So ungefähr in der Mitte eines Films frage ich mich oft, was bisher geschah. Also was würde ich einem Freund über den Film erzählen, wenn in dem Moment die Vorführung abbricht. Und was würde ich sagen, wenn er mich fragten würde, ob ich den Film empfehlen könnte. Das ist, zugegeben, ein etwas unzuverlässiger Test – so gibt es in dem Moment bei einem Rätselkrimi nur den Mord und viele Verdächtige, die in mühseliger Kleinarbeit von dem Ermittler befragt werden. Aber auch bei einem Rätselkrimi weiß ich in dem Moment, um was es in dem Film geht. Also wer die Hauptperson(en) sind und welches Problem behandelt und gelöst werden muss. Schließlich steht am Ende des Films die Enttarnung des Mörders.
In „Zikaden“ ist bis zu diesem Moment einiges passiert, aber es handelt sich immer noch um weitgehend unverbundene Szenen, bei denen unklar ist, wohin sie führen könnten. Damit verbunden ist die Frage, was mir die einzelnen Szenen sagen sollen, also wie sie die Geschichte voranbringen oder ob sie, egal wie gut sie gespielt und inszeniert sind, ersatzlos gestrichen werden könnten.
In dem Film geht es um die 48-jährige Isabell (Nina Hoss), die sich vor allem um ihre zunehmend pflegebürftigen Eltern kümmert. Ihr Vater sitzt seit über vierzig Jahren halbseitig gelähmt und mit einer schweren Sprachstörung im Rollstuhl. Davor arbeitete er als Architekt an großen Bauprojekten und er scheint eine milde Bauhaus-Ästhetik zu bevorzugen. Seine Frau hat die normalen Gebrechen, die es in dem Alter gibt. In Berlin leben sie in einer großen Wohnung. Immer ist ein von Isabell engagierter ausländischer Pfleger bei ihnen.
Isabell möchte deren in der Nähe von Berlin liegendes großes, von ihrem Vater geplantes und stilecht eingerichtetes Wochenendhaus verkaufen. Es steht die meiste Zeit leer und vergammelt. Aber ihr Vater will das Haus, das sie nur in Begleitung aufsuchen können, nicht verkaufen.
In der brandenburgischen Provinz trifft Isabell im Sommer auf die in der Nähe von dem elterlichen Wochenendhaus lebende Anja (Saskia Rosendahl). Sie ist eine alleinerziehende Nachbarin, die von Aushilfstätigkeit zu Aushilfstätigkeit hüpft und sich kaum um ihre Tochter Greta kümmern kann. Das Kind verbringt ihre Freizeit mit einigen etwas älteren Jungen, die sich wie vorpubertäre Halbstarke benehmen. Nachdem Anja aus einer Kantine entlassen wurde, nimmt sie eine Arbeit auf einer Bowlingbahn an.
Isabell ist außerdem mit einem nur französisch sprechendem Architekten (Joah, das ist Berlin. Da lebt man seit Ewigkeiten in der Stadt und lernt weder berlinerisch noch deutsch, weil es auch ohne geht.) verheiratet. In ihrer Ehe kriselt es. Irgendwie. Sie werfen sich in der zweiten Filmhälfte vor, wer wann ein Kind wollte oder nicht wollte. In jedem Fall sind sie nicht mehr so verliebt, wie am ersten Tag. Mehr ist nicht geklärt und wird in dem Drama auch nicht wirklich geklärt.
Aus diesen Szenen entwickelt sich letztendlich für alle Figuren eine milde, mehr diffuse als definitive Neubestimmung ihres Lebens, präsentiert mit vielen Andeutungen und Leerstellen, die fast beliebig gefüllt werden können.
Weitere Interpretationsmöglichkeiten eröffnen sich mühelos, wenn man erfährt, dass Isabells Eltern von Ina Weisses Eltern gespielt werden.
Das ist gut gespielt, feinfühlig inszeniert, aber auch erschreckend ziellos. Am Ende hatte ich nicht das Gefühl, einen Film mit einem Anfang, einer Mitte und einem Ende gesehen zu haben. Stattdessen war es eher, als hätte man mir einige Seiten aus Tagebüchern gegeben. Deshalb ist das Schlussbild nicht das Ende einer Erzählung, sondern einfach nur ein schönes, friedliches und harmonisches Bild ohne weitere Bedeutung.
Zikaden (Deutschland 2025)
Regie: Ina Weisse
Drehbuch: Ina Weisse
mit Nina Hoss, Saskia Rosendahl, Vincent Macaigne, Thorsten Merten, Inge Weisse, Rolf Weisse
Dreistündiges Biopic über den Künstler Kurt Barnert von seiner Kindheit 1937 bis zu seinem Durchbruch 1966 in Wuppertal.
Das ist nicht wirklich schlecht, trotz der Länge unterhaltsam und auch kurzweilig, aber letztendlich nur bildungsbürgerliches Erbauungskino, das brav den Nationalsozialismus, die DDR und die frühen Jahre der BRD an der Biographie des Künstlers Kurt Barnert abhandelt.
