Neu im Kino/Filmkritik: Über Kevin Costners „Horizon – Eine amerikanische Saga“, Teil 1 von 4

August 22, 2024

Dass Kevin Costner ein großer Western-Fan ist, ist schon bei ein Blick in seine Filmographie offensichtlich. Erinnert sei nur an „Der mit dem Wolf tanzt“, „Open Range“, „Silverado“, „Wyatt Earp“, die Western-Miniserie „Hatfield & McCoys“ und die TV-Serie „Yellowstone“. Die von ihm inszenierten Western „Der mit dem Wolf tanzt“ und „Open Range“ wurden von der Kritik gelobt und werden von Western-Fans geschätzt wegen ihrer historischen Detailgenauigkeit. „Der mit dem Wolf tanzt“ war auch ein weltweiter Publikumshit.

Dass Kevin Costner kein ökonomisch knapper, sondern ein epischer, sich Zeit nehmender Erzähler ist, verrät schon ein Blick auf die Länge seiner Filme. „Open Range“ ist mit 139 Minuten sein kürzester Film.

Und wenn er jetzt mit „Horizon“ die Geschichte des Wilden Westens in vier jeweils dreistündigen Spielfilmen erzählen will, die innerhalb weniger Monate im Kino anlaufen sollen, dann sind die Erwartungen selbstverständlich ziemlich hoch. Und sie werden größtenteils enttäuscht.

Der während dem Bürgerkrieg spielende Auftaktfilm von „Horizon – Eine amerikanische Saga“ dauert drei Stunden. Es werden viele Figuren und Handlungsstränge eingeführt, die im zweiten, dritten und vierten Film weitererzählt werden und die irgendwie irgendwann zusammenkommen. Wahrscheinlich in dem titelgebenden Ort Horizon. Falls einzelne Figuren nicht vorher auf ihrem Weg nach Horizon sterben oder sie vom Weg abkommen. Im ersten Teil irren sie alle noch durch den Wilden Westen und Horizon ist für sie noch nicht einmal am Horizont sichtbar.

Im ersten „Horizon“-Film spielt nur ein kleiner Teil des Film in dem titelgebenden Ort. In der ersten Stunde wird er, nachdem einige Siedler sich dort ansiedelten, während einer Feier der Siedler von einer Horde Indianer überfallen und niedergebrannt. Diese Schlacht bildet den Actionhöhepunkt des Films. Den Überfall überleben nur wenige. Zu ihnen gehören Frances Kittredge (Sienna Miller) und ihre Tochter Elizabeth (Georgia MacPhail). Sie gehen zu dem nahe gelegenem Militärstützpunkt Camp Gallant und verschwinden für einen großen Teil der weiteren Films aus dem Film. Am Ende deutet sich eine Beziehung zwischen Frances und First Lt. Trent Gephart (Sam Worthington) an.

In den anderen Plots geht es um einen Wagentreck, der sich langsam durch den Wilden Westen bewegt und die Konflikte, die es zwischen den Siedlern gibt. Ein anderer Plot dreht sich um den einzelgängerischen Revolverhelden Hayes Ellison (Kevin Costner, der nach einer Stunde seinen ersten Auftritt hat). Er rettet die Prostituierte Marigold (Abbey Lee) vor den mordlüsternen Sykes-Brüdern. Anschließend flüchten Hayes und Ellen vor den weiteren Mitgliedern der Sykes-Familie mit unbekanntem Ziel durch die fotogene Landschaft.

Und, allerdings erst nach dem Überfall auf Horizon, erzählt Costner in einem weiteren Handlungsstrang von den Apachen und ihren internen Streitigkeiten über den Umgang mit den weißen Menschen, die ihr Land ungefragt besetzen. Bis zu diesem Punkt sind sie hinterhältig und bestialisch Kinder, Frauen, einen Geistlichen und harmlose Siedler ermorden.

Das sind alles altbekannte Westernplots, die mit einigen weiteren Plots, in einem Western-Best-of in episch gedehnten Szenen aneinandergereiht werden. Denn ein Kevin Costner hat immer Zeit. Und die einzelnen Szenen funktionieren als einzelne Szenen auch gut. Nur ergeben sie keinen Film. Sie sind bestenfalls der Auftakt, der neugierig auf die nächsten Teile machen soll.

