TV-Tipp für den 22. Juni: Gattaca

Juni 21, 2024

ZDFneo, 22.00

Gattaca (Gattaca, USA 1997)

Regie: Andrew Niccol

Drehbuch: Andrew Niccol

In der nahen Zukunft gibt es im Labor entstandene, genetisch perfekte Menschen und natürlich entstandene Menschen, die nicht perfekt sind und deshalb nicht alles tun dürfen. Vincent will dennoch seinen Traum, Astronaut zu werden, verwirklichen. Unter falscher Identität und mit damit verbundenen Betrügereien bei Gen-Tests gelingt es ihm, im Raumfahrtkonzern Gattaca eine Stelle zu bekommen und in die engere Auswahl für eine wichtige Raumfahrtmission zu kommen. Wenn er nicht vorher entdeckt wird.

„Außergewöhnlich schöner Science-Fiction-Thriller, der in elegischem Ton von einer manipulierten Welt zwischen Kafka, Orwell und Huxley erzählt und – heute eine Seltenheit – mit einem Spezialeffekt (der Raketenstart) auskommt.“ (Fischer Film Almanach 1999)

Science-Fiction zum Nachdenken.

mit Ethan Hawke, Uma Thurman, Alan Arkin, Jude Law, Loren Dean, Gore Vidal, Ernest Borgnine, Blair Underwood, Xander Berkeley, Elias Koteas

Wiederholung: Sonntag, 23. Juni, 01.20 Uhr (Taggenau!)

Hinweise

Rotten Tomatoes über „Gattaca“

Wikipedia über „Gattaca“ (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von Andrew Niccols “Seelen” (The Host, USA 2013)


Im Verhörzimmer: Jeff Nichols über „The Bikeriders“

Juni 21, 2024

1968 veröffentlichte Danny Lyon den Bildband „The Bikeriders“. In ihm sind Bilder aus dem Leben und von Mitgliedern des Outlaws Motorcycle Club und Interviews, die er mit ihnen führte. Lyon war selbst mehrere Jahre Mitglied der Bikergang. Aber die Entstehung dieses Buch ist eine andere Geschichte, die hier jetzt nicht erzählt wird.

Vor zwanzig Jahren erhielt Jeff Nichols diesen Bildband von seinem älteren Bruder. Er war sofort fasziniert von den Fotografien und wollte das Buch verfilmen. Er wusst nur nicht, wie.

Als Lyon die Mitschnitte der Interviews veröffentlichte und Nichols Kathy reden hörte, hatte er eine Idee, wie er aus dem Bildband einen Film machen könnte.

Das tat er jetzt mit einer Riege bekannter Schauspieler, wie Jodie Comer als Kathy, die „Erzählerin“ des Films und Frau von Benny, Austin Butler als Benny, die Nummer 2 in der Bikergang, Tom Hardy als Johnny, Gründer und Anführer der fiktiven Bikergang Vandals, Michael Shannon, Norman Reedus und Boyd Holbrook als Mitglieder der Vandals und einer oft peinlich genauen Nachstellung der Bilder aus dem Bildband. Einige von Lyons Aufnahmen werden Im Abspann des Films gezeigt.

Obwohl Nichols viel Zeit und Mühe in eine authentische Rekreation der sechziger Jahre und dem Leben in einer Bikergang steckte und wahrscheinlich jeder andere Regisseur den Film als „eine wahre Geschichte“ oder als „inspiriert von einer wahren Geschichte“ verkauft hätte, erfand Jeff Nichols eine Bikergang. Im Interview erklärt er, warum er das tat.

The Bikeriders“ ist ein Film iwie ein Bildband, den man geruhsam durchblättert, in den vorzüglichen Fotografien versinkt und dabei den Text, eine ebenfalls vorzügliche Reportage, garniert mit Interviews, liest. Es ist ein guter Film mit Auslassungen. Die negativen Seiten der Motorradgangs, ihre Gewalttätigkeit, ihre Verbrechen und ihre politische Einstellung, werden kaum beleuchtet oder in die Zeit nach dem Filmende verschoben. „The Bikeriders“ hat auch keine emotional packende Geschichte nach den Regeln eines konventionellen Hollywood-Dramas. Sein Film ist eine Reportage über den Aufstieg und Niedergang des Gründers eines Motorradfahrerclubs und die Liebesgeschichte zwischen einer Frau, die als Fremde die Welt der Bikergangs betritt und sich in ein Mitglied der aus gesellschaftlichen Outsidern bestehenden Gruppe verliebt. Außerdem hat der Film ein wundervoll zwiespältiges, fast schon zynisches Ende, über das wir uns während des Interviews nicht unterhielten

Als Jeff Nichols vor einigen Tagen Berlin besuchte, unterhielten wir uns im Waldorf Astoria über den Weg zum Film, das Verhältnis von Fakten zu Fiktion, die Besetzung, die Struktur des Films, wie wichtig für ihn das von ihm geschriebene Drehbuch ist, in welchem Rahmen die Schauspieler improvisieren dürfen und das Thema des Films.

Frage

Seit zwanzig Jahren wollen Sie Danny Lyons Bildband „The Bikeriders“ verfilmen. Warum hat es so lange gedauert?

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Jeff Nichols

Mein Bruder Ben hat es mir damals gegeben. Ich bin der jüngste von drei Jungs. Ben ist mein ältester Bruder. Er spielt in einer Band namens Lucero. Er war immer der Coolste in unserer Familie. Und er hat mir das coolste Buch gegeben, das ich je gelesen habe. Erzählerisch war ich noch nicht weit genug. Ich wusste nicht, wie ich die Geschichte erzählen sollte. Ich verstand, was Danny getan hatte. Er war nicht nur ein Fotograf, sondern tatsächlich ein Anthropologe. Mit seinen Fotos und Interviews hatte er eine Subkultur in ihrer Gesamtheit eingefangen.

Als Filmemacher, der Menschen in eine Welt entführen will, mit der sie vielleicht nicht vertraut sind oder in der sie sich nicht wohl fühlen, braucht man all diese Details. Danny hatte sie alle auf wirklich schöne Weise gesammelt. Ich musste mir nur eine Handlung ausdenken, und das hat mich etwa 20 Jahre gekostet.

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Frage

Apropos Danny. Wenn ich es richtig verstehe, spielt in diesem Film nur Mike Faist eine reale Person. Alle anderen Figuren sind fiktionalisierte Versionen echter Menschen.

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Jeff Nichols

Alle Figuren sind fiktionalisiert. Sogar Dannys Version. Vor kurzem unterhielt ich mich mit Danny und er meinte, das sei das Einzige, was ihm an dem Film nicht gefalle. Er sei viel schmutziger als Mike Faist. Er nimmt die Tatsache, dass er selbst ein Rebell war, wirklich sehr ernst.

Es ist wirklich schwierig, das zu erklären oder darüber zu sprechen. Im Buch wurde eine echte Kathy interviewt. Es gab einen echten Mann namens Johnny, der diesen Club gegründet hat. Kathy war mit einem echten Mann namens Benny verheiratet. Andere Charaktere sind Amalgame. Da war ein Typ namens Brucie, aber er ist nicht so gestorben, wie ich es im Film erzähle. Ungefähr siebzig Prozent der Dialoge im Film sind wahrscheinlich direkt aus diesen Interviews übernommen. Aber die Handlung ist komplett von mir erfunden. Es gab nie diese Dreiecksbeziehung zwischen den drei Personen. Kathy war mit Benny verheiratet, aber ich habe keine Ahnung, wie Johnny sich fühlte. Johnny war in dem Buch keine wirklich wichtige Figur. Sie sind Menschen. Es ist also eine Art hybrider narrativer Dokumentarfilm.

Ich habe ziemlich schnell gemerkt, wenn Kathy heute noch leben würde und zu mir käme, könnte ich ihr nicht in die Augen sehen und sagen: „Ich habe deine Geschichte erzählt.“ Ich habe ihr Interview von 1965 genommen. Den Rest habe ich erfunden. Ich habe keine Ahnung, was mit Kathy danach passiert ist.

Also sagt man am besten, mein Film ist eine Erfindung, die stark von diesen Interviews und diesen Leuten beeinflusst ist.
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Frage

Sie sind Autor und Regisseur. Sie machen also beides. Was waren für Sie in „The Bikeriders“ und in „Loving“ (sein Drama über den Fall des Ehepaares Loving, der 1967 zu einem einsitmmigen Urteil des Obersten Gerichtshofs führte, das ein Verbot von Eheschließungen aufgrund von Rassenmerkmalen für verfassungswidrig erklärte) die Herausforderungen beim Erzählen einer Geschichte mit bereits existierende Charakteren?

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Jeff Nichols

Es war interessant, „The Bikeriders“ nach „Loving“ zu machen. Ich glaube nicht, dass ich diesen Film ohne „Loving“ hätte machen können. Es sind zwei völlig unterschiedliche Projekte. Nicht nur ästhetisch oder erzählerisch, sondern auch in der Art und Weise, wie ich an sie herangegangen bin. Bei „Loving“ wollte ich mir nichts ausdenken. Als weißer, 1978 geborener Mann aus der Mittelschicht war es nicht meine Aufgabe, ihre Geschichte zu fiktionalisieren. Meine Aufgabe war es, so viel wie möglich über sie als Menschen zu erfahren und sie so angemessen wie möglich darzustellen. Das war bei „The Bikeriders“ anders.

Ich interessiere mich eigentlich nicht sehr für die Motorradkultur. Die heutigen Biker-Gangs sind mir vollkommen egal. Was mich interessierte, waren die Menschen, die Danny interviewte. Irgendwann wurde mir klar, dass mir die Fiktionalisierung die Freiheit geben würde, näher an das Buch heranzukommen. Es gibt ein Gefühl, das man bekommt, wenn man das Buch liest und wenn man sich die Fotos ansieht. Es gibt eine Spannung zwischen den Fotos und den Interviews. Die Fotos sind romantisch. Sie sind wunderschön. Die Interviews sind manchmal bösartig, manchmal humorvoll. Aber die Fassade ist definitiv weg. Zwischen ihnen entsteht eine Spannung. Um das im Film zu erreichen, musste ich es fiktionalisieren. Wenn ich mich der Herausforderung gestellt hätte, nur zu versuchen, die Geschichte der Chicago Outlaws zu erzählen, den echten Club, den Danny fotografierte und der zur zweitgrößten Motorradgang der Welt wurde, dann wäre das nicht die Geschichte, die mir wichtig war. Die Geschichte, die mir wichtig war, waren die Menschen.
Also brauchte ich die Freiheit, alles drumherum fiktionalisieren zu können, damit ich tatsächlich zu dem gelangen konnte, was ich für das Wesentliche hielt.