Das reale Vorbild für Barnert war Gerhard Richter. Der war von dem Film, nachdem er den Trailer (!) gesehen hatte, nicht begeistert.
mit Tom Schilling, Sebastian Koch, Paula Beer, Saskia Rosendahl, Oliver Masucci, Hanno Koffler, Cai Cohrs, Jörg Schüttauf, Jeanette Hain, Ina Weise, Lars Eidinger, Jonas Dassler, Ben Becker, Hinnerk Schönemann
Zwölf Jahre sind seit seinem letzten Spielfilm „Gnade“ vergangen. Danach schrieb und inszenierte er für das Fernsehen unter anderem die vergurkte TV-Krimiserie „Blochin“ und die zweite Staffel von „Das Boot“. Mit „Sterben“ kehrt Matthias Glasner jetzt zurück ins Kino; wobei der dreistündige Spielfilm mit seiner Unterteilung in fünf weitgehend in sich abgeschlossene Kapitel und einem Epilog wie eine leicht für das Kino erfolgte Umarbeitung einer auf sechs halbstündigen Episoden bestehenden Miniserie aussieht. In Interviews und Statements betont Glasner dagegen, dass er, gerade Vater geworden, in Berlin in einem Coffee Shop vor sich hin schrieb über seine Eltern und notgedrungen auch über sich. Dramaturgische Regeln ignorierte er dabei. Am Ende hatte er zweihundert Seiten und stand vor der Frage, ob jemand eine Verfilmung dieses Konvoluts finanzieren würde.
Es geht, im ersten Kapitel von „Sterben“, um Lissy Lunies (Corinna Harfouch) und ihren Mann Gerd (Hans-Uwe Bauer), der zunehmend unselbstständig wird. Dabei muss auch Lissy mit den Gebrechlichkeiten des Alters kämpfen. Glasner zeigt diesen Verfall präzise in Szenen, die gleichzeitig peinlich, grotesk und witzig sind. Ihre Kinder sind schon vor Jahren ausgezogen. Sie sehen sie nur selten. Ihr Sohn Tom (Lars Eidinger), den wir im zweiten Kapitel kennen lernen, arbeitet als Dirigent. Im Moment probt er das neue Stück seines Freundes Bernard (Robert Gwisdek). Dieser hadert, ganz die sensible, von Selbstzweifeln geplagte, depressive, suizidgefährdete Künstlerseele, mit seinem Werk und den Musikern, die es spielen sollen. Durch sein Verhalten verhindert er zuverlässig die geplante Aufführung des Stücks „Sterben“.
Und dann ist da noch Toms Schwester Ellen (Lilith Stangenberg), die erst im dritten Kapitel auftaucht. Sie ist eine Alkoholikerin, die eine Beziehung mit ihrem Chef, dem verheirateten Zahnarzt Sebastian Vogel (Ronald Zehrfeld), beginnt.
Jedes dieser Kapitel und auch die nächsten beiden Kapitel und der kürzere Epilog, in denen Gerd ins Altersheim kommt, es nach Gerds Beerdigung eine hochpeinliche Aussprache zwischen Lissy und Tom gibt, es doch zur desaströs verlaufenden Uraufführung des Orchesterwerkes und weiteren Todesfällen kommt, sind eigenständige, teils parallel spielende Kurzfilme/-geschichten, die unabhängig voneinander genossen werden können. Keine dieser Geschichten ist auf ein bestimmtes Ende hin geschrieben. Immer gibt es Szenen, die die Filmgeschichte nicht voran bringen. So werden die Proben für Bernards Musikstück und seine Selbstzweifel ausführlich gezeigt. Das Stück wird auch im Film gespielt. In den Momenten erfahren wir nichts über die Familie Lunies.
Eine blinde Stelle des Films ist, dass wir zwar viel über schwierigen Familienmitglieder, die ein Talent zum Unglücklichsein haben, erfahren, aber vieles auch nur erahnen können, weil Glasner sich nicht sonderlich für eine tiefenpsychologische Ursachenforschung oder einfache Erklärungen interessiert.
Deshalb können wir nur erahnen, warum Lissy, Gerd, Tom und Ellen nur noch in gegenseitiger Abneigung miteinander verbunden sind. Sie sind zwar alle schwierige Personen, aber am Ende sind die Lunies‘ weniger eine dysfunktionale, sondern mehr eine schrecklich normale Familie, die nicht mehr miteinander spricht, weil sie an verschiedenen Orten leben und sich nur noch zu Beerdigungen sehen.
Inwiefern das Porträt der Familie Lunies auch ein Porträt der Familie Glasner ist, ist natürlich unklar und auch unerheblich, um die Qualität des Films zu beurteilen. Auch wenn Glasner es explizit auf eine solche Interpretation anlegt, weil er unter anderem auf dem Filmplakat den von Hans-Uwe Bauer gespielten Gerd Lunies als „mein Vater“ bezeichnet.
Alle Bedenken wegen der Länge und der Dramaturgie, die keine stringente Geschichte erzählt, sondern in Ab- und Umwege zerfleddert, werden schnell von Glasners epischem Atem und seiner erzählerischen Kraft hinweggefegt. „Sterben“ dauert drei Stunden, die schnell vergehen, weil das in diesem Fall die richtige Länge ist und es einiges zu Lachen gibt. Auch wenn es das Lachen der Verzweiflung ist.
Auf der diesjährigen Berlinale erhielt Glasner den Silbernen Bären für das beste Drehbuch und der Film den Preis der Leserjury der Berliner Morgenpost.
