Neu im Kino/Filmkritik: Mad Max, Raves, Wüste, „Sirat“

August 15, 2025

Mit seinem zwölfjährigem Sohn Esteban zieht Luis (Sergi López) von einem Rave zum nächsten. In Südmarokko suchen sie zwischen Bergen und Wüste nach seiner Tochter Mar. Sie verschwand vor mehreren Monaten bei einem dieser Wüstenraves; mehr oder weniger illegale Tanzveranstaltungen in der Wüste mit bewusstseinserweiternden Erfahrungen. Luis stolpert, mit einem Bild seiner Tochter in der Hand, über das Festivalgelände.

Von einer Gruppe Raver erfährt er von einem besonderen, selbstverständlich geheimen Rave irgendwo in der Wüste. Gemeinsam machen sie sich auf den Weg.

Regisseur Oliver Laxe sagt über seinen neuen Film „Sirat“, der diese Jahr in Cannes den Preis der Jury erhielt: „Der Film zerfällt im Laufe seiner Handlung.“

Er meint es positiv. Für mich beschreibt er allerdings ziemlich genau mein Problem mit dem Film. Der Anfang, wenn Luis seine Tochter sucht und dabei durch die aus Aussteigern bestehende Rave-Szene taumelt, ist stark. Wenn sie danach in ihren wüstentauglichen Wohnmobilen, deren beste Zeit schon vor Jahrzehnten war, musikalisch kongenial unterlegt, durch die Wüste donnern, sieht das nach Outtakes aus einem „Mad Max“-Film aus. Aber dann passiert auf einer schmalen Gebirgsstraße ein Unglück. „Sirat“ vergisst seine Prämisse – sie spielt einfach keine Rolle mehr – und auch das ‚Ereignis‘ wird vollkommen verdrängt. In diesem Moment verliert „Sirat“ seinen Plot zugunsten einem surreal-absurden Geflecht von sich wiederholenden „Mad Max“-Wüstenimpressionen und der Entdeckung eines Minenfeldes.

Dieser Bruch ungefähr in der Mitte des Films macht aus „Sitar“, trotz starker Prämisse, Schauspieler, Bilder und Sound, ein enttäuschendes Werk.

Das größte Problem ist dabei die Prämisse: ein Vater sucht sein verschwundenes Kind und setzt dafür seine gesamte bürgerliche Existenz aufs Spiel. Diese Prämisse verlangt nach einer Antwort. Diese Antwort kann auch, wie in Friedrich Dürrenmatts „Das Versprechen – Requiem auf den Kriminalroman“ (seiner düsteren Romanfassung von „Es geschah am hellichten Tag [Deutschland 1958]) oder David Finchers „Zodiac – Die Spur des Killers“ (USA 2007), sein, dass der Ermittler den Mörder nicht fängt. Trotzdem wird am Ende die Ausgangsfrage beantwortet und nicht in der Mitte der Geschichte zugunsten von etwas vollkommen anderem links liegen gelassen.

Hätte Laxe eine schwächere Prämisse gewählt, beispielsweise indem sein Protagonist einfach nach dem nächsten Rave sucht, hätte mir der Film deutlich besser gefallen. Diese Frage wird auch am Filmende beantwortet.

Sirat (Sirāt, Spanien/Frankreich 2025)

Regie: Oliver Laxe

Drehbuch: Santiago Fillol, Oliver Laxe

mit Sergi López, Brúno Nunez, Stefania Gadda, Joshua Liam Henderson, Tonin Janvier, Jade Oukid, Richard Bellamy

Länge: 115 Minuten

FSK: ab 16 Jahre

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

AlloCiné über “Sirat”

Moviepilot über “Sirat”

Metacritic über “Sirat”

Rotten Tomatoes über “Sirat”

Wikipedia über “Sirat” (deutsch, englisch, französisch)


TV-Tipp für den 21. November: Pacifiction

November 20, 2024

Arte, 00.00

Pacifiction (Pacifiction: Tourment sur les îles, Frankreich/Spanien/Deutschland/Portugal 2022)

Regie: Albert Serra

Drehbuch: Albert Serra, Baptiste Pinteaux (Dialoge)

TV-Premiere eines Mitternachtsfilms, der kurz vor dem Morgengrauen endet. „Pacifiction“ dauert 160 Minuten. Es geht um die Sichtung eines U-Boots vor der Küste der Insel Tahiti. Das Schiff könnte neue französische Atomtest ankündigen. Diese Gerüchte bringen das entspannte Inselleben des französischen Hochkommissars durcheinander.