Horizon – Eine amerikanische Saga“ ist aber nur ein Western-Mash-Up, ein Best-of, bei dem auch nach drei Stunden kein Hauptplot, keine Hauptfigur und kein zentraler Konflikt erkennbar ist. Das ist auch in einem Ensemblefilm oder einer TV-Serie wichtig. Es ist auch keine Figur und keine Geschichte dabei, von der ich unbedingt wissen möchte, wie sie weitergeht. Das alles sollte aber nach drei Stunden etabliert sein. In einer TV-Serie gelingt das nach neunzig oder weniger Minuten.

Weil „Horizon“ das nicht gelingt, endet der Film in einer minutenlange Montage mit Bildern aus dem nächsten Teil. Wie bei einer TV-Serie sollen diese Bilder neugierig auf die nächste Episode machen.

Von der Art der Präsentation seiner einzelnen Geschichten ist „Horizon“ ein revisionistischer revisionistischer Western. Costners neuer Film ist keine Rückbesinnung zum klassischen Hollywood-Western mit dem Wissen der seitdem in Filmen, Büchern und gesellschaftlichen Diskussionen stattgefundenen Entwicklungen. Dabei trug Costner mit seinem Regiedebüt „Der mit dem Wolf tanzt“ und wie er die Native Americans zeigte, zu dieser Neubetrachtung der US-amerikanischen Geschichte bei. Mit „Horizon“ hätte er den klassischen Hollywood-Western neu betrachten können. Stattdessen versucht er alle Entwicklungen, die es seit den fünfziger Jahren gab, zu ignorieren. Er will wieder so naiv wie damals erzählen und die alten Legenden wieder vollumfänglich bestätigen. Aber die Zeit ist vorbei. Wir sind weiter.

Aus diesem ‚zurück in die Vergangenheit‘-Gedanken ergibt sich auch das gewählte Bildformat. Gedreht wurde im US-Breitwandformat (1,85:1), das wie ein heutiges TV-Bild aussieht und dem Film von der ersten Minute wie einen TV-Western wirken lässt. Quentin Tarantino ging in seinem grandiosen Schneewestern „The hateful 8“ den entgegengesetzten Weg. Das Bild konnte nicht breit genug sein.

Der Auftakt von Costners lange gehegtem und jetzt mit eigenem Geld finanziertem Traumprojekt enttäuscht. Als Einzelfilm funktioniert „Horizon“ nicht, weil er kein Ende, sondern nur eine Menge Anfänge hat, Als Auftakt von einem Epos, das die Menschen in einigen Monaten wieder in die Kinos treibt, funktioniert der Film auch nicht. Keine Geschichte macht wirklich neugierig auf die nächste Episode der Saga. Von keiner Figur will man unbedingt erfahren, was ihr zustoßen wird.

Der zweite „Horizon“-Film läuft am 7. November 2024 in Deutschland an.

Horizon – Eine amerikanische Saga (Horizon – An American Saga Chapter 1, USA 2024)

Regie: Kevin Costner

Drehbuch: Jon Baird, Kevin Costner

mit Sienna Miller, Sam Worthington, Danny Huston, Michael Rooker, Kevin Costner, Jena Malone, Michael Angarano, Abbey Lee, Jamie Campbell Bower, Jon Beavers, Owen Crow Shoe, Tatanka Means, Liluye, Luke Wilson, Ella Hunt, Tom Payne, Will Patton, Isabelle Fuhrman, Hayes Costner, Georgia MacPhail

Länge: 181 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Homepage zum Film

Moviepilot über „Horizon – Eine amerikanische Saga“

Metacritic über „Horizon – Eine amerikanische Saga“

Rotten Tomatoes über „Horizon – Eine amerikanische Saga“

Wikipedia über „Horizon – Eine amerikanische Saga“ (deutsch, englisch)


Neu im Kino/Filmkritik: „Love Lies Bleeding“ – Liebe, Lügen und einige Provinzmorde

Juli 18, 2024

https://www.youtube.com/watch?v=MAwTiqIF04U

Lou (Kristen Stewart) arbeitet in den ausgehenden achtziger Jahren in einer Kleinstadt in New Mexiko in einem abgeranztem Fitnessclub, dessen beste Zeit wahrscheinlich vier Monate vor der Eröffnung war. Jetzt ist es ein Sumpf aus Testosteron, Schweiß und Dummheit, in dem die Männer ihre Waffen kurz aus der Hand legen, um ihre Muskeln zu trainieren. Währenddessen säubert Lou die notorisch verstopfte Toilette, bringt den Müll weg und raucht eine Zigarette.