Sterben (Deutschland 2024)
Regie: Matthias Glasner
Drehbuch: Matthias Glasner
mit Lars Eidinger, Corinna Harfouch, Lilith Stangenberg, Ronald Zehrfeld, Robert Gwisdek, Anna Bederke, Hans Uwe Bauer, Saskia Rosendahl, Saerom Park, Nico Holonics, Catherine Stoyan, Tatja Seibt
Fabian oder Der Gang vor die Hunde (Deutschland 2021)
Regie: Dominik Graf
Drehbuch: Constantin Lieb, Dominik Graf
LV: Erich Kästner: Fabian oder Der Gang vor die Hunde, 1931/2013
TV-Premiere. Dominik Grafs grandiose Verfilmung von Erich Kästners Roman über Jakob Fabian, einem Schriftsteller, der als Werbetexter Geld verdient und durch das nächtliche Berlin der Goldenen Zwanziger driftet.
mit Tom Schilling, Albrecht Schuch, Saskia Rosendahl, Michael Wittenborn, Petra Kalkutschke, Elmar Gutmann, Aljoscha Stadelmann, Anne Bennent, Meret Becker
Dreistündiges Biopic über den Künstler Kurt Barnert von seiner Kindheit 1937 bis zu seinem Durchbruch 1966 in Wuppertal.
Das ist nicht wirklich schlecht, trotz der Länge unterhaltsam und auch kurzweilig, aber letztendlich nur bildungsbürgerliches Erbauungskino, das brav den Nationalsozialismus, die DDR und die frühen Jahre der BRD an der Biographie des Künstlers Kurt Barnert abhandelt.
Das reale Vorbild für Barnert war Gerhard Richter. Der war von dem Film, nachdem er den Trailer (!) gesehen hatte, nicht begeistert.
mit Tom Schilling, Sebastian Koch, Paula Beer, Saskia Rosendahl, Oliver Masucci, Hanno Koffler, Cai Cohrs, Jörg Schüttauf, Jeanette Hain, Ina Weise, Lars Eidinger, Jonas Dassler, Ben Becker, Hinnerk Schönemann
Hochsommer irgendwo in der Mecklenburgischen Provinz, wo sich noch nicht einmal Fuchs und Hase gute Nacht sagen, es aber schon einige Windkrafträder gibt, lebt die 24-jährige Christin. Sie ist mit dem ein Jahr älteren Rick verheiratet. Sie kennen sich schon seit Ewigkeiten. Sie leben auf dem Hof von Ricks Eltern. Die tägliche Arbeit auf dem Hof geht routiniert und fast wortlos vonstatten. Diese Wiederkehr des Immergleichen ist wenig aufregend und bietet auch keine Perspektive auf ein anderes Leben.
Christin, gespielt von Saskia Rosendahl, ist von diesem Leben genervt. Knapp bekleidet stampft sie mit dem immergleichen genervten Geischtsausdruck über die Felder. Lustlos erledigt sie die notwenidgen Arbeiten auf dem Hof. Und sie spielt, auf ihrem Bett liegend, gelangweilt mit ihrem Telefon. Sie ist von ihrem Mann genervt. Sie ist von seinen Eltern genervt. Sie ist von den Dorfjugendlichen genervt. Sie ist von dem Mini-Dorffest genervt. Sie ist von ihrem Vater genervt. Der ist ein Trinker, der die DDR zurücksehnt. Eigentlich ist sie auch von Klaus genervt. Mit dem fast doppelt so alten Techniker für die Windkrafträder beginnt sie eine lustlose Affäre.
„Niemand ist bei den Kälbern“ ist, nach „Prélude“, Sabrina Sarabi zweiter Spielfilm. Es handelt sich um eine gut zweistündige Beschreibung einer statischen Situation. Es ist ein allumfassender Stillstand, in dem sich nichts bewegt.
Sarabi konzentriert sich in ihrem Provinzdrama auf Christin, ihren Gefühlshaushalt und ihre Weltsicht. Das könnte, siehe Pablo Larraíns „Spencer“, durchaus spannend sein. Aber Christin ist eine furchtbar uninteressante Person, die auch an jedem anderen Ort gelangweilt und genervt von der Welt wäre.
Und damit liegt ihr Problem dann nicht an dem Ort, in dem sie seit ihrer Geburt lebt (vermutlich, definitiv erfahren wir es nicht in dem Film) oder ihrem Mann oder seiner Familie.
Das ist schon nach den ersten Minuten klar. Trotzdem wird diese Erkenntnis in den folgenden gut zwei Stunden, ohne eine nennenswerte Variation, immer wieder wiederholt. Entsprechend überschaubar ist der Erkenntnisgewinn dieser sich danach wie Kaugummi ziehenden Abrechnung mit dem Provinzleben.
Niemand ist bei den Kälbern(Deutschland 2021)
Regie: Sabrina Sarabi
Drehbuch: Sabrina Sarabi
LV: Alina Herbing: Niemand ist bei den Kälbern, 2017
mit Saskia Rosendahl, Rick Okon, Godehard Giese, Enno Trebs, Peter Moltzen, Anne Weinknecht, Elisa Schlott
Im Moment glaubt Dominik Graf, dass eine Verfilmung genauso so lange sein soll, wie die Lektüre des Buches dauert. Bei einem kurzen Roman, also eigentlich eher einer Novelle, geht das. Trotzdem ist die Idee Unfug. Konsequent exekutiert würden dann Romanverfilmungen zehn bis zwanzig Stunden dauern. Solche Epen könnten dann nur noch im Fernsehen laufen. Dabei gibt es etliche Romanverfilmungen, die ausgezeichnete eigenständige Interpretionen von Romanen sind und deutlich kürzer als die Vorlage sind.
Das sage ich, weil die Länge von drei Stunden das Problem von Dominik Grafs ansonsten sehr gelungener, werktreuer und gleichzeitig eigenständiger Erich-Kästner-Verfilmung „Fabian oder Der Gang vor die Hunde“ ist.