Meditativ-surreal mäanderndes Filmepos“ (Lexikon des internationalen Films)

mit Benoît Magimel, Sergi López, Pahoa Mahagafanau, Marc Susini, Matahi Pambrun, Lluís Serrat

Hinweise

Arte über den Film

Filmportal über „Pacifiction“

AlloCiné über „Pacifiction“

Rotten Tomatoes über „Pacifiction“

Wikipedia über „Pacifiction“ (deutsch, englisch, französisch)


TV-Tipp für den 1. Juni: Das Schmuckstück

Mai 31, 2023

RBB, 20.15

Das Schmuckstück (Potiche, Frankreich 2010)

Regie: François Ozon

Drehbuch: François Ozon (nach dem Bühnenstück von Pierre Barillet und Jean-Pierre Grédy)

In den Siebzigern übernimmt die Frau eines cholerischen Fabrikanten, der aufgrund eines Herzinfarkts seine Firma unpässlich ist, die Firmenleitung. Sie, die bislang nur das Schmuckstück war, findet Gefallen an ihrer neuen Rolle.

lustvoll mit Überspitzungen arbeitende Emanzipationskomödie, gestaltet als liebenswürdige Hommage an ‚klassische‘ amerikanische und französische Film-Musicals“ (Lexikon des internationalen Films)

Am Samstag, den 3. Juni, zeigt One um 22.00 Uhr Ozons letzten Film „Peter von Kant“.

Sein neuer Film „Mein fabelhaftes Verbrechen“ startet am 6. Juli im Kino. Wieder eine Komödie, wieder mörderisch gut,

mit Catherine Deneuve, Gérard Depardieu, Fabrice Luchini, Karin Viard, Judith Godrèche, Sergi Lopez

Hinweise

AlloCiné über „Das Schmuckstück“

Rotten Tomatoes über „Das Schmuckstück“

Wikipedia über „Das Schmuckstück“ (deutsch, englisch, französisch)

Meine Besprechung von Francois Ozons “In ihrem Haus” (Dans la Maison, Frankreich 2012)

Meine Besprechung von Francois Ozons ”Jung & Schön” (Jeune & jolie, Frankreich 2013)

Meine Besprechung von Francois Ozons „Eine neue Freundin“ (Une nouvelle amie, Frankreich 2014)

Meine Besprechung von François Ozons „Frantz“ (Frantz, Deutschland/Frankreich 2016)

Meine Besprechung von François Ozons „Der andere Liebhaber“ (L’Amant Double, Frankreich/Belgien 2017)

Meine Besprechung von François Ozons „Gelobt sei Gott“ (Grâce à Dieu, Frankreich 2019)

Meine Besprechung von François Ozons „Alles ist gutgegangen“ (Tout s’est bien passé, Frankreich 2021)

Meine Besprechung von François Ozons „Peter von Kant“ (Peter von Kant, Frankreich 2022)


Neu im Kino/Filmkritik: Woody Allen # 49: Rifkin’s Festival

Juli 7, 2022

Einen Film will Woody Allen noch drehen. Das sagte der 86-jährige im Juni in einem Gespräch mit Alec Baldwin. Die Dreharbeiten für diesen Film beginnen im Herbst in Paris. Ob er danach noch weitere Filme drehe, wisse er nicht. Das Umfeld für seine Filme habe sich zu sehr verändert. Früher liefen sie überall. Jetzt würden sie wenige Wochen nach dem Kinostart auf einem Streamingportal gezeigt. So hatte sein bislang letzter Film am 18. September 2020 beim Filmfestival San Sebastián seine Premiere. In den USA wurde er Anfang des Jahres nur in wenigen Kinos gezeigt. Auch in Deutschland läuft er erst jetzt in einer überschaubaren Zahl von Kinos an. Dabei ist sein 49. Film gar nicht sein schlechtester. Es ist eine Komödie, die sich nahtlos in sein durchwachsenes, oft enttäuschendes Spätwerk einfügt.

