TV-Tipp für den 7. Juli: Last Night in Soho

Juli 6, 2024

RTL II, 00.20

Last Night in Soho (Last Night in Soho, Großbritannien 2021)

Regie: Edgar Wright

Drehbuch: Edgar Wright, Krysty Wilson-Cairns (nach einer Geschichte von Edgar Wright)

Das schüchterne Landei Eloise will im heutigen London studieren. Sie quartiert sich in Soho im Haus von Miss Collins ein. In der ersten Nacht in dem Haus träumt von den wilden sechziger Jahren in Soho. Und sie wird in einen damals geschehenen Mordfall verwickelt.

TV-Premiere – aus keinem ersichtlichen Grund zu nachmitternächtlicher Stunde. Gelungener Mystery-Horror-Thriller zwischen Wahn und Wirklichkeit und mit einer Lösung die nur funktioniert, weil die Figuren sich vorher wie Idioten verhalten.

Mehr in meiner ausführlichen Besprechung.

mit Thomasin McKenzie, Anya Taylor-Joy, Matt Smith, Diana Rigg, Terence Stamp, Rita Tushingham, Synnøve Karlsen, Michael Ajao, Jessie Mei Li, Kassius Nelson, Rebecca Harrod

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

Moviepilot über „Last Night in Soho“

Metacritic über „Last Night in Soho“

Rotten Tomatoes über „Last Night in Soho“

Wikipedia über „Last Night in Soho“ (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von Edgar Wrights „The World’s End“ (The World’s End, Großbritannien 2013)

Meine Besprechung von Edgar Wrights „Baby Driver“ (Baby Driver, USA 2017)

Meine Besprechung von Edgar Wrights „The Sparks Brothers“ (The Sparks Brothers, USA 2021)

Meine Besprechung von Edgar Wrights „Last Night in Soho“ (Last Night in Soho, Großbritannien 2021)


Neu im Kino/Filmkritik: Über das Road-Movie „791 km“, das Drama „All eure Gesichter“, den Noir „Eileen“ und das Biopic „Munch“

Dezember 16, 2023

Wegen eines Sturmtief stellt die Bahn ihren Betrieb ein und verteilt Taxi-Gutscheine an die am Abend in München im Hauptbahnhof gestrandeten Passagiere. Die pensionierte Professorin und verbal rüstige Alt-Prostlerin Marianne (Iris Berben), das zerstrittene Pärchen Tiana (Nilam Farooq), die am nächsten Vormittag eine für ihr Start-Up wichtige Präsentation, und Freund, der tiefenentspannte Schluffi Philipp (Ben Münchow), und die geistig behinderte Susi (Lena Urzendowsky) entern Josephs Taxi. Jeder von ihnen muss aus einem anderen wichtigen Grund am nächsten Tag in Hamburg sein.

Als der notorisch schlecht gelaunte Joseph (Joachim Król) die Taxi-Gutscheine sieht und erfährt, dass er jeden Gutschein einzeln abrechnen kann, ist er bereit von München nach Hamburg zu fahren.

In seinem Feelgood-Film „791 km“ erzählt Tobi Baumann („Faking Hitler“), wie die fünf Menschen, die sich zufällig getroffen haben, sich auf der nächtlichen Fahrt quer durch Deutschland näher kommen. Und wie es das Drehbuch so will, sind sie alle gegensätzliche und sich entsprechnd gut ergänzende Archetypen, die auch ein Spiegelbild der deutschen Gesellschaft sind. Das ist immer eine Spur zu didaktisch erzählt und zu sehr in Richtung TV-Bildschirm erzählt, um auf der großen Kinoleinwand zu begeistern.