Kästners Roman erschien 1931 in einer leicht gekürzten Fassung als „Fabian – Die Geschichte eines Moralisten“. Er wurde von den Nazis als entartete Kunst angesehen und gehörte zu den Büchern, die während der Bücherverbrennung verbrannt wurden. 2013 erschien unter dem ursprünglich geplanten Titel „Der Gang vor die Hunde“ Kästners Originalfassung. Diese liegt Dominik Grafs Verfilmung zugrunde.
Fabians Geschichte ist eine bestenfalls lose verknüpfte Abfolge von Episoden, die ein Bild von Deutschland vor neunzig Jahren, also von den späten zwanziger und frühen dreißiger Jahren, ergeben. In einem Roman, vor allen in einem etwas über zweihundertseitigem Roman, der eine Satire ist, zur Avantgarde gehört und der ein Sittenbild ist, ist diese episodische Struktur kein Problem. Bei einem Film, der dann drei Stunden lang Episoden ohne eine erkennbare Geschichte aneinanderreiht, wird das zu einem Problem. Es wird redundant. Es wird langweilig.
Auch wenn ich jetzt nicht genau sagen kann, wo Graf hätte schneiden sollen, hätte er doch um ein Drittel kürzen sollen.
Das gesagt ist „Fabian“ ein absolut sehenswerter Film, der die Stimmung der zwanziger Jahre, das pulsierende Großstadt-, Künstler- und Bohèmeleben, ohne erkennbare Kompromisse und souverän mit allen filmischen Stilmitteln hantierend, auf die Leinwand bringt.
Im Mittelpunkt der Erzählung steht – überzeugend von „Oh Boy“ Tom Schilling gespielt – Jakob Fabian, ein promovierter Germanist, der im Berlin der frühen dreißiger Jahre tagsüber als schlecht verdienender Werbetexter für eine Zigarettenfabrik arbeitet, in einem Zimmer zur Miete wohnt und nach Sonnenuntergang durch die Berliner Clubs und Bordelle zieht. Dabei lehnt der Flaneur und Beobachter nie einen Drink oder eine Affäre ab. Begleitet wird er meistens von seinem Studienfreund Stephan Labude. Der Sohn des vermögenden Justizrat Labude schreibt schon seit Jahren an seiner Habilitation und er ist bekennender und agitierender Kommunist. Er hat eine feste, in einer anderen Stadt lebende Freundin, die er heiraten will. Aber sie betrügt ihn.
Bei einem seiner nächtlichen Sauftouren trifft Fabian auf Irene Moll. Die verheiratete Frau hat mit ihrem Mann ein Arrangement getroffen, nach dem sie ihm ihre Liebhaber vorstellen muss, die Liebhaber einen Vertrag unterschreiben müssen und sie dann Sex haben dürfen. Dieses Angebot lehnt Fabian bei ihrer ersten Begegnung empört ab.
Kurz darauf trifft er in einem Kabarett Cornelia Battenberg. Zufällig haben sie in der gleichen Wohnung ein Zimmer gemietet. Sie verlieben sich ineinander. Cornelia will als Schauspielerin Karriere machen. Sie beginnt eine Affäre mit einem Filmproduzenten.
Aus diesen und zahlreichen weiteren Episoden, aber noch mehr aus der Inszenierung, ergibt sich ein Bild des damaligen Berlins und der damaligen Gefühlslage, die in bestimmten Aspekten immer noch oder wieder aktuell ist. Während in Kästners Roman die Warnung vor dem Nationalsozialismus zwischen den Zeilen steht – schließlich kannte Kästner als er den Roman schrieb, die Zukunft nicht – deutet Graf den beginnenden Nazi-Terror deutlich an. Er zeigt Stolpersteine, die es in Berlin erst seit einigen Jahren gibt. Auf ihnen stehen die Namen von Opfern der Nationalsozialisten. Wir sehen Nazi-Uniformen. Bei einer Konfrontation von Fabian mit einem von Labudes Studienkollegen ist der heraufziehende Faschismus deutlich spür- und sichtbar.
Sowieso interessiert Graf sich in seinem Sittengemälde wenig für historische Faktenkorrektheit. Ihm geht es darum, die damalige Stimmung, die von einem Gefühl eines nahenden Weltuntergangs geprägt war, begreifbar zu machen und tief in Fabians Psyche, die Psyche eines alles distanziert beobachtenden Moralisten, einzutauchen. Dieser Fabian ist kein Mitläufer. Er will nicht, während er sich durch das pulsierende Nachtleben treiben lässt, mit der Masse mitschwimmen.
Dazu lässt Graf die Kamera fiebrig durch die engen, dunklen Räume tanzen. Er schneidet teils im Sekundentakt. Später, wenn Fabian sich verliebt und seine Eltern besucht, wird die Kamera und der Anfangs atemlose Erzählrhythmus ruhiger. Graf wechselt munter die Kameras, das Filmmaterial und das Bildformat. Er schneidet historische Aufnahmen hinein. Dazu kommt ein konstanter Fluss von Dialogen und Voice-Over. Auch wenn nicht alle Texte von Kästner sind, haben sie immer einen deutlichen Kästner-Einfluss. So ergibt sich eine souveräne, sehr eigenständige Interpretation des Romans, die immer wie eine wortwörtliche Übertragung wirkt, es aber nicht ist. Graf und sein Co-Drehbuchautor Constantin Lieb haben den Geist des lesenswerten Buches vorzüglich eingefangen.
Nach diesem „Fabian“ kann man Wolf Gremms „Fabian“ von 1979 getrost vergessen. Denn der ist nur hochbudgetiertes, letztendlich billiges Ausstattungskino. Genau das kann von dem „Gang vor die Hunde“ nicht gesagt werden.