Dieses Mal geht es um Mort Rifkin (Wallace Shawn). Der snobistische Filmkritiker und Universitätslehrer begleitet seine Frau Sue (Gina Gershon) nach Spanien zum Filmfestival in San Sebastián. Sie macht dort die Pressebetreuung für Philippe (Louis Garrel). Er ist ein junger, gut aussehender, charismatischer Regisseur, der gerade im Minutentakt Preise erhält. Rifkin hält nichts von Philippes Filmen. Er schlendert durch San Sebastián. Er fragt sich, ob Sue ihn mit Philippe betrügt. Er hat Schmerzen in der Brust. Er besucht Dr. Jo Rojas (Elena Anaya) und ist, weil er aufgrund des Namens einen Mann erwartet hat, ganz erstaunt, dass Rojas eine gut aussehende, unglücklich verheiratete Ärztin ist, mit der er sich gleich sehr gut versteht. In New York wohnten sie im gleichen Viertel. Sie haben den gleichen Kunstgeschmack. Er verliebt sich in sie – und erfindet schnell neue Beschwerden um sie wieder zu besuchen.

Vor, während und nach den Dreharbeiten wurde vor allem über Woody Allens Privatleben gesprochen. Es ging, wieder einmal, um inzwischen jahrzehntealte Missbrauchsvorwürfe von seiner Ex-Frau Mia Farrow. Diese Geschichte führte auch dazu, dass sich im Rahmen der #MeToo-Debatte etliche Schauspieler und sein Produktionspartner Amazon Studio von Allen distanzierten. Die Auswertung von seinen letzten beiden Filmen, „A rainy day in New York“ und „Rifkin’s Festival“, litt auch darunter. Und dann kam die Corona-Pandemie, die zu monatelangen Kinoschließungen führte. Insofern können wir uns freuen, dass Woody Allens immer noch neuester Film in die Kinos kommt. Auch wenn es nur ein kleiner Start ist. Hier in Berlin läuft der Film in drei Kinos.

Dabei ist der Film gar nicht so schlecht. Er hält ziemlich genau das Niveau seiner vorherigen Filme. Nichts ist neu. Vieles ist sehr vertraut. Einiges fast schon lieblos und schlampig inszeniert. Die Idee, Mort Rifkins Träume mit nachgespielten SW-Szenen aus seinen Lieblingsfilmen zu illustrieren, erfreut das Herz des Cineasten.

Beim Lesen der Handlung erkennen Allen-Fans sofort viele vertraute Elemente. Beim Ansehen dürften sie für fast jede Szene mindestens eine ähnliche Szene aus einem älteren Allen-Film nennen können. „Rifkin’s Festival“ ist, wieder einmal, eine Liebeskomödie, in der beide Ehepartner mit einem Seitensprung liebäugeln. Mort Rifkin ist natürlich eine weitere Version von Woody Allen, wie wir ihn spätestens seit dem „Stadtneurotiker“ kennen. Nur dass er dieses Mal nicht von Woody Allen, sondern von Wallace Shawn gespielt wird. Und Shawn spielt ihn äußerst bedächtig und erstaunlich uninteressiert an Pointen.

Seine Lieblingsfilme sind, wenig überraschend für einen älteren Filmkritiker, vor allem Klassiker des europäischen Kinos. Inszeniert wurden diese Filme von Regisseuren, die Allen selbst bewundert. Nämlich, – in der Klammer stehen die Filme, von denen Rifkin träumt -, Orson Welles (Citizen Kane, 1941), Jean-Luc Godard (Außer Atem, 1960), François Truffaut (Jules and Jim, 1962), Luis Buñuel (Der Würgeengel, 1962), Federico Fellini (8½, 1963), Claude Lelouch (Ein Mann und eine Frau, 1966) und, wenig verwunderlich nachdem Allen eine Bergman-Phase hatte, Ingmar Bergman (Das siebente Siegel, 1957; Wilde Erdbeeren, 1957; Persona; 1966).

