur dann in der Hafenstadt bleiben, wenn er sie verlassen will. Das ist allerdings leichter gesagt, als getan, denn die verschiedenen Bescheinigungen, die unterschiedliche Gültigkeitstage haben, erhält er nur nacheinander von verschiedenen Staaten, die sich untereinander nicht absprechen, und er kann erst dann abreisen, wenn er einen lückenlosen Reiseweg nachweisen kann. Dieses kafkaeske Labyrinth schildert Anna Seghers in ihrem Roman „Transit“, den sie während ihrer Flucht schrieb und der erstmals 1944 veröffentlicht wurde, ausführlicher als Christian Petzold in seiner grandiosen Verfilmung, in der er frei mit der Vorlage umging, aber ihrem Geist treu blieb.
Die größte und augenfälligste Veränderung ist dabei Petzolds Entscheidung, den Film nicht während des Zweiten Weltkriegs, sondern in der Gegenwart spielen zu lassen. Das fällt, wegen der historischen Kulisse, den zeitlosen Kleidern und dem Verzicht auf fast alles, was den Film eindeutig in der Gegenwart verortet, kaum auf. Auch die Dialoge, teils aus Seghers Roman, teils in diesem Stil, sind eher im Duktus der vierziger Jahre als in dem der Gegenwart gehalten. Hier gibt es die zweite große Veränderung zum Roman. Der Roman wird von einem Ich-Erzähler, von dem wir nur den Nachnamen Seidler kennen, erzählt. Im Film gibt es einen Voice-Over-Erzähler. Es ist ein Barkeeper. Die Verlegung der Geschichte in die Gegenwart wirkt daher eher wie ein Verfremdungseffekt, der mühelos die Geschichte aus ihrem historischen Korsett befreit und in die Gegenwart transportiert. Petzold muss die aktuellen Flüchtlingsbewegungen im Film nicht ansprechen. Durch die Filmgeschichte sind sie immer präsent.
Das gilt auch für den Rechtsruck und die verschiedenen Renationalisierungstendenzen. Durch den einfachen Trick, Gegenwart und Vergangenheit übereinanderzulegen, wird die Vergangenheit erschreckend lebendig.
„Ich konnte mir vorstellen, dass jemand mit einem Anzug und einem Seesack am Hafen von Marseille langläuft, sich einmietet in ein Hotel und sagt: ‚In drei Tagen kommen die Faschisten, ich muss hier raus.‘ Das hat mich überhaupt nicht irritiert. Und das irritiert mich, dass es mich nicht irritierte. Das hieß für mich, dass die Fluchtbewegungen, die Ängste, die Traumata, die Geschichten der Menschen, die vor über 70 Jahren in Marseille festhingen, sofort verständlich sind. Die müssen überhaupt nicht erklärt werden. Das fand ich überraschend. (…)
Transiträume sind immer Balanceakte. Wir mussten immer die Balance halten zwischen etwas, das man heute noch findet, und etwas, das die Zeichen nicht zu modern macht. Wir wollten keine Blase von alten Gespenstern, die durch das heutige Marseille laufen, sondern diese Gespenster sind von heute.“ (Christian Petzold)
Während der Roman vor allem eine Ode an den Stillstand ist, werden im Film stärker Beziehungen und Geschichten herausgearbeitet. Die Personen, die im Roman immer flüchtig sind, werden konkreter und plastischer. Sie haben Geschichten, die schon im Buch vorhanden sind. Zum Beispiel die von Marie, die jetzt bei einem Arzt lebt, für den sie ihren Mann, den Schriftsteller Weidel, verlassen hat. Trotzdem möchte sie zurück zu Weidel und, weil sie hörte, dass er in Marseille sei, sucht sie ihn in den Cafés und Gassen der Hafenstadt. Auf ihrer Suche trifft sie Georg, der in Paris durch einen Zufall an den letzten, noch nicht veröffentlichten Roman und einige Briefe von Weidel gelangt ist. Es dauert lange, bis Georg erfährt, wenn Marie sucht. Bis dahin gelangt er, als bekannter Schriftsteller, mühelos an die benötigten und schon genehmigten Papiere für seine Reise nach Mexiko. Er begegnet einem Komponisten, der für verschiedene Transitvisa ansteht und einer Frau mit zwei Hunden. Er spielt Fußball mit einem Jungen, der zu seinem Begleiter wird.
Es sind oft wiederholte Begegnungen, aus denen sich im herkömmlichen Sinn keine Geschichte ergibt und es ist, im Roman stärker als im Film, auch die Beschreibung eines Vakuums. Eigentlich ist Georg in dem Alter, in dem er Erfahrungen machen sollte, an die er sich später erinnern möchte und die sein späteres Leben bestimmen. Aber in Marseille hängt er, wie die anderen Flüchtlinge, nur herum. Wie Zombies in einer Wartehalle.
Transit (Deutschland/Frankreich 2018)
Regie: Christian Petzold
Drehbuch: Christian Petzold
LV (frei nach): Anna Seghers: Transit, 1944/1947
mit Franz Rogowski, Paula Beer, Godehard Giese, Lilien Batman, Maryam Zaree, Barbara Auer, Matthias Brandt, Sebastian Hülk, Antoine Oppenheim, Ronald Kukulies, Justus von Dohnányi, Alex Brendemühl, Trystan Pütter
Länge: 101 Minuten
FSK: ab 12 Jahre
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Die lesenswerte Vorlage
ist aktuell in verschiedenen Ausgaben erhältlich
Anna Seghers: Transit
Aufbau Verlag
304 Seiten
10 Euro (Taschenbuch)
3,49 Euro (Ebook)
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Umfangreicher (wegen fast hundert Seiten Bonusmaterial) als Teil der Werkausgabe (Das erzählerische Werk I/5) von 2001
384 Seiten
30 Euro
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Der Roman erschien zuerst 1944 in den USA auf englisch, anschließend in Mexiko auf spanisch und 1947 auf deutsch als Fortsetzungsroman in der Berliner Zeitung.
Spätere deutsche Veröffentlichungen bearbeiteten den Text.
Erst 2001 erschien im Rahmen der Werkausgabe die erste authentische deutsche Buchausgabe.
Drehbuch: Sebastian Schipper, Olivia Neergaard-Holm, Eike Frederik Schulz
Eine Nacht in Berlin: vier Jungs treffen eine Spanierin. Sie zeigen ihr ihren Kiez, reden mit ihr, nehmen sie zu einem Banküberüberfall mit, der schiefgeht und müssen flüchten.
Inzwischen dürfte der große Clou von Schippers Film bekannt sein: er drehte die Liebes- und Gangstergeschichte ohne einen einzigen Schnitt.
Dafür hat Kameramann Sturla Brandth Grøvlen, der mit der schweren Kamera die Protagonisten an all die Orte begleiten musste, ein Extra-Lob verdient.