Fabian oder Der Gang vor die Hunde (Deutschland 2021)
Regie: Dominik Graf
Drehbuch: Constantin Lieb, Dominik Graf
LV: Erich Kästner: Fabian oder Der Gang vor die Hunde, 1931/2013
mit Tom Schilling, Albrecht Schuch, Saskia Rosendahl, Michael Wittenborn, Petra Kalkutschke, Elmar Gutmann, Aljoscha Stadelmann, Anne Bennent, Meret Becker
Länge: 186 Minuten
FSK: ab 12 Jahre
–
Die Vorlage
(zum Kinostart mit Filmcover und einigen Filmbildern)
TV-Premiere. Dreistündiges Biopic über den Künstler Kurt Barnert von seiner Kindheit 1937 bis zu seinem Durchbruch 1966 in Wuppertal.
Das ist nicht wirklich schlecht, trotz der Länge unterhaltsam und auch kurzweilig, aber letztendlich nur bildungsbürgerliches Erbauungskino, das brav den Nationalsozialismus, die DDR und die frühen Jahre der BRD an der Biographie des Künstlers Kurt Barnert abhandelt.
Das reale Vorbild für Barnert war Gerhard Richter. Der war von dem Film, nachdem er den Trailer (!) gesehen hatte, nicht begeistert.
mit Tom Schilling, Sebastian Koch, Paula Beer, Saskia Rosendahl, Oliver Masucci, Hanno Koffler, Cai Cohrs, Jörg Schüttauf, Jeanette Hain, Ina Weise, Lars Eidinger, Jonas Dassler, Ben Becker, Hinnerk Schönemann
Was bestimmt unser Leben? Zufall oder Bestimmung? In ihrem Spielfilmdebüt geht Mariko Minoguchi dieser Frage anhand eines gegensätzlichen Paares und mehrerer schicksalshafter Ereignisse nach. Nora treibt ziellos vor sich hin. Aron ist ein ambitionierter Physik-Dokorand. In seiner Arbeit, deren These er am Filmanfang ausführlich erklärt, will er beweisen, dass es keine Zufälle gibt, sondern dass alles einem vorher bestimmten Plan folgt. Zum Beispiel, dass er Nora kennen lernte. Allein schon ihre Namen Nora und, rückwärts gelesen, Aron zeigten das. (Schnelle persönliche Notiz: ich muss meinen Eltern für meinen Namen danken und meine Lexa suchen.)
Eines Tages geraten Aron und Nora in einen Banküberfall. Aron wird angeschossen und stirbt kurz darauf im Krankenhaus. Dieser Überfall ist der Kulminationspunkt für die verschiedenen Geschichten, die Minoguchi auf mehreren Zeitebenen. Dabei geht es immer um die Frage, ob Arons Tod ein dummer Zufall war oder ob er von Anfang an vorherbestimmt war. Und ob, kurz nach Arons Tod, Noras Begegnung mit Natan Zufall oder wieder Schicksal ist. Jedenfalls spürt sie eine seltsame Verbundenheit zu ihm.
Natans Geschichte ist, daraus macht der Film kein großes Geheimnis, selbstverständlich mit ihrem Leben verbunden und, ja, sie sind sich schon einmal begegnet. Durch Arons Tod und den danach folgenden Ereignissen steht Nora irgendwann vor einer Entscheidung, die Natans Leben entscheidend beeinflussen kann. Vor dieser Entscheidung steht sie allerdings nur, weil sie vorher Natan traf und Aron getötet wurde. Damit stellt sich wieder die Frage, ob alles Zufall ist oder alles einem vorher bestimmten Plan folgt.
Minoguchi erzählt die Geschichte von Nora, Aron und Natan nicht chronologisch. Sie wählte eine „elliptische, puzzleartige Erzählweise, um für den Zuschauer, für die Dauer des Films, die Zeit anders erlebbar zu machen“ (Minuguchi).
Dieses Erzählen auf mehreren Zeitebenen, die man nicht unbedingt sofort eindeutig zuordnen kann, führt dazu, dass man in „Mein Ende. Dein Anfang.“ viel Zeit damit verbringt, die einzelnen Szenen in einen zeitlichen Verlauf und in eine Dramaturgie einzuordnen, in der jedes Ereignisse eine genau definierte Ursache hat.
Gleichzeitig sind die einzelnen Szenen willkürliche Teile einer größeren Geschichte, die als einzelne Szene, manchmal auch nur wegen des Zeitpunkts, an dem sie im Film gezeigt werden, nicht überzeugen. Auch das nach gut zwei Stunden entstandene Gesamtbild überzeugt nicht. Es regt nicht zum Nachdenken an. Im Gegensatz zu Denis Villeneuves grandioser Ted-Chiang-Verfilmung „Arrival“, die uns in die Welt des nichtlinearen Denkens einführte.
Dagegen ist „Mein Ende. Dein Anfang.“ nur ambitioniertes Kunstkino.
Mein Ende. Dein Anfang. (Deutschland 2019)
Regie: Mariko Minoguchi
Drehbuch: Mariko Minoguchi
mit Saskia Rosendahl, Edin Hasanovic, Julius Feldmeier, Emanuela von Frankenberg, Hanns Zischler, Jeanette Hain
„Prélude“ ist der Debütfilm von Sabrina Sarabi, für den sie auch das Drehbuch schrieb. Sie erzählt die Geschichte des neunzehnjährigen David, der als talentierter Pianist aus der Provinz in die Großstadt kommt. Er hat einen Platz am Konservatorium erhalten. Er strebt nach einer Karriere als Konzertpianist. An der Schule verliebt er sich in die Gesangsstudentin Marie und befreundet sich mit ihrem Freund Walter. Im Gegensatz zu ihm ist Walter ein talentierter Musiker, der scheinbar mühelos alles erreicht.