Rifkin’s Festival“ ist kein Film, mit dem Allen neue Fans gewinnen wird. Es ist auch keiner seiner besten Filme. Es handelt sich eher um den Besuch eines alten Freundes, der noch einmal seine bekannten Geschichten und Witze erzählt. Wegen der vielen filmischen Anspielungen hat es auch etwas von einem Alterswerk, das noch einmal bekannte Themen, Motive und Obsessionen bündelt. Nicht um sie irgendwie neu zu bewerten, sondern um sie einfach noch einmal anzusehen. Das ist, wie sein vorheriger Film „A rainy day in New York“, schon sympathisch anspruchslos. „Rifkin’s Festival“ ist der etwas fahrige Bericht von Rifkin gegenüber seinem Therapeuten, der am Filmanfang und -ende im Bild ist, über seine Woche im sonnigen San Sebastián.

Und natürlich kann man Rifkins Träume zum Anlass nehmen, sich die ihnen zugrunde liegenden Filme wieder anzusehen. Es gibt wahrlich schlechtere Beschäftigungen für ein langes Wochenende.

Rifkin’s Festival (Rifkin’s Festival, USA 2020)

Regie: Woody Allen

Drehbuch: Woody Allen

mit Wallace Shawn, Gina Gershon, Louis Garrel, Elena Anaya, Sergi López, Christoph Waltz, Tammy Blanchard, Steve Guttenberg, Richard Kind, Douglas McGrath

Länge: 92 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Moviepilot über „Rifkin’s Festival“

Metacritic über „Rifkin’s Festival“

Rotten Tomatoes über „Rifkin’s Festival“

Wikipedia über „Rifkin’s Festival“ (deutsch, englisch)

Homepage von Woody Allen

Deutsche Woody-Allen-Seite

Meine Besprechung von Robert B. Weides „Woody Allen: A Documentary“ (Woody Allen: A Documentary, USA 2012)

Meine Besprechung von Woody Allens “To Rome with Love” (To Rome with Love, USA/Italien 2012)

Meine Besprechung von Woody Allens “Blue Jasmine” (Blue Jasmine, USA 2013)

Meine Besprechung von Woody Allens “Magic in the Moonlight” (Magic in the Moonlight, USA 2014)

Meine Besprechung von John Turturros “Plötzlich Gigolo” (Fading Gigolo, USA 2013 – mit Woody Allen)

Meine Besprechung von Woody Allens „Irrational Man“ (Irrational Man, USA 2015)

Meine Besprechung von Woody Allens „Café Society“ (Café Society, USA 2016)

Meine Besprechung von Woody Allens „Wonder Wheel“ (Wonder Wheel, USA 2017)

Meine Besprechung von Woody Allens „A rainy Day in New York“ (A rainy Day in New York, USA 2019)

Woody Allen in der Kriminalakte  


TV-Tipp für den 14. Juni: Die Affäre

Juni 13, 2022

Servus TV, 22.50

Die Affäre (Partir, Frankreich 2009)

Regie: Catherine Corsini

Drehbuch: Catherine Corsini, Gaëlle Macé

Nach fünfzehn Ehejahren und zwei Kindern verliebt sich Suzanne in einen Handwerker. Ihr Mann, ein wohlhabender Arzt, will sie ruinieren.

Drama mit packender Atmosphäre und einer genauen Figurenzeichnung.“ (Lexikon des internationalen Films)

Danach drehte Corsini „La belle saison – Eine Sommerliebe“ und „In den besten Händen“.

mit Kristin Scott Thomas, Sergi López, Yvan Attal, Bernard Blancan, Aladin Reibel

Wiederholung: Mittwoch, 15. Juni, 02.25 Uhr (Taggenau!)

Hinweise

AlloCiné über „Die Affäre“

Rotten Tomatoes über „Die Affäre“

Wikipedia über „Die Affäre“ (deutsch, englisch, französisch)

Meine Besprechung von Catherine Orsinis „La belle saison – Eine Sommerliebe“ (La belle saison, Frankreich/Belgien 2015) und der Blu-ray

Meine Besprechung von Catherine Corsinis „In den besten Händen“ (La Fracture, Frankreich 2021)


TV-Tipp für den 25. August: Die letzten Tage der Menschheit

August 24, 2021

Arte, 20.15

Die letzten Tage der Menschheit (Les derniers jours du monde, Frankreich/Spanien 2009)

Regie: Arnaud Larrieu, Jean-Marie Larrieu

Drehbuch: Arnaud Larrieu, Jean-Marie Larrieu

LV: Dominique Noguez: Les derniers jours du monde, 2001

TV-Premiere. Die Welt geht gerade mit allen nur denkbaren Katastrophen gleichzeitig unter, aber Robinson hat ein ganz anderes Problem. Er sucht in Frankreich und Spanien nach Lae. Mit ihr hatte er vor einem Jahr eine leidenschaftliche Affäre.