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Frage

Austin Butler sieht in seiner Rolle wie James Dean aus. War sein Aussehen von Anfang an geplant?

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Jeff Nichols

Ich würde sagen, es liegt nicht am Aussehen. Es war etwas, das ich beim Drehen entdeckt habe und das sich beim Schnitt noch vertieft hat, und es war eine Fehlkalkulation meinerseits. Wenn diese echte Frau, Kathy, über den Mann spricht, den sie geheiratet hat, Benny, spricht sie davon, dass er emotional nicht erreichbar war. Er ist innerlich irgendwie tot. Austin Butler ist dagegen so unglaublich charmant. Beim Dreh sagte ich immer wieder zu ihm: „Hör auf zu lächeln.“ „Nein, hör auf zu lächeln.“ Und er konnte es nicht. Er konnte nicht anders. Ich sagte: „Nein, du musst emotional nicht erreichbar sein. Du musst innerlich tot sein.“ Aber ich hatte Austin Butler, der das Gegenteil von innerlich tot ist.
Er ist voller Emotionen, aber sein Mund ist verschlossen. Er kann nicht reden. Das ist James Dean. Wenn Sie sich „Rebel Without a Cause“ (… denn sie wissen nicht, was sie tun) ansehen, ist da ein Mann, der nicht in der Lage ist, all das auszudrücken, was in ihm vorgeht. Wir hatten das Glück, dass Austin Butler dabei war. Er war besser als sein Regisseur.

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Frage

Ist „The Bikeriders“ der neue „Easy Rider“ oder „The Wild One“ (Der Wilde) (In „The Bikeriders“ wird er im Fernsehen gezeigt. Danach gründet Johnny die Vandals) für unsere Generation oder ist er etwas völlig anderes?

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Jeff Nichols

Ich denke, mein Film ist etwas Eigenes. Die von ihnen genannten Filme waren repräsentativ für ihre Zeit.

Wenn man sich „The Wild One“ ansieht, ist er sehr stark ein Produkt des Studiosystems der fünfziger Jahre. Er beginnt mit diesem kitschigen Bild von Marlon Brando auf einem falschen Motorrad mit einer Rückprojektion hinter ihm. Heute sieht das fast absurd aus. Trotzdem hat „The Wild One“, was ich faszinierend finde, die Idee der Rebellion besser auf den Punkt gebracht als vielleicht irgendjemand davor oder danach. Wogegen rebellierst du? Was willst du? Ich kann mir nicht vorstellen, dass es einen Teenager auf der Welt gibt, der dem nicht zustimmt, oder ein Punkrock-Kid. Das Erstaunliche ist, dass man dann fünfzehn Jahre später „Easy Rider“ sieht. Was zum Teufel ist in diesen fünfzehn Jahren in der Gesellschaft und in der Kultur passiert, um ihr jetzt diesen Gegenkultur-Drogenfilm zu geben? Er ist im Grunde ein unabhängiger amerikanischer Film, der aus einem völlig anderen System als „The Wild One“ hervorgegangen ist. Und was auch immer passiert ist, darüber wollte ich einen Film machen. Das, was diese beiden Filme verbindet, ist das, worüber ich einen Film machen wollte.

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Frage

Sie zeigen uns eine Männerwelt aus der Sicht einer Frau. Das finde ich interessant. Ich denke, der Film wäre anders, wenn Sie ihn aus der Perspektive von Johnny oder Benny erzählen würden. Warum haben Sie sich für Kathy entschieden?

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Jeff Nichols

Der pragmatische Grund ist, dass sie die interessanteste Person ist, wenn man sich die Interviews im Buch durchliest. Sie ist nachdenklich. Sie ist selbstironisch. Sie ist manchmal verärgert. Sie ist eine echte Person aus Fleisch und Blut, die sich mit der Realität auseinandersetzt und sich fragt, warum sie sich mitten in dieser Welt befindet. Ich habe mich in sie verliebt. Wenn man den Film nur aus der männlichen Perspektive erzählt hätte, wäre er zu schwer.

Einer der Subtexte des ganzen Films ist, dass die Männer sich nicht ausdrücken können. Warum sollte ich einen von ihnen als Erzähler auswählen? Der Film würde sich falsch anfühlen. Er wäre gestellt. Es wäre auch sehr schwierig, zum Kern der Sache vorzudringen. Aber dann ist da Kathy. Sie denkt nach. Das kann man in den Interviews lesen. Es fühlt sich an, als würde sie beim Sprechen versuchen, herauszufinden, was in ihrem Leben vor sich geht.

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Frage

Können Sie uns ein bisschen etwas über die Struktur erzählen? Sie erzählen die Geschichte nicht gerade heraus, sondern mehrfach gebrochen. Sie blicken aus der Gegenwart auf die Bikerkultur von vor sechzig Jahren zurück. Dafür benutzen sie einen Bildband und einen Reporter, der Interviews führte und in den Interviews erzählt eine Frau, wie sie eine Männergesellschaft erlebt. Die Erzählungen der Frau bilden dann das Rückgrat der Filmgeschichte.

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Jeff Nichols

Also, ich werde jetzt einiges erzählen und vielleicht beantwortet das ihre Frage.

Es gibt nur eine Szene, die ich aus diesem Film herausgeschnitten habe, und zwar eine Szene nur mit Mike Faists Charakter Danny. Es war die einzige Szene ohne Biker, und ich erinnere mich: als wir sie drehten, sagte Mike Faist zu mir: „Du wirst das niemals in den Film aufnehmen.“ Ich sagte: „Auf keinen Fall. Dies ist meine Gelegenheit, durch die Figur Danny meinen Standpunkt zu vertreten. Hier sage ich, warum es wichtig ist, mit diesen Leuten zu sprechen.“ Ich wettete mit ihm um 1000 $, dass sie drin bleiben würde.

In der Szene versuchte ich, meinen eigenen Kommentar einzubringen. Es war eine Szene zwischen Danny und einer Frau, mit der er aufs College gegangen ist. Sie waren in seinem dunklen Zimmer, der nur sein Badezimmer war. Sie sitzt da, raucht einen Joint, sieht sich seine Fotos an und fragt: „Wie kannst du mit diesen Leuten reden?“ Er gibt eine Antwort, die halb Blödsinn, halb wahr ist. Und eigentlich war ich es, der euch ansieht und die Frage stellt, warum er das gemacht hat. Ich erkannte, dass es für die Erzählung nicht wichtig war. In der Erzählung können wir darüber reden und ich kann euch meine Antwort geben, aber die Wahrheit ist, dass wir in der Filmerzählung nicht von diesen Leuten ablenken wollten. Wir wollten auf Kurs bleiben.

Es war die erste Szene, die ich aus dem Film herausgeschnitten habe. Ich hatte sie nicht einmal im Rohschnitt.

Diese Szene war direkt vor der Szene mit dem roten Kleid. In dem Moment wart bereit für die Veränderung im Film. Ich weiß also nicht, ob das ihre Frage direkt beantwortet, aber es ist definitiv Teil meines Prozesses, zu verstehen, wo mein Standpunkt hineinpasst. Und die Wahrheit ist, dass er nicht direkt in diesen Film passte.

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Frage

Die Besetzung ist offensichtlich eine All-Star-Besetzung und es ist nicht so sehr die Frage, warum Sie diese Schauspieler engagierten, sondern warum Sie sie für diese Charaktere auswählten. Können Sie uns etwas darüber erzählen?

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Jeff Nichols

Wir hatten das Glück, Mike Faist für diese Rolle zu bekommen. Diese Rolle hätte ein Mauerblümchen sein können. Es hätte jemand sein können, der einfach nur da sitzt und wartet bis er die paar Zeilen zu sagt, die er hatte. Aber Mike ist ein wirklich kluger Kerl. Er interessiert sich für Kunst. Er interessiert sich dafür, wie die Dinge funktionieren. Er schreibt selbst ein Drehbuch und möchte, glaube ich, selbst Filmemacher werden. Was man also statt eines Mauerblümchens bekommt, ist ein Mensch, der wirklich zuhört. Wenn ich also zu ihm zurückschneide ist da ein anderer Blick und er unterscheidet sich stark von den Bikern. Das hilft, weil er wirklich ein Außenseiter ist.

Ich denke, das ist ein Grund, warum der echte Danny sich nicht mit dieser Figur identifiziert. Danny hat große Anstrengungen unternommen, um sich schmutzig zu machen und ein Teil dieser Welt zu werden, damit die Jungs sich wohl genug fühlten, um sich ihm zu öffnen. Das war ein Teil, den wir anders gestaltet haben.

Wenn Sie nach dem Rest der Besetzung fragen, hatte ich wirklich Glück. Das Casting ist ein so kniffliger Prozess, weil es wirklich der wichtigste Teil ist. Ich habe Austin Butler gecastet, bevor „Elvis“ herauskam. Wissen Sie, es gibt etwas Interessantes über Benny in dem Buch. Es gibt mehrere Fotos von ihm, aber sie zeigen nie sein Gesicht und er wird nie direkt interviewt. Er wird nur von Kathy erwähnt. Er ist irgendwie mythologisch und ich habe ihn als eine solche Figur geschrieben. In der ersten Stunde des Films fühlt er sich fast wie eine Legende an. Und dann ändert sich das, wenn man Austin Butler persönlich trifft.

Er kann die Last dieser Mythologie tragen. Körperlich ist er wunderschön. Gleichzeitig steckt in ihm all das andere Zeug, über das wir gesprochen haben. Er war der erste Schauspieler, den ich für die Rolle traf, und ich habe ihn sofort engagiert.