Eines Tages taucht Jackie (Katy O’Brian) auf. Die Kleinstadt ist für sie nur eine Zwischenstation auf ihrem Weg nach Las Vegas. Dort will sie an einem Wettbewerb teilnehmen. In dem Fitnessclub will sie dafür trainieren. Lou erblickt in ihr eine verwandte Seele. Sie verlieben sich und, weil Lou die Tochter des örtlichen Verbrecherbosses ist, beginnen die Dinge ziemlich schnell aus dem Ruder zu laufen. Aber die Wüste ist groß genug für einige Leichen.

Rose Glass‘ „Love Lies Bleeding“ ist reinster Pulp, präsentiert als mit Stars langsam erzähltes, stylish aussehendes Neo-Noir-B-Picture, das für Genrefans ziemlich vorhersehbar ist. Dass in diesem Fall ein lesbisches Paar im Mittelpunkt der Geschichte steht, ändert daran wenig. Letztendlich ist es egal, ob ein Mann für eine Frau tötet oder eine Frau für eine Frau tötet und dann die eine Gewalttat die nächste Gewalttat provoziert. Außerdem ist eine lesbische Liebesgeschichte auch für ein Mainstream-Publikum spätestens seit dem von den Wachowski-Geschwister inszenierten Neo-Noir „Bound – Gefesselt“ (1996) keine Sensation mehr.

Leider verlegt Glass („Saint Maud“) die Geschichte ins Jahr 1989. Dadurch wird aus einem kleinem, dreckigen Neo-Noir, der etwas über den aktuellen mentalen Zustand der USA aussagen könnte, ein historischer Film, der einfach nur eine weitere Geschichte über gewaltbereite Hinterwäldler erzählt, garniert mit Sex und Gewalt.

Love Lies Bleeding (Love Lies Bleeding, Großbritannien/USA 2024)

Regie: Rose Glass

Drehbuch: Rose Glass, Weronika Tofilska

mit Kristen Stewart, Katy O’Brian, Jena Malone, Anna Baryshnikov, Dave Franco, Ed Harris

Länge: 104 Minuten

FSK: ab 16 Jahre

Hinweise

Moviepilot über „Love Lies Bleeding“

Metacritic über „Love Lies Bleeding“

Rotten Tomaotes über „Love Lies Bleeding“

Wikipedia über „Love Lies Bleeding“ (deutsch, englisch)

Berlinale über „Love Lies Bleeding“


TV-Tipp für den 11. Juli: Inherent Vice – Natürliche Mängel

Juli 10, 2023

Tele 5, 22.15

Inherent Vice – Natürliche Mängel (Inherent Vice, USA 2015)

Regie: Paul Thomas Anderson

Drehbuch: Paul Thomas Anderson

LV: Thomas Pynchon: Inherent Vice, 2009 (Natürliche Mängel)

Los Angeles in den frühen Siebziger: Der dauerbekiffte Privatdetektiv Larry ‚Doc‘ Sportello (Joaquin Phoenix) sucht den spurlos verschwundenen Liebhaber einer seiner Ex-Freundinnen. Das ist der Auftakt für einen wahrhaft labyrinthischen Plot, der sich ungeniert bei den großen und bekannten Noirs bedient – und sich würdig zu ihnen gesellt.

Köstlicher, ebenso traditionsbewusster wie selbstironischer Noir für die Fans von Hammett, Chandler, Ellroy, „Chinatown“, „The Big Lebowski“ und „The Nice Guys“ (ja, die netten Jungs kamen genaugenommen etwas später). Die Vorlage dieses Megacuts des bekannten Hardboiled- und Noir-Kanons ist von Thomas Pynchon.

Danach will man sich wieder die Klassiker ansehen.

Mehr in meiner ausführlichen Besprechung.

mit Joaquin Phoenix, Josh Brolin, Owen Wilson, Katherine Waterston, Reese Witherspoon, Benicio Del Toro, Martin Short, Jena Malone, Joanna Newson, Eric Roberts, Hong Chau, Michael Kenneth Williams, Martin Donovan, Sasha Pieterse

Die Vorlage

Thomas Pynchon: Natürliche Mängel

(übersetzt von Nikolaus Stingl)

rororo, 2012

480 Seiten

14 Euro

Deutsche Erstausgabe/Gebundene Ausgabe

Rowohlt, 2010

Originalausgabe

Inherent Vice

The Penguin Press, 2009

Hinweise

Amerikanische Homepage zum Film

Moviepilot über „Inherent Vice – Natürliche Mängel“

Metacritic über „Inherent Vice – Natürliche Mängel“

Rotten Tomatoes über „Inherent Vice – Natürliche Mängel“

Wikipedia über „Inherent Vice – Natürliche Mängel“ (deutsch, englisch) und über Thomas Pynchon