SF-Film

mit Mathieu Amalric, Catherine Frot, Karin Viard, Sergi Lopez, Clotilde Hesme, Omahyra Mota, Sabine Azema, Pierre Pellet, Manon Beaudoin

Hinweise

AlloCiné über „Die letzten Tage der Menschheit“

Rotten Tomatoes über „Die letzten Tage der Menschheit“

Wikipedia über „Die letzten Tage der Menschheit“ (englisch, französisch)


TV-Tipp für den 11. November: Glücklich wie Lazzaro

November 10, 2020

Arte, 22.00

Glücklich wie Lazzaro (Lazzaro felice, Italien/Deutschland/Frankreich/Schweiz 2018)

Regie: Alice Rohrwacher

Drehbuch: Alice Rohrwacher

In einem abgelegenem Bergdorf leben die Menschen noch wie vor hundert Jahren. Als der naive Arbeiter Lazzaro sich mit dem Sohn der sie wie Sklaven haltenden Marquesa anfreundet und von ihm zu einer Schein-Entführung angestiftet wird, bricht die Gegenwart in ihre Welt ein.

TV-Premiere. Trotz einer schwachen zweiten Hälfte sehenswertes poetisches Drama, das in Cannes den Drehbuchpreis erhielt.

Mehr in meiner ausführlichen Besprechung.

mit Adriano Tardiolo, Agnese Graziani, Alba Rohrwacher, Luca Chikovani, Tommaso Ragno, Sergi Lopez, David Bennet, Nicoletta Braschi

Hinweise

Arte über den Film (in der Mediathek bis zu 17. November 2020)

Deutsche Homepage zum Film

Moviepilot über „Glücklich wie Lazzaro“

Metacritic über „Glücklich wie Lazzaro“

Rotten Tomatoes über „Glücklich wie Lazzaro“

Wikipedia über „Glücklich wie Lazzaro“ (deutsch, englisch, italienisch)

Meine Besprechung von Alice Rohrwachers „Glücklich wie Lazzaro“ (Lazzaro felice, Italien/Deutschland/Frankreich/Schweiz 2018)


Neu im Kino/Filmkritik: Ist Terry Gilliam „The Man who killed Don Quixote“?

September 29, 2018

 

Dieser Film ist schon jetzt legendär und jeder, der in den vergangenen Jahren Nachrichten aus der Welt des Films verfolgte, hat schon von Terry Gilliams Don-Quixote-Film gehört. Jahrzehntelange Vorbereitungen, zum Running Gag werdende Projektpräsentationen, mehrere Drehstarts, unzählige Katastrophen beim Filmdreh und die Vorlage für die hochgelobte Doku „Lost in La Mancha“ (2003) über die katastrophalen Dreharbeiten hielten das Projekt im Gespräch. Eigentlich hätte die Doku über einen Filmdreh, der innerhalb weniger Tage zu einem frühzeitigen Ende führte, das Ende sein können. Aber Gilliam gab nicht auf. Mit seinem Co-Drehbuchautor Tony Grisoni arbeitete er weiter am Drehbuch. Im Schnitt überarbeiteten sie in den vergangenen Jahren zweimal im Jahr das Drehbuch. Wenn es wieder die Chance auf eine Verfilmung gab, auch öfter.

Daher dürfte das jetzt verfilmte Drehbuch nur noch wenig mit der ersten Fassung zu tun haben. Ob es besser wurde, ist unklar. Gilliam und Grisoni sind jedenfalls davon überzeugt.