791 km (Deutschland 2023)

Regie: Tobi Baumann

Drehbuch: Gernot Gricksch (nach einer Idee von Tobi Baumann)

mit Iris Berben, Joachim Król, Nilam Farooq, Ben Münchow, Lena Urzendowsky, Langston Uibel, Barbara Philipp, Denis ‚Marschall‘ Ölmez, Götz Otto

Länge: 103 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Filmportal über „791 km“

Moviepilot über „791 km“

Wikipedia über „791 km“

In einem Stuhlkreis sitzen Täter und Opfer eines Verbrechens und reden darüber. ‚restorative justice‘ nennt sich die Methode. Es geht um einen formalisierten Prozess des gegenseitigen Verstehens und auch Verzeihens. Sie ähnelt dem bei uns als Täter-Opfer-Ausgleich bekannten Modell.

In seinem Spielfilm „All eure Gesichter“ zeigt Jeanne Herry („In sicheren Händen“) mehrere dieser Prozesse und sie zeigt die Chancen, die diese Methode hat. Sie geht auch auf die Voraussetzungen, aber nicht auf die Beschränkungen ein.

Trotzdem ist „All eure Gesichter“ als karg inszeniertes, sich auf seine Schauspieler, die sich teils im Stuhlkreis, teils direkt gegenüber sitzen, konzentrierendes Dialogdrama sehenswert. Das Kammerspiel für die große Leindwand regt zum Nachdenken über Schuld, Sühne und verschiedene Methoden einer Verarbeitung an.

All eure Gesichter (Je verrai toujours vos visages, Frankreich 2023)

Regie: Jeanne Herry

Drehbuch: Jeanne Herry, Chloé Rudolf

mit Birane Ba, Leïla Bekhti, Dali Benssalah, Elodie Bouchez, Suliane Brahim, Jean-Pierre Darroussin, Adèle Exarchopolous, Gilles Lellouche, Miou-Miou, Denis Podalydès

Länge: 118 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

AlloCiné über „All eure Gesichter“

Moviepilot über „All eure Gesichter“

Rotten Tomatoes über „All eure Gesichter“

Wikipedia über „All eure Gesichter“ (englisch, französisch)

Massachusetts im Winter 1964: die schüchterne Eileen Dunlop (Thomasin McKenzie) lebt noch bei ihrem Vater, einem jähzornigem Alkoholiker, und arbeitet im Jugendgefängnis als Sekretärin. Ihr triester Alltag verändert sich schlagartig, als die neue Psychologin des Gefängnisses eintrifft. Rebecca Saint John (Anne Hathaway) ist ein Marilyn-Monroe-Lookalike, die sofort allen Männern den Kopf verdreht. Aber dann lädt die Femme Fatale Eileen zu einem Drink ein.

Eileen“ ist die langweilige Arthaus-Version eines Noirs. Für einen gelungenen Noir entwickelt sich die Geschichte viel zu langsam und nebulös. Ehe dann im dritten Akt plötzlich alles anders wird.

Eileen (Eileen, USA 2023)

Regie: Willliam Oldroyd

Drehbuch: Ottessa Moshfegh, Luke Goebel

LV: Ottessa Moshfegh: Eileen, 2015 (Eileen)

mit Thomasin McKenzie, Anne Hathaway, Shea Whigham, Marin Ireland, Owen Teague

Länge: 98 Minuten

FSK: ab 16 Jahre

Hinweise

Moviepilot über „Eileen“

Metacritic über „Eileen“

Rotten Tomatoes über „Eileen“

Wikipedia über „Eileen“ (deutsch, englisch)

In seinem Biopic „Munch“ über den Künstler Edvard Munch (12. Dezember 1863 – 23. Januar 1944) (Ja, das ist der mit dem Bild „Der Schrei“, das die Ghostface-Maske in den „Scream“-Filmen inspirierte.) erzählt Henrik M. Dahlsbakken das schwierige Leben des Künstlers zwischen Alkoholismus, Genie und Wahnsinn nicht chronologisch nach. Er zersplittert es auf mehrere Zeitebenen, zwischen den er kontextlos hin und her springt und er lässt Munch von drei Schauspielern und einer Schauspielerin spielen. Sie spielen ihn als 21-, 29-, 45- und 80-jährigen Mann. Und für jeden Munch-Schauspieler gibt es einen eigenen Stil.