Jodie Comer war ein Vorschlag meiner unglaublichen Casting-Direktorin Francine Maisler. Sie meinte, ich solle Jodie Comer einfach dazu bringen, die Rolle anzunehmen. Das einzige Mal, dass Francine das zuvor zu mir gesagt hat, war als sie mir für „Midnight Special“ Adam Driver empfahl. Also lernte ich, auf Francine zu hören, und glücklicherweise sagte Jodie zu. Danach sah ich sie in London in dem Ein-Frauen-Stück „Prima Facie“, das im West End lief. Ich war eigentlich in London, um Tom Hardy zum ersten Mal zu sehen. Als ich aus dem Stück kam, dachte ich, das ist die beste Aufführung, die ich je gesehen habe, und sie ist in meinem Film die Hauptdarstellerin. Ich hatte das Gefühl, ein Ass im Ärmel zu haben.

Sie ist wirklich eine der besten Schauspielerinnen, mit denen ich je gearbeitet habe. Und dann ist da noch Tom Hardy, bei dem wir einfach Glück hatten, dass er zusagte. Tom Hardy ist kein traditioneller Schauspieler. Tom Hardy ist eine Naturgewalt. Wirklich. Er ist wie ein Tornado oder ein Hurrikan oder ein Zugunglück. Man kann einfach nicht die Augen von ihm abwenden. Und er ist gefährlich und sexuell. Seine Figur wird durch Tom Hardy unglaublich verbessert. Diese Szene am Lagerfeuer, in der er Austin so nahe kommt, und es ist so sinnlich und gefährlich und unangenehm und erstaunlich. Das ist alles Tom Hardy. Es war nicht so geschrieben. Die Zeilen sind alle gleich, aber die Art, wie er ihn vorgetragen hat, war außergewöhnlich.

Das gleiche gilt für Michael Shannon. Es gibt einen Monolog, den er am Lagerfeuer hält, und ich habe ihn ziemlich wörtlich aus dem Buch übernommen. Kennen Sie die Geschichte von einem Typen, der am Abend vor der Sitzung des Einberufungsausschusses so betrunken ist, dass seine Mutter ihn aus dem Bett ziehen muss? Und dann stinkt er nach Wein und fällt bei den Tests durch. Bevor wir die Szene filmten, kommt Mike Shannon zu mir. Normalerweise reden wir nicht. Wir proben nicht, weil er so verdammt schlau ist. Wissen Sie, er macht einfach, was er tun muss. Aber er kommt zu mir und sagt: „Jeff, du findest das ziemlich lustig, oder?“ Ich antworte: „Ja, ich finde es ziemlich lustig, oder?“ Er entgegnet: „Ich finde es überhaupt nicht lustig.“ Ich dachte mir: „Also gut, zeig mir, wie du das siehst.“ Wir waren in der ersten Woche des Drehs. Er setzt sich hin und versammelt all diese jungen Schauspieler um das Lagerfeuer. Sie schauen ihn an. Allein das war schon ziemlich erstaunlich. Er fängt an, die Geschichte zu erzählen und alle lachen.

Dann kommt er zu der Stelle, an der der Musterungsbeamte ihm sagt: „Wir wollen dich nicht. Du bist eine unerwünschte Person. Wir wollen dich nicht.“ Karl Glusman, ein unglaublicher junger Schauspieler, lacht. Mike sieht ihn an und dann lachte niemand mehr. Mike nahm eine wirklich gute Rede, die ich für ihn geschrieben hatte, und macht sie großartig, weil er im Grunde in einem Rutsch die Psychologie dieser Typen enthüllt. Er zeigt, warum sie die Mainstream-Gesellschaft ablehnen, sich aber trotzdem verletzt fühlen, wenn sie als Außenseiter betrachtet werden. Das ist eine wirklich seltsame Sache. Es ist eine seltsame Psychologie, die er in dieser einen Rede perfekt auf den Punkt bringt. Das ist Michael Shannon. Ihm verdanke ich meine Karriere.

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Frage

Haben sie in dem Film eine Lieblingsszene?

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Jeff Nichols

Das ist schwierig. Der Film hat viele großartige Momente. Aber einer sticht heraus. Es gibt eine Szene, in der Tom Hardys Charakter am Ende des Films zu Kathys Haus kommt. Sie geht auf die Veranda hinaus. Ich liebe diese Szene, denn hier ist dieser Mann, der unfähig ist, danach zu fragen, was er wirklich will. Tom schafft es großartig, das in sich hineinzufressen und irgendwie zu unterdrücken. Aber es ist das, was Jody macht, während er spricht. Sie fragt immer wieder, was er braucht. Am Ende sagt er diese eine Zeile, die ich geschrieben habe, dass man alles, was man hat, in eine Sache stecken kann und diese trotzdem tut, was sie tun will. Und so denke ich sehr über das Filmemachen und das Leben im Allgemeinen.

Aber sie fragt ihn wieder: „Was brauchst du?“ Und er sagt nichts. Und sie macht diese Sache, wenn sie dich packt und mit ihren Augen verrät, dass sie erkennt, dass dieser Mann nicht in der Lage ist, zu sagen, was er wirklich sagen will. Er will sagen, ich will Benny sehen. Ich bin in Benny verliebt. Ich will mit dir reden. Denn wenn ich nicht mit Benny reden kann, bist du die Person, die am nächsten an der Person ist, die wir miteinander geteilt haben. Wir haben diesen jungen Mann miteinander geteilt und ich liebe ihn und ich habe Angst zu sterben und ich habe Angst davor, wo mein Platz in der Welt ist. Alles das will er sagen und er kann nichts davon sagen. Sie akzeptiert das. Es ist fast so, als würde sie ihn mit diesem Blick, den sie ihm zuwirft, aus der Verantworung entlassen. Und ich liebe es einfach. Ich liebe ihre Leistung in diesem Moment einfach.

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Frage

Können sie uns etwas über ihren Regiestil erzählen und wie sehr sie sich bei den Dreharbeiten an ihr Buch halten. Es gibt ja Regisseure, die keine Änderungen zulassen und andere, bei denen beim Dreh viel improvisiert wird.

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Jeff Nichols

Ich mag es nicht, wenn die Schauspieler den Dialog ändern. Ich verbringe viel Zeit mit meinen Drehbüchern und führe beim Schreiben Regie auf dem Papier. Ich kann den Film in meinem Kopf sehen. Aber dann haben Sie eine Szene, und ich habe bereits darüber gesprochen, wie Tom Hardy und Austin Butler, die von diesem Lagerfeuer gestört werden. Diese Szene ist so geschrieben, dass sich zwei Männer gegenüberstehen. Der ältere Mann sitzt auf der Kante seines Motorrads. Er steht irgendwann auf, stellt sich vor ihn und bietet ihm den Knüppel an. Ich glaube, ich habe geschrieben, dass der Knüppel ihn an der Brust berührt. Näher kommen sie sich nicht. Weil wir auf Film drehen ist das, vor allem wenn man nachts dreht, sehr schwierig. Es erfordert viel Vorbereitung. Und wir wollten diesen Film nachts auf Film drehen. Also mussten wir vorab beleuchten. Wir mussten festlegen, wo unser Kran steht. Wir hatten diese große Lampe, die diese spezielle Art von Natriumdampflicht auf diese Schauspieler werfen sollte. Und ich sagte, also, wenn hier die beiden Schauspieler sind, stellen wir einfach den Kransockel hierhin. Denn ich werde eine Über-die-Schulter-Kamera so und eine Über-die-Schulter-Kamera so machen. Unsere Kamera wird sich nie in die Richtung des Krans schwenken. Und dann steigt Tom Hardy von seinem Motorrad und kommt immer näher und näher. Mein Steadicam-Operator muss sich bewegen und was eine Einzelaufnahme sein sollte, wird zu einer Zweieraufnahme. Ich sehe zu meinem Kamermann Adam Stone rüber. Er senkt seinen Kopf, weil wir die Szene anders ausgeleuchtet haben. Toms Gesicht wird dunkel. Aber er ist so verdammt gut. Er neigt seinen Kopf. Und dieser Lichtstrahl fällt auf sein Gesicht und dann sieht es plötzlich so aus, als würde er Austin küssen. Das ist das Sexuellste, was ich je gesehen habe. Ich konnte es nicht glauben. Er hat alle Zeilen genau so gesagt, wie sie geschrieben waren. Aber durch sein Spiel ist es eine völlig andere Szene.

Wenn wir also über Improvisation sprechen, wenn wir darüber sprechen, was Schauspieler mitbringen, geht es um diese ganze Welt. Du kannst ein sehr gutes Drehbuch haben und sie können es großartig machen.

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Frage

Ihr Film hat mich auf vielen Ebenen berührt. Trotzdem war für mich das Wichtigste, dass Sie uns eine universelle Geschichte über Identität erzählen. Ich frage mich, wie wir unsere Identität aufbauen. Was sind die Einflüsse in unserem Leben? Ich glaube, wir alle möchten Teil von etwas Größerem sein und unserem Leben Sinn geben.

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Jeff Nichols

Wahrscheinlich ist die Suche nach Identität die treibendste Kraft, die es derzeit in der Gesellschaft gibt. Teilweise wegen der sozialen Medien. Jetzt möchte jeder berühmt sein. Aber in Wirklichkeit möchte jeder einzigartig sein, weil jeder seinem Leben einen Sinn geben möchte. Ich meine, wir müssen jeden Tag aus dem Bett aufstehen. Warum sollten wir einen Fuß vor den anderen setzen? Weil wir einzigartig sind. Unsere Identität, sei es durch unser Geschlecht, unsere Rasse, unsere sexuelle Orientierung, was auch immer wir wählen, je einzigartiger es ist, desto mehr Sinn haben wir. Aber weil wir Menschen sind, schließen wir uns zusammen. Wir fühlen uns zu Gruppen hingezogen. Und je einzigartiger diese Gruppe ist, desto einzigartiger wird möglicherweise deine Identität sein.

Aber wir fühlen uns auch zu gefährlichen Dingen hingezogen. Das ist Teil der menschlichen Natur. Wenn wir mit Dingen in Verbindung gebracht werden, die uns töten können, macht uns das lebendiger und unsere Identität wird prägnanter und spezifischer. Wenn Sie sich zum Beispiel ein Motorrad ansehen, ist da eine Spannung in einem Motorrad. Es ist wunderschön. Sie wollen darauf steigen, Sie wollen es fahren. Es steht für Freiheit und kann Sie in einem Sekundenbruchteil töten. Wenn Sie also auf einem Motorrad sitzen, sind Sie lebendiger.