In jedem Fall ist die jetzt vorliegende und endlich in unsere Kinos kommende Fassung von „The Man who killed Don Quixote“ ein zutiefst persönlicher, auf vielen Ebenen und Metaebenen spielender Film, der selbstverständlich auch eine ordentliche Portion Monty Python hat. Und es ist eine Reise in den Wahnsinn, die auch die Reise von Don Quixote und Terry Gilliam ist. Obwohl Gilliam in Interviews normal und gesund wirkt.

Der Film beginnt mit Dreharbeiten in Spanien. Weil nichts funktioniert, wie Regisseur Toby (Adam Driver) es plant, ist er verzweifelt. Die Finanziers hängen ihm im Nacken. Der despotische und eifersüchtige Hauptfinanzier, im Film nur ‚der Boss‘ genannt, vertraut eines Abends Toby seine gutaussehende Frau an, unter der strengen Auflage, sich ihr nicht zu nähern. Selbstverständlich hält Toby sich nicht dran; was ihn in die Bredouille bringt.

Als ein Zigeuner ihm eine Kopie seines verschollen geglaubten Studentenfilms über Don Quixote (Äh, bekannt? Der Ritter, der mit seinem Knappen Sancho Panza auszog, um Drachen zu besiegen und gegen Windmühlen kämpft.) gibt, erinnert Toby sich an die glücklichen Tage beim Dreh.

Er besucht das in der Nähe liegende Dorf, in dem er damals drehte. Erschrocken stellt er fest, dass von der damaligen Schönheit des Dorfes nichts mehr geblieben ist. Die wenigen Dorfbewohner sind auch nicht erfreut darüber, dass er sie besucht.

Toby trifft auch seinen damaligen Don-Quixote-Darsteller (Jonathan Pryce) wieder. Als Toby ihn kennen lernte, war er der Dorfschuster. Heute hält er sich für Don Quixote.

Durch einen dummen Zufall setzt Toby eine Reihe Ereignisse in Brand und Gang, die schnell der Logik eines Alptraums gehorchen und die Terry Gilliam präsentiert, als handele es sich um eine sommerlich leichte, absurde Komödie, die sich nicht sonderlich um Logik und Wahrscheinlichkeit kümmert. Schon während des Feuers reitet Don Quixote los. Im Schlepptau hat er seinen Sancho Panza. Der ist in der Realität ein verzweifelter Werberegisseur, der ein idealistischer Filmstudent war. In dem Moment sind wir schon, ohne es zu Wissen, im Kopf des Künstlers. Dass Gilliams einen Weg in den Wahnsinn zeigt, fällt bei all den Witzen und absurden Episoden lange nicht auf.

Das ist als Spiel mit vielen Ebenen und filmischen und außerfilmischen Bezügen, die mal mehr, mal weniger offensichtlich sind, anfangs sehr vergnüglich. Aber dieses Spiel wird zunehmend redundant. Auch weil eine das kreative Chaos bändigende Struktur fehlt. Und die lange Entstehungsgeschichte mit ihren unzähligen Überarbeitungen wirkt sich nachteilig aus. Denn Gilliam wollte wirklich alles in den Film, den er seit fast dreißig Jahren machen wollte, hineinstopfen und niemand hinderte ihn daran. Am Ende dauert das überbordende Werk über zwei Stunden, die sich sogar noch länger anfühlen.

The Man who killed Don Quixote (The Man who killed Don Quixote, Spanien/Frankreich/Belgien/Portugal 2018)

Regie: Terry Gilliam

Drehbuch: Terry Gilliam, Tony Grisoni

mit Adam Driver, Jonathan Pryce, Stellan Skarsgård, Olga Kurylenko, Joana Ribeiro, Oscar Jaenada, Jason Watkins, Sergi López, Rossy de Palma, Hovik Keuchkerian, Jordi Mollá

Länge: 134 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

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Moviepilot über „The Man who killed Don Quixote“

Metacritic über „The Man who killed Don Quixote“

Rotten Tomatoes über „The Man who killed Don Quixote“

Wikipedia über „The Man who killed Don Quixote“ (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von Terry Gilliams „The Zero Theorem – Das Leben passiert jedem“ (The Zero Theorem, Großbritannien/Rumänien 2013)