Perlentaucher über Thomas Pynchons „Natürliche Mängel“

Meine Besprechung von Paul Thomas Andersons „Inherent Vice – Natürliche Mängel“ (Inherent Vice, USA 2015)

Meine Besprechung von Paul Thomas Andersons „Der seidene Faden“ (Phantom Thread, Großbritannien 2017)

Meine Besprechung von Paul Thomas Andersons „Licorice Pizza“ (Licorice Pizza, USA 2021)


TV-Tipp für den 18. Februar: Inherent Vice – Natürliche Mängel

Februar 17, 2023

Tele 5, 22.20

Inherent Vice – Natürliche Mängel (Inherent Vice, USA 2015)

Regie: Paul Thomas Anderson

Drehbuch: Paul Thomas Anderson

LV: Thomas Pynchon: Inherent Vice, 2009 (Natürliche Mängel)

Los Angeles in den frühen Siebziger: Der dauerbekiffte Privatdetektiv Larry ‚Doc‘ Sportello (Joaquin Phoenix) sucht den spurlos verschwundenen Liebhaber einer seiner Ex-Freundinnen. Das ist der Auftakt für einen wahrhaft labyrinthischen Plot, der sich ungeniert bei den großen und bekannten Noirs bedient – und sich würdig zu ihnen gesellt.

TV-Premiere. Köstlicher, ebenso traditionsbewusster wie selbstironischer Noir für die Fans von Hammett, Chandler, Ellroy, „Chinatown“, „The Big Lebowski“ und „The Nice Guys“ (ja, die kamen genaugenommen etwas später). Die Vorlage dieses Megacuts des bekannten Hardboiled- und Noir-Kanons ist von Thomas Pynchon.

Danach will man sich wieder die Klassiker ansehen.

Mehr in meiner ausführlichen Besprechung.

mit Joaquin Phoenix, Josh Brolin, Owen Wilson, Katherine Waterston, Reese Witherspoon, Benicio Del Toro, Martin Short, Jena Malone, Joanna Newson, Eric Roberts, Hong Chau, Michael Kenneth Williams, Martin Donovan, Sasha Pieterse

Die Vorlage

Thomas Pynchon: Natürliche Mängel

(übersetzt von Nikolaus Stingl)

rororo, 2012

480 Seiten

14 Euro

Deutsche Erstausgabe/Gebundene Ausgabe

Rowohlt, 2010

Originalausgabe

Inherent Vice

The Penguin Press, 2009

Hinweise

Amerikanische Homepage zum Film

Moviepilot über „Inherent Vice – Natürliche Mängel“

Metacritic über „Inherent Vice – Natürliche Mängel“

Rotten Tomatoes über „Inherent Vice – Natürliche Mängel“

Wikipedia über „Inherent Vice – Natürliche Mängel“ (deutsch, englisch) und über Thomas Pynchon

Perlentaucher über Thomas Pynchons „Natürliche Mängel“

Meine Besprechung von Paul Thomas Andersons „Inherent Vice – Natürliche Mängel“ (Inherent Vice, USA 2015)

Meine Besprechung von Paul Thomas Andersons „Der seidene Faden“ (Phantom Thread, Großbritannien 2017)

Meine Besprechung von Paul Thomas Andersons „Licorice Pizza“ (Licorice Pizza, USA 2021)


Neu im Kino/Filmkritik: Über Nicolas Winding Refns „The Neon Demon“

Juni 23, 2016

Schöne Menschen, schöne Bilder, schöne Musik, schön langweilig ist im Fall von „The Neon Demon“ das Ergebnis. In seinem neuen Film erzählt Nicolas Winding Refn von der jungen Jesse (Elle Fanning) die nach Los Angeles kommt. Die Sechzehnjährige (behauptet sie) aus Georgia will ein Model werden und gerät in eine albtraumhaft-surreale Welt.

Das erste, was in einem Alptraum ignoriert wird, ist die Logik. Das nächste eine stringent aufgebaute Geschichte. Auch in „The Neon Demon“ reihen sich die Episoden beliebig aneinander, lose aufgehängt an Jesses Geschichte von ihrem ersten Shooting zum nächsten Shooting. Es ist eine Welt, in der sich alles um Schönheit dreht und die Verfallszeit von Schönheit enorm kurz ist, wie ihr einige etwas ältere Models verraten.