Und er leidet zunehmend unter dem Leistungsdruck, der teils aus seinen eigenen Ansprüchen, teils aus den Ansprüchen der Schule, besteht.
Am meisten leidet allerdings der Zuschauer.
Das liegt vor allem am Drehbuch. In einer Geschichte sollten Informationen so vermittelt werden, dass wir Zuschauer die wichtigen Informationen zum richtigen Zeitpunkt erhalten und emotional involviert sind. „Prélude“ versagt da schon in den ersten Minuten. Anstatt uns schnell die wichtigsten Informationen über David zu geben, sehen wir einen jungen Mann in einem Zug. Später bezieht er ein anonymes Zimmer, das notdürftig mit Bett, Schrank und Tisch möbliert ist. Er läuft durch ein ebenso anonymes Gebäude, das zwischen Schule und Verwaltungsgebäude alles sein kann. Er trifft eine in schwarz gekleidete Frau, die seine Klavierlehrerin ist. Ob er Dr. Matussek bewundert oder ob sie für einfach nur eine Lehrerin ist, wissen wir in diesem Moment noch nicht. Und erfahren es auch später nicht. Jedenfalls ist sie seine Ansprechpartnerin in allen studentischen Belangen. Entsprechend abhängig ist er von ihrem Urteil und ihren Noten.
Bis zur ersten Begegnung von David und Matussek ist schon einige Filmzeit vergangen, die Damien Chazelle in „Whiplash“ wesentlich besser investierte. Sein Musikdrama ist der deutlich gelungenere Film zu diesem Thema.
In „Whiplash“ erfahren wir schon in den ersten Minuten, dass der ebenfalls 19-jährige Andrew Neiman ein begeisterter Schlagzeuger ist, dass Terence Fletcher sein großes Idol ist, bei dem er unbedingt spielen will, und dass Fletcher ein bekannter Dozent ist, der extrem hohe Ansprüche stellt. In dem Moment kennen wir den Protagonisten, den Antagonisten und den Grundkonflikt des Films. In den folgen neunzig Minuten kann Chazelle dann erzählen, wie ein Lehrer seine Macht ausnutzt und Psychoterror betreibt. Und wie ein Schüler damit umgeht.
In „Prélude“ kennen wir den zentralen Konflikt der Geschichte nicht. Wir wissen auch nicht, was Davids genaues Ziel ist. Stattdessen werden Szenen aneinandergereiht, die wirken, als habe man einfach die Post-It-Zettel von einer Tafel abgenommen und gesagt „Das ist unsere Geschichte.“. Aber eine Geschichte entsteht erst, wenn eine Handlung notgedrungen die nächste Handlung ergibt; wenn auf jede Tat eine Reaktion erfolgt, auf die dann wieder eine Reaktion erfolgt. Über Sarabis Geschichte kann das nicht gesagt werden.
So erwähnt David gegenüber seiner Lehrerin einmal, dass er sich gerne für ein Stipendium an der Juilliard-Schule bewerben würde. Dafür braucht er ihre Unterschrift. Dieses Ziel, das die Filmgeschichte vorantreiben könnte, wird kurz darauf fallengelassen. Irgendwann später ist das Stipendium für David wieder besonders wichtig, kurz darauf wieder unwichtig, dann wieder wichtig und als David erfährt, ob er das Stipendium erhält, ist die Entscheidung der Schule für ihn ungefähr so wichtig wie ein ungefragt erhaltener Werbebrief.
Irgendwann im Film streitet David sich mit Walter an einem See. Die Szene ist so inszeniert, dass man danach vermutet, David habe Walter erschlagen. Auf die darauf folgenden Szenen hat diese Tat keinen Einfluss. Und wenn Walter später wieder auftaucht, verhalten sich die beiden Jungs, als sei nichts geschehen.
Sogar wenn wir annehmen, dass wenigstens einige Filmszenen nur Davids Einbildung existieren und David zunehmend den Kontakt zur Realität verliert, lösen sie das Problem des Films nicht. Auch Vorstellungen, von Drogenhalluzinationen bis hin zu Wahnvorstellungen, haben einen Einfluss auf die Filmgeschichte. D. h.: selbst wenn David nur glaubt, dass er Walter erschlagen hat, müsste er bei der nächsten Begegnung mit Walter irritiert sein, weil der Mensch, den er erst vor kurzem erschlagen hat, noch quicklebendig ist und anscheinend nichts von dem Streit weiß.
So reiht Sarabi, ohne dass wirklich ein Thema und ein damit zusammenhängender Konflikt erkennbar werden, beliebige Szenen aneinander, die dann, mit vielen Auslassungen, die Geschichte eines jungen Mannes ergeben, der an seinen eigenen Ansprüchen scheitert.
Prélude (Deutschland 2019)
Regie: Sabrina Sarabi
Drehbuch: Sabrina Sarabi
mit Louis Hofmann, Liv Lisa Fries, Johannes Nussbaum, Ursina Lardi, Jenny Schily, Saskia Rosendahl, David Kosel, Arno Frisch
Unabhängig von dem, was ich gleich über Florian Henckel von Donnersmarcks neuen Film „Werk ohne Autor“ schreiben werde, muss ich eins klarstellen: die über drei Stunden, die der Film dauert, vergingen schnell. Ich musste nicht gegen den Schlaf kämpfen, rutschte nicht unruhig im Kinosessel herum und biss nicht die vordere Sesselreihe durch. Das gelingt nicht jedem Film. Vor allem nicht über eine so epische Laufzeit hinweg.