Vielleicht fühlen sich die Leute deshalb zu diesen Gruppen hingezogen. Das kann eine äußerst positive und kraftvolle Sache sein. Es kann aber auch eine sehr, sehr gefährliche Sache sein. Ich denke, bei „The Bikeriders“ geht es um beides.

The Bikeriders (The Bikeriders, USA 2023)

Regie: Jeff Nichols

Drehbuch: Jeff Nichols

LV: Danny Lyon: The Bikeriders, 1968

mit Jodie Comer, Austin Butler, Tom Hardy, Michael Shannon, Mike Faist, Norman Reedus, Boyd Holbrook, Damon Herriman, Beau Knapp, Emory Cohen, Karl Glusman, Toby Wallace, Paul Sparks, Will Oldham

Länge: 117 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Moviepilot über „The Bikeriders“

Metacritic über „The Bikeriders“

Rotten Tomatoes über „The Bikeriders“

Wikipedia über „The Bikeriders“ (deutsch, englisch) und Jeff Nichols (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von Jeff Nichols‘ „Midnight Special“ (Midnight Special, USA 2015)

Meine Besprechung von Jeff Nichols‘ „Loving“ (Loving, USA/Großbritannien 2016)


TV-Tipp für den 21. Juni: Schwarzer Sonntag

Juni 20, 2024

BR, 22.50

Schwarzer Sonntag (Black Sunday, USA 1977)

Regie: John Frankenheimer

Drehbuch: Ernest Lehman, Kenneth Ross, Ivan Moffat

LV: Thomas Harris: Black Sunday, 1975 (Schwarzer Sonntag)

Palästinensische Terroristen planen einen Anschlag auf ein vom us-amerikanischen Präsidenten besuchtes Footballspiel.

Spannender Thriller, der inzwischen wieder erschreckend aktuell ist.

Mit Robert Shaw, Marthe Keller, Bruce Dern, Fritz Weaver

Hinweise

Rotten Tomatoes über „Schwarzer Sonntag“

Wikipedia über „Schwarzer Sonntag“ (deutsch, englisch)

Meine Bepsrechung von John Frankenheimers „Die jungen Wilden“ (The Young Savages, USA 1960)


TV-Tipp für den 20. Juni: Alles was kommt

Juni 19, 2024

WDR, 23.15

Alles was kommt (L’Avenir, Frankreich/Deutschland 2016)

Regie: Mia Hansen-Løve

Drehbuch: Mia Hansen-Løve

Eine Philosophie-Lehrerin (Isabelle Huppert) wird nach 25 Jahren von ihrem Mann verlassen, ihre Mutter stirbt und ihr Verleger sagt ihr nach einem Disput über den Relaunch einer von ihr herausgegebenen Reihe, dass ihre Dienste nicht mehr benötigt werden. Danach fragt sie sich, was sie mit ihrem Leben und der neu gewonnenen Freiheit anfangen soll.

Hochgelobtes Drama

mit großer Leichtigkeit, zugleich mit viel Gelassenheit und Klarheit erzähltes Porträt einer nicht mehr jungen bürgerlich-intellektuellen Frau“ (Lexikon des internationalen Films)

mit Isabelle Huppert, André Marcon, Roman Kolinka, Edith Scob

Hinweise

Filmportal über „Alles was kommt“

AlloCiné über „Alles was kommt“

Rotten Tomatoes über „Alles was kommt“

Wikipedia über „Alles was kommt“ (deutsch, englisch, französisch)


Neu im Kino/Filmkritik: „Sting“, die Spinne ist groß und hungrig

Juni 19, 2024

Erinnert ihr euch noch an die alten Monsterfilme, in denen ein kleines Krabbeltier plötzlich sehr groß und sehr hungrig wird und sich hauptsächlich von Menschen ernährt? Die Menschen finden das nicht so gut und vernichten nach ungefähr siebzig, achtzig Filmminuten das Tier mit brachialer Gewalt. Und haben euch diese Filme gefallen?

Gut. Denn „Sting“ ist so ein Film. Hundertfünfzigprozentig. Angemessen vielversprechend beginnt er mit der Vernichtung des Kammerjägers. Danach springt die Filmgeschichte vier Tage zurück. Die zwölfjährige Charlotte findet in dem alten, heruntergekommenem New Yorker Mietshaus, in dem sie mit ihren Eltern wohnt, eine etwas seltsam aussehende Spinne. Sie nimmt sie gefangen, nennt sie Sting, füttert sie und beobachtet fasziniert ihr rapides Wachstum und ihren Hunger. Kurz darauf sprengt sie das Einmachglas, in dem sie gefangen gehalten wurde, und verschwindet in den riesigen Luftschächten des Hauses und ernährt sich von immer größeren Lebewesen.

Während die Spinne durch das Haus kraxelt, lernen wir die wenigen Bewohner des Hauses kennen.

Das sind Charlottes Eltern – ihre Mutter und ihr Stiefvater, ein Comiczeichner, mit dem sie eine Geschichte über ein Spinnenwesen erfindet -, ihr kleiner Bruder, der noch ein Baby ist, ein nerdischer Student, der in seinem Zimmer ein halbes Versuchslabor für Tiere aufgebaut hat und von der schnell wachsenden Spinne fasziniert ist, eine schwerhörige alte Dame, die anscheinend nichts mitbekommt (aber natürlich mehr mitbekommt, als die anderen vermuten) und einige weitere Haustiere und Mieter, die vor allem Spinnenfutter sind. Wie der Kammerjäger, der immer gerufen wird, wenn es seltsame Geräusche in den Haus gibt.

Für den kundigen Horrorfilmfan verläuft in Kiah Roache Turners Film, mit einigen eingestreuten Anspielungen auf ältere Horrorfilme, alles in wohlig vertrauten Bahnen. Sein Tierhorrorfilm steht eindeutig und bewusst in der Tradition der alten B-Pictures aus den fünfziger und sechziger Jahren, die deutlich unter neunzig Minuten laufen und die früher im Nachmittagsprogramm des Fernsehens liefen. Er würde auch gut als eine 45-minütige „Twilight Zone“-Episode funkionieren.

Sting“ ist ein netter kleiner, schwarzhumoriger, etwas lang geratener Grusler.

Sting (Sting, Australien 2024)

Regie: Kiah Roache Turner

Drehbuch: Kiah Roache Turner

mit Noni Hazlehurst, Jermaine Fowler, Alyla Browne, Robyn Nevin, Ryan Corr, Kate Walsh, Penelope Mitchell

Länge: 92 Minuten

FSK: ab 16 Jahre

Hinweise

Moviepilot über „Sting“

Metacritic über „Sting“

Rotten Tomatoes über „Sting“

Wikipedia über „Sting“


TV-Tipp für den 19. Juni: Das schreckliche Mädchen

Juni 18, 2024

R. i. P. Michael Verhoeven (13. Juli 1938 – 22. April 2024)

3sat, 23.10

Das schreckliche Mädchen (Deutschland 1990)

Regie: Michael Verhoeven

Drehbuch: Michael Verhoeven

Die Musterschülerin Sonja will einen Aufsatz über die Nazi-Vergangenheit ihres Heimatortes schreiben. Das kommt dort nicht so gut an. Vor allem weil sie nach den ersten Widerständen nicht aufgibt, sonder hartnäckig weiterfragt.

Michael Verhoeven ließ sich für sein Drama von dem Fall Anna Elisabeth Rosmus inspirieren. 1980 wollte die Passauerin für einen Schülerwettbewerb einen Aufsatz über Passau während der Nazi-Zeit und den Umgang mit den einheimischen Juden schreiben. Sie stieß auf heftige Widerstände, wurde als Nestbeschmutzerin angesehen und erhielt auch Morddrohungen.

engagierter Gegenwartsfilm (…) Verhoeven hat in seiner politischen Moritat in Sachen kollektiver Verdrängung den Humor nicht vergessen.“ (Fischer Film Almanach 1991)

Der Film erhielt 1990 auf der Berlinale den Silbernen Bären. Er war auch für den Golden Globe und den Oscar als bester ausländischer Film nominiert und erhielt in dieser Kategorie den BAFTA.

mit Lena Stolze, Monika Baumgartner, Michael Gahr, Fred Stillkrauth, Elisabeth Bertram

Hinweise

Filmportal über „Das schreckliche Mädchen“

Wikipedia über „Das schreckliche Mädchen“ (deutsch, englisch)


Im Verhörzimmer: Hans Block und Moritz Riesewieck über „Eternal You – Vom Ende der Endlichkeit“: KI-Traum oder Albtraum?

Juni 18, 2024

Was wäre, wenn ich nach dem Tod weiterhin mit meiner großen Liebe reden könnte? Wenn sie mir weiterhin gute Ratschläge geben könnte? Auch zu Dingen, die es noch nicht gab, als sie starb? Oder meine Mutter, auch Jahre nach ihrem Tod, mit ihren Kindern und Enkelkindern, die sie zu Lebzeiten nie kannte, reden könnte? Bis vor kurzem war das eine Vorstellung aus einem Science-Fiction-Roman (falls der Autor sie nicht zugunsten einer besseren Idee über denkende Computer verworfen hätte). Jetzt kann dieses Gedankenspiel, mit der Hilfe von Künstlicher Intelligenz, von jedem, der einen Computer hat, ausprobiert werden.

Schon heute bieten findige Geschäftsleute Programme an, in denen Avatare von toten Menschen geschaffen werden. Diese digitalen Klone unterhalten sich dann mit den Hinterbliebenenen über Gott und die Welt.

Wie weit die Technik ist, was Entwickler über ihre Progamme und die damit verbundenen Anwendungen denken, was Benutzer sich von ihnen erhoffen, welche Gefahren und Chancen solche digitalen Klone von Verstorbenen für die Trauernden haben und, als Randthema, welche Abhängigkeiten entstehen können thematisieren Hans Block und Moritz in ihrem neuen Film „Eternal You – Vom Ende der Endlichkeit“. Vor sechs Jahre erhielten sie euphorische Kritiken für ihr Dokumentarfilmdebüt „The Cleaners“ (über Content-Moderatoren in sozialen Netzwerken).