Die Episoden aus Jesses Leben könnten auch, wie Szenen in einer Kunstinstallation, in irgendeiner anderen Reihenfolge gesehen werden. Sie bleiben abstrakte Stimmungsbilder, die ständig Signale aussenden, die im Film nicht weiterverfolgt werden. Die Modewelt! Hollywood! Die dunkle Seite von Hollywood, die in zahlreichen Krimis porträtiert wurde. Es ist die Welt, die David Lynch in „Mulholland Drive“ und „Lost Highway“ oder David Cronenberg in „Maps to the Stars“ ungleich pointierter, gelungener, stringenter, mitreisender, vielschichtiger, ambivalenter, abstrakter und dennoch konkreter zeigen.

Bei Refn ist sie nur eine Welt von zusammenhanglosen Zeichen, Signalen für beliebige Interpretationen und Szenen, die mal mehr, mal weniger als Tableau angeordnet sind, die ihr Leben eher auf einer Doppelseite eines Modemagazins entfalten. Es ist eine tote Welt. Hinter der Oberfläche lauert hier einfach nur die von keinem tieferem Gedanken getrübte Leere. Denn die Erkenntnis, dass die Modewelt oberflächlich ist, ist wahrlich keine neue Erkenntnis. Falls das überhaupt die Erkenntnis ist, die Refn uns mitgeben will.

Denn am Ende von „The Neon Deom“ bleibt nur das Gefühl, dass Refn einem etwas wirklich wichtiges mitteilen wollte. Aber er will seine Botschaft – sofern er überhaupt irgendeine hat – nicht mehr in eine Geschichte packen. So sagt er im Presseheft, er habe einen Film über die Schönheit machen wollen. Er habe einen Horrorfilm machen wollen, in dem alle wichtigen Horrorfilmelemente enthalten seien, aber nicht unbedingt in der richtigen Reihenfolge. Er habe sich gefragt, ob es möglich sei, einen Horrorfilm ohne den Horror zu machen.

Nun, letzteres ist ihm gelungen; wobei sich natürlich die Frage stellt, warum man einen Horrorfilm ohne Horror machen will oder man Horrorfilmelemente in der falschen Reihenfolge präsentieren will.

The Neon Demon“ ist als Symphonie von Bildern und Tönen, die man an sich vorbeiziehen lässt, nicht ohne Reiz. Wenn man sich nicht darauf einlassen will oder kann, wenn man versucht über das Werk nachzudenken, ist es prätentiöser, Wichtigkeit behauptender Quark, optisch gelungen präsentiert.

The Neon Demon - Plakat

The Neon Demon (The Neon Demon, USA/Frankreich/Dänemark 2016)

Regie: Nicolas Winding Refn

Drehbuch: Nicolas Winding Refn, Mary Laws, Polly Stenham (nach einer Geschichte von Nicolas Winding Refn)

mit Elle Fanning, Jena Malone, Bella Heathcote, Abbey Lee, Karl Glusman, Chrstina Hendricks, Keanu Reeves, Allessandro Nivola

Länge: 117 Minuten

FSK: ab 16 Jahre

Hinweise

Englische Homepage zum Film

Deutsche Homepage zum Film

Moviepilot über „The Neon Demon“

Metacritic über „The Neon Demon“

Rotten Tomatoes über „The Neon Demon“

Wikipedia über „The Neon Demon“

Meine Besprechung von Nicolas Winding Refns „Fear X“ (Fear X, USA 2003)

Meine Besprechung von Nicolas Winding Refns „Drive“ (Drive, USA 2011)

Meine Besprechung von Nicolas Winding Refns „Only God Forgives“ (Only God Forgives, Frankreich/Dänemark 2013)


Neu im Kino/Buch- und Filmkritik: Die Thomas-Pynchon-Verfilmung „Inherent Vice – Natürliche Mängel“