Aber die Entscheidung von Donnersmarcks „Werk ohne Autor“ in das Rennen um den Auslandsoscar zu schicken, verstehe ich nicht. Zur Auswahl standen auch „Transit“, „Mackie Messer – Der Dreigroschenfilm“, „Das schweigende Klassenzimmer“ und „Der Hauptmann“. Alles interessante Filme, die nicht so hemmungslos auf einen Oscar schielen wie „Werk ohne Autor“. Und gegen unseren letztjährigen Oscarbewerber, Fatih Akins „Aus dem Nichts“, ist „Werk ohne Autor“ langweiliges, bildungsbürgerliches Erbauungskino, das brav den Nationalsozialismus, die DDR und die frühen Jahre der BRD an der Biographie des Künstlers Kurt Barnert abhandelt.
Das Vorbild für Kurt Barnert ist Gerhard Richter
Bevor von Donnersmarck das Drehbuch schrieb, konnte er sich einen Monat mit Richter unterhalten und ihn begleiten. Er hätte also genug Material für ein Biopic gehabt. Aber er entschloss sich zur fiktionalisierten Version, in der Kenner des Lebens und Werks von Richter ihn immer erkennen. Aber im Detail ist unklar, ob die Szene erfunden oder wahr ist. Auch andere Charaktere, die auf wahren Personen basieren, haben im Film andere Namen. So heißt Joseph Beuys im Film Antonius van Verten und Oliver Masucci zeigt wieder einmal sein Talent. Auch die anderen Schauspieler überzeugen.
Wer sich mit der deutschen Kunstgeschichte nicht so auskennt, kann die Informationen im Film wie ein Schwamm aufsaugen und sie dann irgendwann kleinteilig mit der Wirklichkeit vergleichen.
Das erste Mal begegnen wir Kurt Barnert als er 1937 mit seiner Tante Elisabeth in Dresden die Ausstellung „Entartete Kunst“ besucht und, wie in einem Brennglas, alle wichtigen Themen des Films angesprochen werden.
In den folgenden drei Stunden erzählt von Donnersmarck dann Barnerts Leben bis zu seiner ersten großen Ausstellung 1966 in der Kunsthalle Wuppertal, wo Barnert Probleme hat, sein Werk zu erklären. Das tut dann ein Journalist, vor dem Portrait von Tante Elisabeth stehend, für eine TV-Reportage: „Zufällig gewählte Illustriertenbilder, Passfotos vom Automaten, beliebige Schnappschüsse aus Familienalben – alles unscharf abgemalt. Mit solchen Bildern, die aus unerklärlichen Gründen eine echte Kraft besitzen, scheint sich Kurt Barnert zum führenden Künstler seiner Generation zu entwickeln – und das mit der totgewähnten Malerei! Aber wie viele in seiner Generation hat er nichts zu erzählen, nichts zu sagen, löst sich von jeder Tradition, verabschiedet sich vom biographischen Ansatz in der Kunst und schafft so zum ersten Mal in der Kunstgeschichte…ein Werk ohne Autor.“
Der Film verästelt sich, nimmt sich Zeit für Abschweifungen und zeigt einiges ausführlicher als nötig, während Barnert eher passiv ist. Er ist nicht der Künstler, der bereits seine Sprache gefunden hat und der fanatisch ein Projekt verfolgt. In der DDR malt er akribisch ein Wandfresko. In Düsseldorf experimentiert er. Wie die anderen Studenten. Dabei wirkt Barnerts Experimentieren nicht wie die Suche nach einer eigenen Sprache, sondern wie das Erfüllen des Pflichtprogramms.
Neben Barnerts Geschichte erzählt von Donnersmarck auch die Geschichte von Tante Elisabeth, die psychisch gestört ist und von ihrem Arzt, Professor Carl Seeband, in den Tod geschickt wird. Er erzählt auch Seebands Geschichte, dem es immer gelingt, zur herrschenden Klasse der verschiedenen Systeme zu gehören und der sich immer wieder in das Leben seiner Tochter einmischt. Denn für ihn ist ein Künstler kein Mann für seine Tochter.
Und immer wieder gelingen von Donnersmarck einprägsame Szenen. Teils, wenn die Busfahrer auf dem Busbahnhof auf Bitten von Tante Elisabeth hupen und sie „hebt die Arme wie in Ekstase, lässt die Erschütterung des tiefen Hornklangs durch sich wogen. Musikerlebnis der extremen Art.“ (Drehbuch), als Überwältigungskino. Teils dank der Schauspieler und dem Inhalt der Szene.
„Werk ohne Autor“ ist allerdings auch ein strikt chronologisch erzählter Film, der weder Fisch noch Fleisch ist. Er ist kein straffer Zwei-Stundenkinofilm, der einen Konflikt zuspitzt. Er ist auch keine vier- oder sechsstündige Mini-TV-Serie, in der verschiedene Plots nebeneinander her laufen können ohne sich jemals zu kreuzen. Wobei von Donnersmarck sich eher für die das bildungsbürgerliche Publikum ansprechende Mini-TV-Serie interessiert, die allerdings zu lang für einen Kinobesuch wäre.
Und so ist die Szene, die visualisiert, warum von Donnersmarck den Film drehte und die in einem Zwei-Stundenfilm die große Szene, auf die alles hinausläuft, wäre, komplett verschenkt.