Eternal You – Vom Ende der Endlichkeit“ ist in den vergangenen Jahren an der Grenze zwischen dem damaligen Nicht-Wissen über Künstliche Intelligenz und der heutigen allgemeinen Verfügbarkeit von KI entstanden. Als sie mit den Dreharbeiten begannen, war KI ein Spezialistenthema. Heute ist es, dank allgemein verfügbaren Programmen wie ChatGPT, ein breit diskutiertes Thema mit vielen Hoffnungen, Befürchtungen und Unwissen.

In ihrem Dokumentarfilm verzichten Block und Riesewieck auf plakative Bewertungen. Sie zeigen eine Anwendung von Künstlicher Intelligenz und wie sie sich auf die Gesellschaft auswirken könnte. Denn noch steckt diese, wie auch viele andere KI-Anwendungen, in den Kinderschuhen. Deshalb ist „Eternal Your“ ein Film, der in den Tagen und Wochen nach dem Kinostart am Donnerstag, den 20. Juni 2024, Diskussionen initiieren sollte.

Für mich war das ein Grund, mich vor dem Kinostart mit den beiden Regisseuren Hans Block und Moritz Riesewieck zusammen zu setzen und mit ihnen über „Eternal You – Vom Ende der Endlichkeit“ zu reden.

Eternal You – Vom Ende der Endlichkeit (Deutschland/USA 2024)

Regie: Hans Block, Moritz Riesewieck

Drehbuch: Hans Block, Moritz Riesewieck

Länge: 90 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Homepage zum Film

Filmportal über „Eternal You“

Moviepilot über „Eternal You“

Metacritic über „Eternal You“

Rotten Tomatoes über „Eternal You“

Wikipedia über „Eternal You“ (deutsch, englisch)


Cover der Woche

Juni 18, 2024

Lesetipp!!!


TV-Tipp für den 18. Juni: Nachtschicht: Blut und Eisen

Juni 17, 2024

ZDFneo, 20.15

Nachtschicht: Blut und Eisen (Deutschland 2021)

Regie: Lars Becker

Drehbuch: Lars Becker

Kevin Kruse, nicht gerade die hellste Birne in Hamburg, gelernte Koch und Nazi, nimmt kurz vor einem Bewerbungsgespräch ein Video auf, in dem er droht, den künftigen Arbeitgeber umzubringen, wenn er den Job nicht erhält. Nun, das mit dem Job geht schief. Kruse hat das mit der Morddrohung auch nicht ganz ernst gemeint. Das ändert nichts daran, dass er mit seinem Online-Video eine Dynamik in Gang setzt, in der ein arbeitsloser Koch, seine hochschwangere Freundin, mehr oder weniger kriminelle Menschen mit Migrationshintergrund und kriminelle Nazis, die teilweise gerade für das Parlament kandidieren, sich einen munteren Reigen liefern.

Mitten drin versucht Kommissar Erichsen (Armin Rohde) in der ersten Nacht mit seinen neuen Kolleginnen Tülay Yildirim (Idil Üner) und Lulu Koulibaly (Sabrina Ceesay) den Überblick zu behalten.

Gewohnt pointiert humorig respektloser Krimi, der alles hat, was wir seit Jahren an der von Lars Becker verantworteten „Nachtschicht“-Reihe lieben.

Mit Armin Rohde, Idil Üner, Sabrina Ceesay, Özgür Karadeniz, Albrecht Ganskopf, Aurel Manthei, Marleen Lohse, Kais Setti, Tristan Seith, Navid Navid, Bernhard Schir, Jule Böwe, Frederic Linkemann, Katharina Heyer

Hinweise

ZDF über „Nachtschicht“

Wikipedia über „Nachtschicht“

Lexikon der deutschen Krimi-Autoren über Lars Becker

Lars Becker in der Kriminalakte


Jürgen Heimbach besucht die Burg „Waldeck“

Juni 17, 2024

Vor sechzig Jahren, während in Frankfurt am Main der Auschwitzprozess für volle Gerichtssäle in der Stadt und Diskussionen in der ganzen deutschen Gesellschaft sorgten, fand im Hunsrück auf der Burg Waldeck ein Musikfestival statt, das der Beginn der langlebigen Karrieren von, unter anderem, Franz Josef Degenhardt, Reinhard Mey, Dieter Süverkrüp, Hannes Wader und Hanns Dieter Hüsch war.

In Jürgen Heimbachs neuestem Thriller „Waldeck“ ist das Festival der Ort, an dem am Ende des Romans die bis dahin parallel geführten Handlungsstränge zu einem furiosen Finale zusammengeführt werden und die wichtigen Figuren zum ersten Mal alle aufeinandertreffen.

Bis dahin springt Heimbach souverän zwischen den verschiedenen Plots, verknüpft geschickt die große Politik mit alltäglichen Sorgen. Er entwirft ein dichtes Porträt der damaligen Zeit und der beginnenden Umwälzungen. Die jungen Menschen wollen ein anderes Leben als ihre Eltern leben. Diese waren teilweise tief in die damals noch keine zwanzig Jahre zurückliegende Nazi-Diktatur verstrickt, leugneten standhaft ihre Mittäterschaft und versuchten, teilweise mit kriminellen Mitteln, diese zu verschleiern.

Der 35-jährige Journalist Ferdinand Broich ist einer, der etwas gegen diesen falschen Frieden tun will. Als ihm die Holocaust-Überlebende Ruth Lachmann sagt, sie habe in München einen Zahnarzt aus dem Konzentrationslager Lublin-Majdanek gesehen, der dort unter einem falschen Namen ein geachteter und vermögender Zahnarzt ist, macht Broich sich auf den Weg nach München. Er will mit seiner Informantin reden, sich überzeugen, ob der Zahnarzt Ulrich Fischer der KZ-Zahnarzt Gernot Tromnau ist und eine Reportage darüber schreiben.

Noch ehe er mit seinen Recherchen beginnen kann, erfährt er, dass die Frau, die ihm den Tipp gegeben hat, tot ist. Es soll sich um einen natürlichen Tod handeln. Immerhin war sie schon älter. Aber Broich ist misstrauisch.

Fischers Tochter Silvia soll Hajo Bremer heiraten. Der Jurist hat vermögende Eltern und legt in wenigen Tagen sein zweites Staatsexamen ab. Ihr Vater hält ihn für den perfekten Ehemann. Aber sie hat andere Pläne und sie hofft auf ihren bald anstehenden 21. Geburtstag und die damit verbundene Volljährigkeit. Als Silvia und Hajo in ihrem Elternhaus in einen Streit geraten, stößt sie ihn von sich weg. Er stolpert unglücklich und ist tot. Anstatt jetzt ihren Vater oder die Polizei anzurufen, flüchtet sie. Mit einer Aktentasche ihres Vaters, in der wichtige Dokumente über seine Vergangenheit sind. Sie will sich bei dem Waldeck-Festival mit Martin, der hoffentlich nicht nur ein Urlaubsflirt war, treffen und anschließend in Düsseldorf an der Kunstakademie studieren.

Auf ihrem Weg zum Musikfestival wird sie von Edgar Winter verfolgt. Er war bei der SS und, nach dem Krieg, Mitglied der Organisation Gehlen und, bis zu seiner Pensionierung, des BND. Für Fischer und eine kleine Gruppe von Nazi-Verbrechern, die nichts mehr von ihren damaligen Taten wissen wollen, ist er der skrupellose Problemlöser.

Im Hunsrück hadert die neunzehnjährige Wilhelmine ‚Mine‘ Karges mit ihrem Schicksal. Sie ist eine gute Turnerin und soll demnächst bei beim Kreisturnfest für ihr Dorf siegenn. Außerdem ist, auch ohne dass es explizit gesagt wird, ihre Heirat mit einem Jungen aus dem Dorf schon beschlossen. Dummerweise ist sie schwanger und nur sie kennt den Vater. Als sie von dem Festival erfährt, will auch sie das Festival besuchen. Dort hofft sie, den Vater ihres Kindes zu treffen.

Zwischen diesen Figuren springt Heimbach in knappen, die Geschichte konsequent vorantreibenden Szenen hin und her. Gleichzeitig taucht er tief in die damalige, uns heute sehr fern erscheinende Zeit ein. Er entwirft ein Panorama von einem Deutschland, das sich aus dem Muff der fünfziger Jahre befreit und auf ‚1968‘ vorbereitet.

Eine spannende Geschichtsstunde.

Jürgen Heimbach: Waldeck

Unionsverlag, 2024

352 Seiten

19 Euro

Bonushinweis

Ferdinand Broich trat bereits in einer kleinen, aber wichtigen Nebenrolle in dem 2020 mit dem Glauser als bester Kriminalroman ausgezeichnetem Krimi „Die Rote Hand“ auf. In dem Thriller wird 1959 in Frankfurt am Main ein Waffenhändler ermordet. Er lieferte Waffen an die algerische Befreiungsfront FNL, die damals gegen die Kolonialmacht Frankreich kämpfte.

Hauptperson des ebenfalls lesenswerten, ebenfalls nah an historischen Fakten entlang geschriebenen Noir-Thrillers ist der ehemalige Fremdenlegionär Arnold Streich. Er lebt inzwischen ein unauffälliges Leben als schlecht bezahlter, alleinstehender Wachmann. Als er von der „Roten Hand“ erpresst wird, der Waffenhändler in einer von ihm bewachten Garage ermordet wird und ein kleines Mädchen, das eine wichtige Zeugin ist, ebenfalls ermordet werden soll, ist das ruhige Leben für ihn vorbei.