Neu im Kino/Filmkritik: Der Cannes-Drehbuchgewinner „Glücklich wie Lazzaro“

September 17, 2018

Es ist ein schweres Leben, das die Landarbeiter auf dem Landgut der Marquesa Alfonsina de Luna irgendwo in Italien haben. Es ist auch ein einfaches Leben, das mehr an das 19. als an das 21. Jahrhundert erinnert. Auf den ersten Blick, auch weil der Gesandte der Marquesa mit einem Moped in das abgeschiedene Dorf einfährt und Transporte mit einem alten Laster erledigt werden, dürfte es sich um die fünfziger Jahr handeln. Also eine Zeit, als die alten Herrschaftsverhältnisse noch existierten und Männer den armen Süden verließen, um im Norden zu arbeiten. Wobei es dort auch nicht unbedingt besser war. Cineasten fallen jetzt etliche neorealistische Meisterwerke ein und in dieser Tradition steht Alice Rohrwachers neuer, in Cannes mit dem Preis für das beste Drehbuch ausgezeichneter,handlungsarmer, poetischer Film „Glücklich wie Lazzaro“. Der titelgebende Lazzaro ist ein junger, schüchterner Mann, der am Ende immer die Drecksarbeit machen muss. Er beklagt sich allerdings nie darüber. Und, selbstverständlich, ist sein Name nicht zufällig ausgewählt.

Langsam schleichen sich Irritationen in das immer wieder poetisch überhöht gezeichnete Bild des Landlebens. Tancredi, der Sohn der Marquesa, der gegen seinen Willen den Sommer auf dem Landgut verbringen muss, hat eine Frisur und ein T-Shirt, das nach den achtziger Jahren aussieht und es gibt Telefone, die noch moderner sind. Und je näher der Film so an die Gegenwart rückt, desto unglaubwürdiger wird das Bild der abgeschieden auf dem Land in einer selbstverschuldeten Unmündigkeit lebenden Gemeinschaft, die noch so lebt, wie vor hundert Jahren. Jedenfalls wenn man „Glücklich wie Lazzaro“ als neorealistischen Film und nicht als Märchen, als eine italienische Version des magischen Realismus, betrachtet.

Tancredi befreundet sich mit Lazzaro. Gleichzeitig nutzt er ihn aus, indem er ihn anstiftet, mit ihm seine Entführung vorzutäuschen. Tancredi will so eigentlich nur seine Mutter ärgern. Aber die Situation eskaliert so sehr, dass nach einem Anruf die Polizei auftaucht und die Herrschaft der Marquesa beendet. Denn sie hielt ihren Arbeiter unmündig wie Sklaven und enthielt ihnen Rechte vor, die sie schon lange hatten.

In dem Moment beginnt die zweite, deutlich schwächere Hälfte des Films. Während in der ersten Hälfte alles zusammen passte, erscheint hier vieles nur noch skizziert und viel zu oft widersprüchlich.

Jahre nachdem sie aus der Knechtschaft der Marquesa befreit wurden, leben die Landarbeiter in tiefster Armut in einer anonymen Großstadt. Eines Tages taucht Lazzaro wieder auf. Nach dem Sturz von einer Klippe müsste er eigentlich tot sein. Aber er überlebte den Sturz und, während die anderen Landbewohner älter wurden, sieht er noch so aus wie damals.

Während die erste Hälfte des Films tief im Neorealismus und dem Magischen Realismus steckt und ein sehr stimmungsvolles Bild des Landlebens und ein klares Bild feudaler Strukturen und Machtverhältnisse zeichnet, spielt die zweite Hälfte in der Welt von Aki Kaurismäki. Nur funktionieren hier die in der ersten Hälfte gesetzten Parameter nicht mehr. Auch das naive Verhalten von Lazzaro nervt zunehmend. Jedenfalls wenn man auf seiner Seite stehen soll. War er im ersten Teil noch der glückliche Naivling, ist er jetzt eine Art fehlgeleiteter Wiedergänger von Jesus. Seine Taten werden zunehmend unverständlicher und auch irrationaler. Außer man geht davon aus, dass dieser Lazarus den Herrschenden helfen will und er, wie ein Roboter, über keinen Hauch von Intelligenz verfügt. Nur: Soll das, in einer „Geschichte, die von der Möglichkeit des Gutseins erzählt“ (Rohrwacher), die Mission eines Heiligen sein?