Februar 13, 2015

Die Banknoten mit dem Konterfei von Richard Nixon haben es leider nicht von Thomas Pynchons Roman „Natürliche Mängel“ in Paul Thomas Andersons Verfilmung „Inherent Vice – Natürliche Mängel“ geschafft. Abgesehen von dieser Kleinigkeit folgt Anderson dem 480-seitigen Roman erstaunlich genau, verstärkt – vor allem am Anfang – etwas den erkennbaren Plot und suhlt sich ansonsten im Früh-Siebziger-Jahre-Feeling, während er Larry ‚Doc‘ Sportello (Joaquin Phoenix) als dauerbekifften Privatdetektiv durch einen labyrinthischen Plot schlurfen lässt, der nie auf eine irgendwie erkennbare Lösung angelegt ist.
Doc soll, beauftragt von einer Ex-Freundin Shasta, ihren Liebhaber, den spurlos verschwundenen Baumogul Mickey Wolfmann, der halb Los Angeles gentrifiziert, suchen. In Wolfmans Verschwinden sind auch seine Leibwächter und eine im Gefängnis entstandene Verbindung zwischen der Arischen Bruderschaft und der Black Guerilla Family, die im Gefängnis entdeckten, dass sie einen gemeinsamen Feind haben, involviert.
Doc soll auch Coy Harlington, einen Saxophonisten einer Surf-Rock-Band, finden. Seine Frau glaubt nicht, dass er an einer Überdosis gestorben ist.
Und alle sind irgendwie mit der „Golden Fang“ verbunden.
Bei seinen zahlreichen Ermittlungen trifft Doc mehr als einmal auf LAPD-Detective Christian F. ‚Bigfoot‘ Bjornsen mit dem ihn eine wahre Haßliebe verbindet. Bigfoot ist ein überlebensgroßer Fünfziger-Jahre-Polizist, ein John-Wayne-Möchtegern und die archetypische Verkörperung des faschistoiden Polizisten, der auch im Fernsehen (Hey, wir sind in Hollywood!) nach Serienruhm giert und wenn er Doc besucht, normalerweise seine Tür eintritt.
Das klingt nicht nur, das ist im Buch und im Film, ein Megacut des bekannten Hardboiled- und Noir-Kanons: Raymond Chandlers Philip-Marlowe-Geschichten, James Ellroy, vor allem „L. A. Confidential“, die Verfilmungen dieser Romane, Roman Polanskis „Chinatown“, Joel und Ethan Coens „The Big Lebowski“ (aber nicht so witzig), gekreuzt mit der „Illuminatus!“-Trilogie von Robert Shea und Robert A. Wilson. Wobei gerade der erste Band „Illuminatus! – Das Auge in der Pyramide“ als absolut durchgeknallt Satire auf alle Verschwörungstheorien eigentlich das Ende aller Verschwörungstheorien ist.
Diese Vorbilder sind immer deutlich erkennbar. Im Buch noch mehr als im Film, der durch seine gute Besetzung und seine oft gewitzte Inszenierung punktet und die eben genannten Vorbilder in den Hintergrund rückt, während der Roman immer eine Pastiche bleibt, die vor allem die Filmbilder aus den bekannten Noirs heraufbeschwört. Auch weil Pynchon immer wieder filmische Vorbilder anspricht und Doc ein Fan des Schauspielers John Garfield ist.
Und beide Male ist die Geschichte viel zu lang geraten. Der Roman umfasst fast 480 Seiten. Der Film dauert gut 150 Minuten. Denn beide Male folgen wir einer weitgehend plotlosen Erzählung, die einfach so, wie ein Drogentraum, vor sich hin mäandert, bis Doc über die Lösungen seiner Fälle stolpert oder sich der Fall, in einem Nebensatz, in Luft auflöst. Und im Hintergrund gibt es eine große Verschwörung, die etwas mit der oder dem „Golden Fang“ zu tun hat und die alles und nichts sein kann. Also auch eine zufällige Namensgleichheit oder eine paranoide Hippie-Fantasie, die alles mit allem verknüpft.
Paul Thomas Anderson erzählt hier seine Geschichte Kaliforniens weiter. „There will be blood“ (über den Ölboom kurz nach der Jahrhundertwende) und „The Master“ (über einen Sektenführer in den Nachkriegsjahren) spielten vor und „Boogie Nights (über die Porno-Filmindustrie in den Siebzigern und Achtzigern) nach „Inherent Vice“. Jetzt geht es um die Flower-Power-Jahre und das damalige Geflecht von freier Liebe, Drogenexzessen, Kulten und der Wirtschaft. Das ist, auch dank der grandiosen Schauspieler, des Lokalkolorits, der pointierten Inszenierungen und archetypischer Bilder immer unterhaltsam und eine deutliche Einladung, sich noch einmal die Klassiker anzusehen.
Denn Anderson sagt hier nichts, was nicht schon Robert Altman in seiner grandiosen Raymond-Chandler-Verfilmung „Der Tod kennt keine Wiederkehr“ (The long Goodbye, USA 1972) gesagt hat. Oder die Coens, einige Jahre später, in „The Big Lebowski“.