Jürgen Heimbach: Die Rote Hand

Unionsverlag, 2020

288 Seiten

13,95 Euro

Erstausgabe

weissbooks.w, 2019

Hinweise

Homepage von Jürgen Heimbach

Unionsverlag über Jürgen Heimbach

Wikipedia über Jürgen Heimbach

Culturmag: Alf Mayer unterhält sich mit Jürgen Heimbach über „Waldeck“


TV-Tipp für den 17. Juni: Rom, offene Stadt

Juni 16, 2024

Arte, 21.45

Ron, offene Stadt (Roma città aperta, Itallien 1945)

Regie: Roberto Rossellini

Drehbuch: Sergio Amidei, Federico Fellini (Mitarbeit), Robert Rossellini (Mitarbeit), Alberto Consiglio (Mitarbeit, ungenannt)

Deshalb lieben Cineasten den Sommer: selten gezeigte Klassiker werden zu vernünftigen Uhrzeiten gezeigt. So auch hier: „Rom, offene Stadt“ ist eines der wichtigsten Werke des italienischen Neorealismus und ein Klassiker des Kinos. Und ein Stück Zeitgeschichte.

1943 ist Rom von den Deutschen besetzt und jagt gnadenlos Widerstandskämpfer. Pina verrät ihren Freund, eine kommunistischen Ingenieur, an die Nazis. Diese wollen von ihm die Namen von weiteren Mitgliedern der Widerstandsgruppe.

mit Marcello Pagliero, Aldo Fabrizi, Anna Magnani, Harry Feist

Hinweise

Rotten Tomatoes über „Rom, offene Stadt“

Wikipedia über „Rom, offene Stadt“ (deutsch, englisch, itallienisch)


TV-Tipp für den 16. Juni: Die Bounty

Juni 15, 2024

Arte, 20.15

Die Bounty (The Bounty, Großbritannien 1984)

Regie: Roger Donaldson

Drehbuch: Robert Bolt

LV: Richard Hough: Captain Bligh and Mr. Christian, 1972 (Neuauflage zum Filmstart als „The Bounty“)

Die Geschichte der Meuterei auf der „Bounty“ 1789. Aber dieses Mal wird die wahre Geschichte erzählt und da kommt Fletcher Christian, der Anführer der Meuterer, nicht mehr so gut weg – und Captain Bligh erscheint nicht mehr so böse.

„Dass das Leben die besten Geschichten schreibe, ist zwar nur ein hartnäckig sich behauptendes Gerücht, aber die recht aufwendige ‚Bounty‘-Neufassung vereint tatsächlich Historie und Spannung recht gut – und widerlegt somit streckenweise ein weiteres hartnäckiges Gerücht, nämlich dass ein Remake immer schlechter sein müsse als das Original.“ (Fischer Film Almanach 1986)

An der Kinokasse hat es nicht geholfen. Auch nicht, dass die Besetzung ziemlich prominent war.

Anschließend, um 22.25 Uhr, zeugt Arte die knapp einstündige Doku „Mel Gibson: Vergöttert und verteufelt“ (Belgien/Frankreich 2022)

mit Mel Gibson, Anthony Hopkins, Laurence Olivier, Edward Fox, Daniel Day-Lewis, Philip Davis, Bernard Hill, Liam Neeson

Wiederholung: Mittwoch, 19. Juni, 14.15 Uhr

Hinweise

Rotten Tomatoes über „Die Bounty“

Wikipedia über „Die Bounty“ (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von Roger Donaldson Bill-Granger-Verfilmung „The November Man (The November Man, USA 2014)

 


TV-Tipp für den 15. Juni: Lakeview Terrace

Juni 14, 2024

ZDFneo, 20.15

Lakeview Terrace (Lakeview Terrace, USA 2008)

Regie: Neil LaBute

Drehbuch: David Loughery, Howard Korder

Rassismus andersrum: ein junges Paar (er: weiß, sie: schwarz) zieht in das noble Lakeview-Terrace-Viertel von Los Angeles. Schnell bekommen sie Ärger mit einem Nachbarn. Er ist Polizist, Rassist – und schwarz.

Dank Samuel L. Jackson als bösem Nachbarn und vielen präzisen Beobachtungen ist „Lakeview Terrace“, auch wenn das Ende zu sehr in Richtung konventioneller Thriller geht, einen Blick wert.

„It’s a challenging journey LaBute takes us on. Some will find it exciting. Some will find it an opportunity for an examination of conscience. Some will leave feeling vaguely uneasy. Some won’t like it and will be absolutely sure why they don’t, but their reasons will not agree. Some will hate elements that others can’t even see. Some will only see a thriller. I find movies like this alive and provoking, and I’m exhilarated to have my thinking challenged at every step of the way.“ (Roger Ebert, Chicago Sun-Times)

mit Samuel L. Jackson, Patrick Wilson, Kerry Washington, Ron Glass, Justin Chambers, Robert Pine

Wiederholung: Sonntag, 16. Juni, 01.25 Uhr (Taggenau!)

Hinweise

Rotten Tomatoes über „Lakeview Terrace“

Wikipedia über „Lakeview Terrace“ (deutsch, englisch)


Neu im Kino/Filmkritik: „Ein Schweigen“ herrscht über eine Anwaltsfamilie

Juni 14, 2024

Der wahre Fall, von dem Joachim Lafosses „Ein Schweigen“ inspiriert ist, hat alle Zutaten für ein süffiges Drama oder eine ätzende Gesellschaftssatire in der Tradition von Claude Chabrol. Aber Lafosses Version der Geschichte ist ein extrem langsam erzähltes Drama, in dem vieles nur angedeutet wird, sich schwer, kaum oder oft auch sehr spät im Film langsam erschließt. Einiges bleibt auch nach dem Abspann nebulös.

Als Inspiration diente der Fall Viktor Hissel. Er war bei den Verhandlungen gegen den Kinderschänder Marc Dutroux der Anwalt von zwei Opferfamilien. Der Fall Dutroux erschütterte Mitte der neunziger Jahre Belgien. Auch hier in Deutschland wurde ausführlich über den Fall Dutroux berichtet. Über den Fall Hissel nicht. Er war eine bekannte Symbolfigur im Kampf gegen Kindesmissbrauch. Als seine pädophilen Neigungen bekannt wurden, war das für viele Belgier ein Schock. Er wurde angeklagt, sich zwischen 2005 und 2008 7500 kinderpornografische Bilder angesehen zu haben. Letztendlich wurde er zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. 2009 versuchte sein Sohn ihn zu erstechen. Der Mordversuch misslang. Das Gericht hielt ihn zum Zeitpunkt der Tat für unzurechnungsfähig.

In „Ein Schweigen“ porträtiert Joachim Lafosse die Familie des renommierter Anwalts François Schaar. Es geht um aktuelle und dreißig Jahre zurückliegende Ereignisse über die bislang in der Familie des Anwalts geschwiegen wurde.

Was damals geschah, wird erst sehr spät und kryptisch – auch wenn wir es uns schon früh denken können – enthüllt. Davor und danach wird von einer zum begüterten Provinzbürgertum gehörenden Familie berichtet, die ihre Leichen im Keller verbuddelt und schweigt. Die noble Fassade wird immer gewahrt. Dass dieses Schweigen Auswirkungen auf alle Betroffenen hat, ist offensichtlich. Trotzdem unternimmt niemand etwas dagegen. Die Kamera beobachtet die Ereignisse extrem zurückhaltend. Lafosse vermeidet alles, was emotionalisieren könnte.

Er erzählt elliptisch und unterkühlt, gibt dem Publikum wenig Orientierung und bietet ihm keine Identifikationsfigur an. Keine Figur erzeugt ein nennenswertes Interesse. Dafür erfahren wir zu wenig über sie, ihre Gefühle, Probleme, inneren Konflikte und Wünsche.

Das Ergebnis ist ein dröges Drama, das einen auch als intellektuelles Puzzlespiels unbefriedigt zurücklässt.

Nicht auszudenken, was Claude Chabrol aus dem Stoff gemacht hätte.

Zu Lafosses früheren Filmen gehören „Die Ökonomie der Liebe“ und „Die Ruhelosen“.

Ein Schweigen (Un Silence, Belgien/Frankreich/Luxemburg 2023)

Regie: Joachim Lafosse

Drehbuch: Joachim Lafosse, Thomas Van Zuylen, Chloé Duponchelle (Co-Autor), Paul Ismaël (Co-Autor), Sarah Chiche (Mitarbeit), Matthieu Reynaert (Mitarbeit), Valérie Graeven (Mitarbeit)

mit Daniel Auteuil, Emmanuelle Devos, Matthieu Galoux, Jeanne Cherhal, Louise Chevillotte, Nicolas Buysse

Länge: 96 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

Moviepilot über „Ein Schweigen“

AlloCiné über „Ein Schweigen“

Rotten Tomatoes über „Ein Schweigen“

Wikipedia über „Ein Schweigen“ (englisch, französisch)


Neu im Kino/Filmkritik: Über den Pixar-Film „Alles steht Kopf 2“

Juni 14, 2024

Nun also die Pubertät. 2015 erlebten wir in dem Pixar-Film „Alles steht Kopf“, wie es in dem Kopf der elfjährigen Riley Andersen aussieht und wie ihre unterschiedlichen Emotionen zusammenarbeiten, damit sie sich Riley-vernünftig verhält. Sie muss nämlich den Umzug von einem Dorf in Minnesota nach San Francisco verarbeiten. Der Film war ein Hit.

Und nachdem auch Pixar in den vergangenen Jahren neben erfolgreichen Einzelfilmen auch Fortsetzungen erfolgreicher Filme produzierte, war die Fortsetzung von „Alles steht Kopf“ wohl nur eine Frage der Zeit. Dramaturgisch notwendig war und ist sie nicht. Wobei die Pubertät neue erzählerische Möglichkeit eröffnet.

Denn Riley ist jetzt ein dreizehnjähriger Teenager. An der Schule ist sie beliebt und erfolgreich. Mit ihren beiden Freundinnen Bree und Grace wird sie zu einem Eishockey-Trainingslager eingeladen, das ihr auch neue schulische Möglichkeiten eröffnet. Wenn sie von der strengen Trainerin aufgenommen wird, hatsie nämlich gleichzeitig einen Platz an einer guten High School. Außerdem möchte Riley die Freundin von Valentina ‚Val‘ Ortiz, dem beliebt-bewunderten Star des Eishockey-Teams, werden.