Die Inspiration für „Werk ohne Autor“ war ein vor etwa zehn geführtes Interview, bei dem der Interviewer, „Tagesspiegel“-Reporter Jürgen Schreiber, von Donnersmarck erzählte, er habe gerade eine Biographie über Gerhard Richter geschrieben. Die Inspiration dazu war seine Tagesspiegel-Reportage über Richter, in der er enthüllte, dass Richters Tante Marianne Schönfelder (verewigt in dem Portrait „Tante Marianne“) von NS-Ärzten umgebracht wurde und dass Richters Schwiegervater, Prof. Dr. Heinrich Eufinger, als SS-Obersturmbannführer bei der Sterilisierung geistig Behinderter eine maßgebliche Rolle spielte. Richter hat das anscheinend erst durch Schreibers Reportage erfahren.
Für von Donnersmarck war diese Geschichte und die damit verbundenen Verstrickungen die Inspiration für „Werk ohne Autor“. Im Film sehen wir dann auch, wie Barnert ausgehend von Fotografien von seiner Tante Elisabeth, Passfotos von Seeband und der Verhaftung des Naziverbrechers Burghard Kroll diese Fotos nachzeichnet und ineinander übergehen lässt. In diesem Bild verbindet er das Schicksal seiner Tante mit dem eines Psychiaters, der das Euthansie-Programm initiierte, das Seeband willig ausführte. Das Bild fasst damit mehrere Jahrzehnte deutscher Geschichte zusammen. Und es wäre, wenn Barnert gewusst hätte, was er malt, eine Anklage gegen seinen Schwiegervater.
Als dieser das Bild bei einem Besuch in Barnerts Atelier sieht, reagiert er verstört. Es ist durch die Inszenierung offensichtlich, dass Seeband die volle Bedeutung des Bilds erfasst, dass er seine Vergangenheit sieht und er davon ausgeht, dass Barnert sie auch kennt.
Dieser Moment könnte die Rache des Künstlers an dem Mörder seiner Tante sein. Er ist es allerdings nicht. Denn Barnert kennt den Mörder seiner Tante nicht. Er hat auch keine Ahnung von Seebands Verstrickungen mit dem Nazi-Regime und wie sehr er sich immer wieder in Barnerts Leben einmischt.
Von Donnersmarck verschenkt genau den Moment, auf den implizit der gesamte Film hinausläuft.
Sein dritter Spielfilm ist auch ein Film über die moderne Kunst, auf die er allerdings immer wieder verächtlich herabblickt. Das zeigt sich vor allem an den in der Kunstakademie Düsseldorf spielenden Szenen. So führt Harry Preuser Barnert am ersten Tag durch die Akademie und äußerst sich sehr spöttisch über die Akademie und seine Mitstudenten. Die Projekte der Studenten scheinen vor allem eine von jeglicher Technik und Handwerk befreite Selbstverwirklichung zu sein. Und Professor van Verten ist ein enigmatischer Scharlatan, der sich nicht für die Werke seiner Studenten interessiert.
Im Gegensatz zum am 31. Oktober startendem „Queen“-Biopic „Bohemian Rhapsody“ zeigt „Werk ohne Autor“ die Phase des Suchens, der Irrwege und der missglückten Versuche im Leben eines Künstlers. Es ist ein Portrait der Kindheit, Jugend und der Lehrlingsphase eines Künstlers. Gleichzeitig zeichnet von Donnersmarck über drei Stunden betulich, im Stil eines TV-Mehrteilers ein Bild Deutschlands von 1937 bis 1966.
Werk ohne Autor (Deutschland 2018)
Regie: Florian Henckel von Donnersmarck
Drehbuch: Florian Henckel von Donnersmarck
mit Tom Schilling, Sebastian Koch, Paula Beer, Saskia Rosendahl, Oliver Masucci, Hanno Koffler, Cai Cohrs, Jörg Schüttauf, Jeanette Hain, Ina Weise, Lars Eidinger, Jonas Dassler, Ben Becker, Hinnerk Schönemann
Länge: 189 Minuten
FSK: ab 12 Jahre
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Das Buch zum Film
Mit vielen Filmbildern, dem Drehbuch, einem Interview mit Florian Henckel von Donnersmarck und einem Gespräch zwischen dem Künstler Thomas Demand und dem Filmemacher Alexander Kluge über den Film. Beide Gespräche sind interessant.
Aber gerade wegen der Filmgeschichte hätte man gerne mehr über die Unterschiede zwischen Richters Biographie und dem Film erfahren. In einem eigenem Text oder einem Essay über Richters Wirken und die Kunst in Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg.
Wir sind jung. Wir sind stark. (Deutschland 2014, Regie: Burhan Qurbani)
Drehbuch: Martin Behnke, Burhan Qurbani
Ostdeutsche Willkommenskultur. Burhan Qurbani rekonstruiert in seinem Spielfilm die fremdenfeindlichen Übergriffe in Rostock-Lichtenhagen im Sommer 1992, die Deutschland schockierten. Sehenswert und zu Diskussionen anregend.
Mit Jonas Nay, Joel Basman, Saskia Rosendahl, David Schütter, Trang Le Hong, Devid Striesow
Wir sind jung. Wir sind stark. (Deutschland 2014, Regie: Burhan Qurbani)
Drehbuch: Martin Behnke, Burhan Qurbani
Ostdeutsche Willkommenskultur. In seinem in jedem Fall sehenswertem und zu Diskussionen anregendem Spielfilm rekonstruiert Burhan Quarbani die fremdenfeindlichen Übergriffe in Rostock-Lichtenhagen im Sommer 1992, die Deutschland schockierten.
Mit Jonas Nay, Joel Basman, Saskia Rosendahl, David Schütter, Trang Le Hong, Devid Striesow