Inherent Vice - Plakat

Inherent Vice – Natürliche Mängel (Inherent Vice, USA 2015)
Regie: Paul Thomas Anderson
Drehbuch: Paul Thomas Anderson
LV: Thomas Pynchon: Inherent Vice, 2009 (Natürliche Mängel)
mit Joaquin Phoenix, Josh Brolin, Owen Wilson, Katherine Waterston, Reese Witherspoon, Benicio Del Toro, Martin Short, Jena Malone, Joanna Newson, Eric Roberts, Hong Chau, Michael Kenneth Williams, Martin Donovan, Sasha Pieterse
Länge: 149 Minuten
FSK: ab 16 Jahre

Die Vorlage

Pynchon - Natürliche Mängel - 4

Thomas Pynchon: Natürliche Mängel
(übersetzt von Nikolaus Stingl)
rororo, 2012
480 Seiten
11,99 Euro

Deutsche Erstausgabe/Gebundene Ausgabe
Rowohlt, 2010

Originalausgabe
Inherent Vice
The Penguin Press, 2009

Hinweise
Amerikanische Homepage zum Film
Film-Zeit über „Inherent Vice – Natürliche Mängel“
Moviepilot über „Inherent Vice – Natürliche Mängel“
Metacritic über „Inherent Vice – Natürliche Mängel“
Rotten Tomatoes über „Inherent Vice – Natürliche Mängel“
Wikipedia über „Inherent Vice – Natürliche Mängel“ (deutsch, englisch) und über Thomas Pynchon
Perlentaucher über Thomas Pynchons „Natürliche Mängel“

Ein Gespräch mit Paul Thomas Anderson über „Inherent Vice“

und die Pressekonferenz/Q&A beim NYFF

 


Neu im Kino/Filmkritik: „Die Tribute von Panem – Catching Fire“ wiederholt, mit kleinen Variationen, die Hunger-Spiele

November 21, 2013

 

Wir erinnern uns: in „Die Tribute von Panem – The Hunger Games“ kämpfen bei den alljährlichen Hungerspielen jeweils zwei Jugendliche zwischen zwölf und achtzehn Jahren aus den zwölf Distrikten von Panem gegeneinander. Die diktatorische Regierung inszeniert diese perverse „Dschungelcamp“-Variante als großes, von allen realen Problemen ablenkendes Fernsehspektakel, bei dem die Spielregeln, die von Präsident Snow (Donald Sutherland) und dem Spielleiter hemmungslos manipuliert werden, pervers sind: denn der Gewinner der Spiele ist die Person, die als einzige überlebt. Bei den 74. Hungerspielen gewannen Katniss Everdeen (Jennifer Lawrence) und Peeta Mellark (Josh Hutcherson), weil das Publikum das Liebespaar ins Herz geschlossen hatte und die Spielregeln dafür ad hoc geändert wurden.

Der Film, der vieles ansprach, ohne es wirklich auszuführen, und der sich munter durch den reichhaltigen Dystopie-Fundus plünderte, war ein Überraschungserfolg. Danach war klar, dass auch die folgenden Panem-Jugendromane von Suzanne Collins, die die Geschichte von Katniss Everdeen, ihrem Freund Gale Hawthorne und Peeta Mellark weitererzählen, verfilmt werden. Mit einem größeren Budget, mehr bekannten Schauspielern und einer langfristigen Planung, die den abschließenden Panem-Film „Mockingjay“, ebenfalls inszeniert von Francis Lawrence, als Zweiteiler 2014 und 2015 ins Kino bringt.

Jetzt ist mit „Die Tribute von Panem – Catching Fire“ der zweite Teil im Kino gestartet, der die Geschichte des ersten Films weitererzählen soll, der uns etwas tiefer in diese dekadente Diktatur eintauchen lassen soll und uns mehr von der Rebellion gegen das Regime erzählen soll. So die Werbung.

In Wirklichkeit ist Francis Lawrences „Catching Fire“ quasi ein Eins-zu-Eins-Remake, das die Geschichte von „The Hunger Games“ einfach noch einmal erzählt, mit kleinen Variationen, einer deutlich ruhigeren Kameraführung (Regisseur Gary Ross war doch zu verliebt in Wackelkamera und Sekundenschnitte) und einem hochkarätigeren Cast (Philip Seymour Hoffman! Jeffrey Wright! Amanda Plummer!).