In dem Moment übernehmen neue, mit der Pubertät zusammenhängende Gefühle die Herrschaft über Riley. Zu den aus dem ersten Film bekannten Emotionen Freude (Joy), Kummer (Sadness), Wut (Anger), Angst (Fear) und Ekel (Disgust) kommen

Zweifel (Anxiety), Neid (Envy), Peinlich (Embarrassment) und Ennui (Ennui; hauptsächlich mit dem lustlosen Herumlungern auf der Couch und der Pflege einer Null-Bock-Haltung beschäftigt) dazu. Sogar Nostalgie (Nostalgia) darf als weitere Emotion, die sich nach der Vergangenheit sehnt, schon zweimal kurz auftauchen.

Weil Freude und die anderen aus dem ersten Film bekannten Emotionen die neue Emotion Zweifel bei ihrer Arbeit zu sehr stören, sperrt sie sie in ein Einmachglas und befördert sie in einen Safe in einer abgelegenen Region von Rileys Gehirn. Dort können sie sich aus dem Safe befreien. Sie machen sich auf den beschwerlichen Weg zurück in Rileys Schaltzentrale.

Kelsey Mann übernahm die Regie. Er arbeitet seit 2009 in verschiedenen Positionen bei Pixar. „Alles steht Kopf 2“ ist sein Spielfilmdebüt. „Alles steht Kopf“-Co-Drehbuchautorin Meg LeFauve und Dave Holstein schrieben das Drehbuch. Und in der Originalfassung liehen viele bekannte Schauspieler, die schon beim ersten Teil dabei waren, den Figuren wieder ihre Stimme. In der deutschen Fassung durften dann Olaf Schubert, Hans-Joachim Heist (bekannter als Gernot Hassknecht aus der „heute-show“), Tahnee und Bastian Pastewka, teils ebenfalls zum zweiten Mal, ran.

Manns Spielfilmdebüt ist ein durchaus unterhaltsamer, aber auch ziemlich hektischer Pixar-Film, der mit den Problemen einer Fortsetzung kämpft. Die Idee von „Alles steht Kopf“, dass wir uns im Kopf einer Person befinden und erleben, wie verschiedene Emotionen zusammenarbeiten, einen Charakter formen und zusammen Entscheidungen fällen, war grandios und sie wurde in ihrer Reduzierung auf fünf wichtige Emotionen überzeugend umgesetzt. Komplexe wissenschaftliche Erkenntnisse konnten so für ein aus Kindern bestehendes Publikum präsentiert und von diesem verstanden werden. Jedenfalls genug, um die Filmgeschichte begeistert mitzuverfolgen, während die Erwachsenen ganz andere Dinge in dem Film sahen. Diese Idee wird jetzt nicht mit fünf, sondern mit, je nach Zählung, neun bis zehn Emotionen wiederholt. Das mag näher an der Wirklichkeit, vor allem der Wirklichkeit eines Teenagers, sein, aber einige Emotionen ähneln sich sehr und keine Emotion kann sich wirklich entfalten. „Alles steht Kopf 2“ ist jetzt keine spannende Diskussion im kleinen Kreis mehr, in dem die verschiedenen Diskursteilnehmenden die anderen ausreden lassen und zu einer Lösung kommen, sondern eine typische chaotische Talkshow, in der irgendwann alle durcheinander reden, während Ennui gelangweilt wegdöst.

Die in Rileys Kopf spielende Geschichte ist zwar unterhaltsam, aber ohne große dramaturgische Dringlichkeit. Die in der realen Welt spielende Geschichte, also Rileys Kampf um die Aufnahme in das Eishockey-Team und den damit verbundenen Platz in dieser High School, das damit verbundene Leistungsdenken und der Umgang miteinander sind sehr amerikanisch.

Natürlich ist „Alles steht Kopf 2“ kein schlechter Film. Es ist ein Pixar-Film und da ist ein bestimmtes Niveau immer vorhanden. Aber es handelt sich um eine überflüssige Fortsetzung, die niemals die Qualität von „Alles steht Kopf“ erreicht.

Alles steht Kopf 2 (Inside Out 2, USA 2024)

Regie: Kelsey Mann

Drehbuch: Meg LeFauve, Dave Holstein (nach einer Geschichte von Kelsey Mann und Meg LeFauve)

mit (im Original den Stimmen von) Amy Poehler, Liza Lapira, Tony Hale, Lewis Black, Phyllis Smith, Maya Hawke, Ayo Edebiri, Adèle Exarchopoulos, Paul Walter Hauser, Kensington Tallman, Lilimar, Grace Lu, Sumayyah Nuriddin-Green, Diane Lane, Kyle MacLachlan, Frank Oz, Flea, June Squibb

(in der deutschen Synchronisation den Stimmen von) Olaf Schubert, Hans-Joachim Heist, Tahnee, Leon Windscheid, Younes Zarou, Bastian Pastewka

Länge: 96 Minuten

FSK: ab 0 Jahre

Hinweise

Moviepilot über „Alles steht Kopf 2“

Metacritic über „Alles steht Kopf 2“

Rotten Tomatoes über „Alles steht Kopf 2“

Wikipedia über „Alles steht Kopf 2“ (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von Pete Docter/Ronnie del Carmens „Alles steht Kopf“ (Inside Out, USA 2015)


TV-Tipp für den 14. Juni: Polizeiruf 110: Kreise

Juni 13, 2024

ARD, 21.45

Polizeiruf 110: Kreise (Deutschland 2015)

Regie: Christian Petzold

Drehbuch: Christian Petzold

Kommissar Hanns von Meuffels soll den Mord an der Eigentümerin einer Möbel-Manufaktur aufklären. Die Firma sollte von einem Investor übernommen werden und mit dem Eigentümerwechsel sollten 72 Arbeitsplätze wegfallen. Der Hauptverdächtige ist ihr Ex-Mann, dem die Polizei nichts nachweisen kann.

Christian Petzold, der in den vergangenen Jahren hauptsächlich für das Kino arbeitete und dessen TV-Filme immer wie Kinofilme aussehen, inszeniert seinen ersten „Polizeiruf 110“. Es wurde, wie erwartet, ein ebenso ungewöhnlicher, wie gelungener Krimi. Mit „Wölfe“ (2016) und „Tatorte“ (2018), gleichzeitig der letzte von-Meuffels-Polizeiruf, inszenierte Petzold zwei weitere hochgelobte „Polizeiruf 110“-Krimis mit Kommissar von Meuffels.

Ach ja: Petzolds Inspiration für „Kreise“ war Claude Gorettas „Ganz so schlimm ist er auch nicht“ mit einem noch jungen und schlanken Gérard Depardieu in der Hauptrolle.

mit Matthias Brandt, Barbara Auer, Justus von Dohnányi, Luise Heyer, Daniel Sträßer, Jan Messutat

Hinweise

Wikipedia über „Polizeiruf 110“ und diesen Polizeiruf

Meine Besprechung von Christian Petzolds „Phoenix“ (Deutschland 2014)

Meine Besprechung von Christian Petzolds „Transit“ (Deutschland/Frankreich 2018)

Meine Besprechung von Christian Petzolds „Undine“ (Deutschland/Frankreich 2020) und der DVD

Meine Besprechung von Christian Petzolds „Roter Himmel“ (Deutschland 2023)

Christian Petzold in der Kriminalakte


Neu im Kino/Filmkritik: Über Julio Torres‘ „Problemista“

Juni 13, 2024

Vom Dschungel in den Dschungel. Nur ist der Dschungel, den Alejandro aus seiner Heimat El Salvador kennt, ein magischer Dschungel in dem es viel Fantasie und keine Bedrohungen gibt. Der Dschungel von New York ist dagegen anders. Er arbeitet in einer Kryokonservierungsfirma als Bewacher der Behälter, in denen Menschen in einen Kryo-Tiefschlaf versetzt werden. Es ist ein Idiotenjob. Trotzdem vermasselt er ihn, indem er kurzzeitig bei einem Behälter den Stecker zieht. Die Folge von dem Malheur ist seine sofortige Entlassung. Sein Traum bei Hasbro als Spielehersteller zu arbeiten, scheint sich in Luft aufzulösen. Denn in wenigen Tagen erlischt seine Arbeitserlaubnis. Falls er bis dahin nicht irgendeine Lohnarbeit und einen für ihn bürgenden Arbeitgeber gefunden hat, wird er zurückgeschickt.

Elizabeth (Tilda Swinton, gewohnt grandios) könnte ihm eine Arbeit geben. Irgendeine. Sie ist die Geliebte von Bobby, einem Maler, der sich vor seinem Tod einfrieren ließ. Elizabeth ist eine chaotische, dauerplappernde, konfuse, unkonzentrierte, Stimmungsschwankungen auslebende frühere Kunstkritikerin. Sie ist von Bobbys Talent überzeugt und möchte seine Bilder in einer bekannten Galerie präsentieren. Es handelt sich dabei um eine Reihe von Gemälden, die immer ein Ei vor einem anderen Hintergrund zeigen.

Das Interesse der Kunstwelt an diesen Bildern ist erwartbar gering. Aber der Enthusiasmus von Elizabeth und Alejandro, diesem perfekt zusammenpassendem, ungleichen Paar voller Gegensätze, ist groß.

Julio Torres, der Alejandro als leicht verpeilten, schüchternen, mit federnden Schritten durch New York schwebenden Nerd spielt, schrieb auch gleichzeitig das Drehbuch und inszenierte den Film. Problemista“ ist sein Spielfilmdebüt und die überaus gelungene, im Zweifelsfall fiktionale Verarbeitung seiner Geschichte, die ihn aus El Salvador nach New York zu Saturday Night Live (SNL) und jetzt nach Hollywood und zu A24 brachte.

Die von ihm erfundene Geschichte ist ein detailfreudig ausgestattetes Märchen voller witziger und pointierter Szenen zwischen magischem Realismus und Kafka. Vor allem der Prozess der Einwanderung ist ein einziger Alptraum. Torres schildert dies alles wundervoll warmherzig und respektvoll gegenüber seinen Figuren. Da ist der Beamte bei der Einwanderungsbehörde nur ein kleines Rädchen, das Alejandro gerne helfen würde. Wenn die Gesetze es zulassen. Elizabeth ist gar nicht so furchteinflößend böse, wie gesagt wird. Jedenfalls meistens. Nur Alejandros Chefin bei der Kryokonservierungsfirma ist ziemlich böse. Aber ohne sie hätte er niemals Elizabeth kennen gelernt.