Diese missglückte zweite Hälfte verdirbt sehr viel von dem guten Eindruck der ersten Hälfte des Films.

Glücklich wie Lazzaro (Lazzaro felice, Italien/Deutschland/Frankreich/Schweiz 2018)

Regie: Alice Rohrwacher

Drehbuch: Alice Rohrwacher

mit Adriano Tardiolo, Agnese Graziani, Alba Rohrwacher, Luca Chikovani, Tommaso Ragno, Sergi Lopez, David Bennet, Nicoletta Braschi

Länge: 128 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

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Rotten Tomatoes über „Glücklich wie Lazzaro“

Wikipedia über „Glücklich wie Lazzaro“ (deutsch, englisch, italienisch)


Neu im Kino/Filmkritik: Der Fast-Stummfilm „Michael Kohlhaas“

September 13, 2013

Ist „Michael Kohlhaas“ noch Schullektüre?

Egal. Die von Heinrich von Kleist in wuchtigen Sätzen aufgeschriebene Geschichte über Michael Kohlhaas dürfte bekannt sein. Der Pferdehändler lässt bei einem Junker für einen erfundenen Passierschein zwei Pferde als Pfand zurück. Er bekommt sie in einem erbärmlichen Zustand wieder und möchte, dass der Junker ihm die Pferde ersetzt. Dieser tut es nicht und Kohlhaas beginnt einen blutigen Feldzug gegen ihn.

Arnaud des Pallières verfilmte diese Geschichte mit Mads Mikkelsen in der Hauptrolle. Dabei nahm er sich, wie auch die Regisseure der anderen Kohlhaas-Verfilmungen, einige Freiheiten. So verlegte er die Geschichte von Brandenburg und Sachsen, wo sie bei Kleist spielt, in die Cévennen, verzichtete auf eine präzise historische Einordnung und lässt das Drama vor einer prächtigen Landschaft in eher dunklen Bildern langsam seinen Lauf nehmen. Dummerweise hat sich des Pallières auch entschlossen, möglichst wenig zu schneiden und die Dialoge beschränkte er auf ein Minimum. So wird sein Michael Kohlhaas zu einem schweigsamen Brüter, der seine Gefühle hinter einer steinernen Mine verbirgt. Auch die anderen Charaktere reden eher wenig reden. Leider.

Denn „Michael Kohlhaas“ ist kein banaler Abenteuerfilm, kein Quasi-Western, sondern eine zeitlose Parabel, in der es um das Verhältnis des Einzelnen zum Staat, um das Verhältnis von Recht und Gerechtigkeit, dem Unterschied zwischen gerechtfertigtem Widerstand und Selbstjustiz, zwischen Rebellion und Terrorismus, welchen Regeln man folgen soll und wann das Befolgen von Regeln in Fanatismus umschlägt, geht. Bei diesen vielfältigen Anknüpfungspunkten der im 16. Jahrhundert spielenden Geschichte an die Gegenwart, wäre es gut gewesen, wenn Arnaud des Pallières Michael Kohlhaas einen Gefährten zur Seite gestellt hätte, mit dem er sich hätte unterhalten können. So trägt Kohlhaas die Konflikte schweigend mit sich aus. Wir dürfen das maskenhaft-edle Antlitz von Mads Mikkelsen und die archaische Landschaft bewundern und uns fragen, ob man den Film nicht um etliche Minuten hätte kürzen können.

Michael Kohlhaas - Plakat

Michael Kohlhaas (Michael Kohlhaas, Frankreich/Deutschland 2013)

Regie: Arnaud des Pallières

Drehbuch: Arnaud des Pallières, Christelle Berthevas

LV: Heinrich von Kleist: Michael Kohlhaas, 1810

mit Mads Mikkelsen, Bruno Ganz, Denis Lavant, Mélusine Mayance, David Kross, Delphine Chullot, Sergi Lopez, Amira Casar, David Bennent

Länge: 122 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

Film-Zeit über „Michael Kohlhaas“

Moviepilot über „Michael Kohlhaas“

Rotten Tomatoes über „Michael Kohlhaas“

Wikipedia über „Michael Kohlhaas“ (deutsch, englisch, französisch)