Weil Katniss und Peeta nach ihrem Überraschungssieg bei den Bewohnern der Distrikte so überaus beliebt sind und sie damit für Unruhe sorgen könnten, werden für die 75. Hungerspiele die Spielregeln geändert. Dieses Mal treten erstmals Gewinner aus den vorherigen Hunger-Spielen gegeneinander an. Die meiste Zeit verbringt Lawrences Film, nachdem Katniss von ihrem abgelegenen Heimatdistrikt 12 mit dem Zug in die Hauptstadt reiste, dann, wie schon Gary Ross‘ Film, mit den Vorbereitungen und dem Training. Ungefähr das letzte Filmdrittel bis zum abrupten Ende (das als Cliffhanger für den dritten Teil fungiert) erzählt dann den Kampf der früheren Hunger-Spiele-Gewinner gegeneinander. Dieses Mal nicht im Wald, sondern im Dschungel und mit noch mehr Gefahren, die natürlich alle liebevoll von dem Spielleiter gesteuert werden.

Aber während in „The Hunger Games“ Jugendliche gegeneinander kämpften, dabei ein Kind, das als Teilnehmerin ausgelost wurde, sterben musste und damit die Fratze der Diktatur überdeutlich zeigte, kämpfen jetzt erfahrene Kämpfer, die schon einige Menschen ermordet haben, gegeneinander. Dummerweise lernen wir sie, wie schon im ersten Teil, kaum genauer kennen. Einige werden zwar von dem ehemaligen Hunger-Spiele-Gewinner Haymitch Abernathy (Woody Harrelson) mit jeweils drei, vier Sätzen vorgestellt, aber diese gefährlichen Gegner, wie die Frau mit den Vampirzähnen, tauchen später eigentlich nicht mehr auf. Da ergeht es den wenigen während des Kampfs mit Katniss und Peeta verbündeten Hunger-Kämpfern etwas besser. Aber bei den anderen Kämpfer – und das ist die gefühlte Mehrheit der 24 Kämpfer – erfahren wir erst durch die Nachricht ihres Todes, dass es sie gab. Wenn allerdings Mörder, die wir nicht kennen, sterben, ist uns das herzlich egal. Entsprechend harmloser wirkt die Diktatur, die hier nicht unschuldige Kinder, sondern Mörder gegeneinander kämpfen lässt.

Auch die in „The Hunger Games“ noch erahnbare Kritik an den Medien, die hemmungslos für die Quote Regeln manipulieren und ändern, ist nicht mehr vorhanden. Wenn in „Catching Fire“ die Spiele beginnen, verschwinden sie dieses Mal fast vollständig aus dem Film.

Und die Rebellion hat in „Catching Fire“ noch kein Gesicht. Es gibt einige Graffitis und sekundenlange Bilder von Demonstrationen, die niedergeknüppelt werden. Aber was sie wollen, warum sie kämpfen, wie stark sie sind – das alles wird erst im dritten Teil erklärt. In „Catching Fire“ ist es ein vernachlässigbares Hintergrundrauschen.

Wer „The Hunger Games“ gesehen hat, für den ist „Catching Fire“ ein Déjà-Vu-Erlebnis. Und wer „The Hunger Games“ nicht kennt, kann, auch wenn er sich wundert, weshalb einige Charaktere, Konflikte und Hintergründe so schlecht eingeführt werden, problemlos die Geschichte verfolgen.

Die Tribute von Panem - Catching Fire - Plakat

Die Tribute von Panem – Catching Fire (The Hunger Games: Catching Fire, USA 2013)

Regie: Francis Lawrence

Drehbuch: Simon Beaufoy, Michael deBruyn (eigentlich Michael Arndt)

LV: Suzanne Collins: Catching Fire, 2009 (Die Tribute von Panem: Gefährliche Liebe)
mit Jennifer Lawrence, Josh Hutcherson, Liam Hemsworth, Woody Harrelson, Elizabeth Banks, Stanley Tucci, Philip Seymour Hoffman, Donald Sutherland, Lenny Kravitz, Jeffrey Wright, Willow Shields, Sam Claflin, Lynn Cohen, Jena Malone, Amanda Plummer

Länge: 146 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Amerikanische Homepage zum Film

Deutsche Homepage zum Film

Film-Zeit über „Die Tribute von Panem – Catching Fire“

Moviepilot über „Die Tribute von Panem – Catching Fire“

Metacritic über „Die Tribute von Panem – Catching Fire“

Rotten Tomatoes über „Die Tribute von Panem – Catching Fire“

Wikipedia über „Die Tribute von Panem – Catching Fire“ (deutsch, englisch)

Homepage von Suzanne Collins