Die Arthaus-Perle Problemista“ ist mit Abstand der beste Film, der diese Woche im Kino anläuft.

Problemista (Problemista, USA 2023)

Regie: Julio Torres

Drehbuch: Julio Torres

mit Julio Torres, Tilda Swinton, RZA, Isabella Rossellini, Catalina Saavedra, James Scully, Laith Nakli, Spike Einbinder, Kelly McCormack

Länge: 105 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Moviepilot über „Problemista“

Metacritic über „Problemista“

Rotten Tomatoes über „Problemista“

Wikipedia über „Problemista“


Neu im Kino/Filmkritik: „Niemals allein, immer zusammen“ protestieren für eine bessere Zukunft

Juni 13, 2024

Sie sind jung. Sie sind radikal links. Sie engagieren sich in Berlin in verschiedenen Bewegungen für eine bessere, eine gerechtere Welt. Sie sind miteinander befreundet und Joana Georgi begleitet sie für ihren Dokumentarfilm „Niemals allein, immer zusammen“ ein Jahr lang.

Der Film beginnt im Januar 2022. Bei einem Abendessen treffen sich die fünf Protagonisten des Films. Es sind Feline, Quang Paasch, Patricia Machmutoff, Simin Jawabreh und Zaza. Teils kennen sie sich schon länger, teils wurden sie von Georgi für den Film zu ihrem idealen Cast zusammengestellt.

Die alleinerziehende Mutter Feline backt Kuchen für Menschen, die sich keine leisten können, und versucht ihre Tochter antirassistisch zu erziehen. Quang Paasch engagiert sich in Fridays for Future, gehört zum radikalen Teil der Bewegung und er bezeichnet sich als Sozialist. Patricia Machmutoff engagiert sich bei „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“. Simin Jawabreh ist Kommunistin und engagiert sich unter anderem für die Abschaffung der Polizei. Der neunzehnjährige Zaza engagiert sich in der Krankenhausbewegung. Er ist der Jüngste in der Gruppe. Die anderen sind etwas älter.

Neben ihrem Schwerpunktthema wollen sie auch die gesamte Gesellschaft verändern.

Nach dem gemeinsamen Abendessen widmet Georgi jedem ihrer fünf Protagonisten ein eigenes Kapitel, in dem sie über sich reden und Demonstrationen besuchen. So sollen wir sie besser kennen lernen.

Das funktioniert nur sehr begrenzt. Wenn sie zusammen sind und sich austauschen, wirken die Gespräche wie peinliche Kennenlern-Spiele, in denen sie sich anhand von vorgegebenen Stichworten an bestimmten Themen abarbeiten. Sie reden nicht miteinander, sondern für ein in dem Moment abwesendes Publikum. Es sind Pseudo-Gespräche. Wenn sie dann allein sind und über sich und ihr Engagement reden, hört sich das immer wie eine Ansammlung vorher aufgeschriebener Statements und Plattitüden an. Georgi zeigt sie immer nur in Bezug zu ihrer politischen Arbeit. Alles andere wird ausgeblendet. Sie haben keine Familie, keine anderen Freunde oder einen Partner. In einem Spielfilm wären sie eindimensionale Figuren. Auch die Bewegungen, in denen sie sich aus einer explitzit linken Position irgendwo zwischen der Partei Die Linke und noch weiter links engagieren, bleiben blass. Auf einer Demonstration halten sie eine flammende Rede oder sie posten ein TikTok-Video, aber sie diskutieren nicht über ihre Position. Weder mit anderen Aktivisten, noch mit Menschen, die ihre Positionen hinterfragen. Widersprüche zwischen Forderungen und Positionen bleiben unverbunden nebeneinander stehen. Die Frage, wie die auf Demonstrationen leidenschaftlich vorgetragenen Forderungen umgesetzt werden könnten, wird nicht gestellt.

Die fünf Protagonisten werden in einer sich selbst genügenden Blase gezeigt. Sie wird nur in zwei Momenten durchbrochen. Einmal wenn gesagt wird, dass bei den Demonstrationen auch die „Omas gegen Rechts“ seien. Die Omas sind für die im Film porträtierten Aktivisten ein Kuriosum. Das Gespräch zwischen Patricia Machmutoff und Ferat Koçak, Abgeordneter für Die Linken im Abgeordnetenhaus (dem Berliner Landtag), ist da ein Lichtblick und einer der interessantesten Momente des Films. Machmutoff unterhält sich mit Koçak über sein Leben, seine politischen Ansichten, seinen Aktivismus und wie er sich in den vergangenen Jahren veränderte.

Georgi verzichtet in ihrem Film auf jede Analyse warum frühere linksradikale Bewegungen scheiterten. Damit fehlt dem Film auch jedes Bewusstsein für die eigene Geschichte, aus der man für die Zukunft lernen könnte. Sie zeigt nur fünf junge radikallinke Aktivisten, die on- und offline um sich selbst kreisen.

Niemals allein, immer zusammen“ ist Erbauungskino für die eigene Blase.

Niemals allein, immer zusammen (Deutschland 2024)

Regie: Joana Georgi

Drehbuch: Joana Georgi

mit Quang Paasch, Patricia Machmutoff, Simin Jawabreh, Feline, Zaza, Ferat Koçak

Länge: 95 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Homepage zum Film

Filmportal über „Niemals allein, immer zusammen“

Moviepilot über „Niemals allein, immer zusammen“

Wikipedia über „Niemals allein, immer zusammen“


TV-Tipp für den 13. Juni: Das Auge

Juni 12, 2024

Arte, 00.30

Das Auge (Mortelle randonnée, Frankreich 1983)

Regie: Claude Miller

Drehbuch: Michel Audiard, Jacques Audiard

LV: Marc Behm: The eye of the beholder, 1980 (Das Auge)

Ein Privatdetektiv soll eine Frau beschatten. Dummerweise ist sie eine Serienmörderin und er entwickelt väterliche Gefühle für sie.

Von der Kritik hochgelobtes, düster-humorvolles Roadmovie mit Hitchcock-Anleihen über eine obsessive Liebe.

Claude Miller über seinem vierten Spielfilm: „Das ist wie in den großen Erziehungsromanen, in denen die Personen reisen, um sich am Ende ihres Lebens mit einer Fülle von Erfahrungen in ihrem eigenen Garten wiederzufinden. Diese innerliche Reise gibt es im Film – sie ist etwas, das ich auf der Reise der männlichen Hauptfigur, des ‚Auges’, wie eine Art von Therapie behandeln möchte.“

Mit Michel Serrault, Isabelle Adjani, Guy Marchand, Stéphane Audran, Geneviève Page, Sami Frey, Jean-Claude Brialy

Hinweis

AlloCiné über „Das Auge“

Rotten Tomatoes über „Das Auge“

Wikipedia über „Das Auge“ (deutsch, englisch, französisch)

Kriminalakte: Nachruf auf Marc Behm


Vorgelesen, mit Erklärungen: Kristina Schippling liest aus „Intoxikation“

Juni 12, 2024

Hier erlebt man buchstäblich Berlin“, sagt Malina Morgenstern zu Kara Kowalski im Buchstabenmuseum. In dem Moment sind die erfolgreiche Malerin Kara und die mit einem Studentenjob Geld verdienende, noch nicht publizierte Schriftstellerin Malina bereits ein Paar. Sie lernten sich kennen nachdem Kara herausfand, wer sie erpresste und sie die auf der gegenüberliegenden Seite des Hofes wohnende Erpresserin aus verschiedenen Gründen ganz sympathisch fand. Erpresst wurde Kara mit einer Videoaufnahme, die zeigt, wie sie, mitten in der Nacht, ihren Ex-Freund in ihrem Atelier über die Brüstung stößt. Anschließend entsorgte sie, mit der Hilfe einiger Chemikalien, die Leiche in der städtischen Kanalisation.

In diesem im Roman erwähnten Buchstabenmuseum stellte Kristina Schippling am 6. Juni 2024 ihren zuammen mit Matthias A. K. Zimmermann geschriebenen Psychothriller „Intoxikation“ vor.

Der Berlin-Krimi hat nichts mit dem deutschen Krimieinerlei von Serienkillerthrillern, Regiokrimis und Krimischnurren zu tun. Er unterhält prächtig mit einigen ungewöhnlichen Figuren und unvorhersehbaren Wendungen. Er beginnt als fast normaler Kriminalroman mit einer Mörderin, einer Erpresserin, neugierigen Nachbarn und einem penetranten Kommissar. Dann wird er zum Psychothriller, zwinkert in Richtung Magischer Realismus und endet als Horrorroman.

Die Lesung beginnt mit einer Begrüßug und einer Vorstellung der Autorin. Danach führt Kristina Schippling mit einigen Bildern und einem Video in den Roman ein. Anschließend liest sie einige Stellen aus „Intoxikation“ und spricht über die Entstehung des Romans und ihre Zusammenarbeit mit ihrem Co-Autor Matthias A. K. Zimmermann.

Aufgenommen wurde die Lesung am Donnerstag, den 6. Juni 2024, in Berlin im Buchstabenmuseum, mit einer aus rumpelnden S-Bahn-Zügen und zwitschernden Vögeln bestehenden Großstadtgeräuschkulisse. Da soll noch jemand sagen, die S-Bahn fahre nicht.

Was fehlt noch? – Einerseits die Ankündigung, dass ich in den nächsten Monaten weitere Lesungen und andere Veranstaltungen dokumentieren möchte. Andererseits das während der Lesung gezeigte Video in seiner ganzen Pracht:

Kristina Schippling/Matthias A. K. Zimmermann: Intoxikation

Kulturverlag Kadmos, 2024

336 Seiten

25 Euro

Hinweise

Kulturverlag Kadmos über den Roman

Homepage von Kristina Schippling

Homepage von Matthias A. K. Zimmermann

Wikipedia über Kristina Schippling und über Matthias A. K. Zimmermann

Im Verhörzimmer: Kristina Schippling über „Intoxikation“ und ihre anderen Arbeiten

Homepage vom Buchstabenmuseum