Das Ergebnis ist ein sich experimentell gebendes Biopic, das wenig über den Künstler verrät und einen erstaunlich unberührt lässt.

Munch (Munch, Norwegen 2023)

Regie: Henrik M. Dahlsbakken

Drehbuch: Mattis Herman Nyquist, Gina Cornelia Pedersen, Fredrik Høyer, Eivind Sæther

mit Alfred Ekker Strande, Mattis Herman Nyquist, Ola G. Furuseth, Anne Krigsvoll, Anders Baasmo Christiansen, Lisa Carlehed, Jesper Christensen

Länge: 105 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Moviepilot über „Munch“

Rotten Tomatoes über „Munch“

Wikipedia über „Munch“ und Edvard Munch (deutsch, englisch)


TV-Tipp für den 18. April: Jojo Rabbit

April 17, 2022

Pro7, 20.15

Jojo Rabbit (Jojo Rabbit, USA 2019)

Regie: Taika Waititi

Drehbuch: Taika Waititi

LV: Christine Leunens: Le ciel en cage, 2007

Jojo Rabbit hat einen imaginären Adolf Hitler als Freund und eine reale Jüdin versteckt in der Dachkammer. Und weil der zehnjährige Jojo in Deutschland während des Zweiten Weltkriegs lebt, stellt vor allem der sehr weibliche Hausgast ein Problem da.

TV-Premiere. Herrlich gelungene und abgedrehte Kömodie. Auch ohne Blutsauger.

Mehr in meiner ausführlichen Besprechung.

mit Roman Griffin Davis, Thomasin McKenzie, Taika Waititi, Scarlett Johansson, Sam Rockwell, Rebel Wilson, Stephen Merchant, Alfie Allen

Wiederholung: Dienstag, 19. April, 03.25 Uhr (Taggenau!)

Hinweise

Moviepilot über „Jojo Rabbit“

Metacritic über „Jojo Rabbit“

Rotten Tomatoes über „Jojo Rabbit“

Wikipedia über „Jojo Rabbit“ (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von Taika Waititi „5 Zimmer Küche Sarg“ (What we do in the Shadows, Neuseeland 2014)

Meine Besprechung von Taika Waititis „Thor: Tag der Entscheidung“ (Thor: Ragnarok, USA 2018)

Meine Besprechung von Taika Waititis „Jojo Rabbit“ (Jojo Rabbit, USA 2019)


Neu im Kino/Filmkritik: „Last Night in Soho“ geschah ein Mord

November 11, 2021

Es dauert einige Minuten, bis wir sicher wissen, dass Eloise heute lebt. Ihr Elternhaus ist zeitlos. Ihre Kleider und ihr Zimmer sind eine Liebeserklärung an die sechziger Jahre. Auch die Musik, die sie hört, spiegelt nicht die aktuelle, sondern die Hitparade der Sechziger wieder.

Es sind die letzten Minuten, die sie zu Hause im ländlichen Cornwall verbringt, bevor sie ein neues Kapitel in ihrem Leben aufschlägt. Sie wird Redruth verlassen und nach London ziehen. Dort hat sie einen Platz als Studentin am Londoner College of Fashion bekommen. Das war ihr großer Traum. In London im Studentinnenwohnheim angekommen fremdelt sie mit ihren schon länger in der Großstadt lebenden Mitstudentinnen, die sich überhaupt nicht für die Vergangenheit, sondern nur für die nächste Party interessieren. Also zieht Eloise aus und bei Miss Collins ein. Die Vermieterin ist schon so alt, dass sie die Sechziger als junge Frau miterlebt haben kann. Auch das Haus und Eloises Zimmer wurden seitdem höchstens mininal an die Gegenwart angepasst. Aber das Haus steht in Soho, dem Ort, der in den Sechzigern das Zentrum von allem war.

In der ersten Nacht träumt sie von damals. Den Straßen, der riesigen Werbung am Kino für den neuen James-Bond-Film „Thunderball“ (Feuerball), den Neonlichtern, den Clubs mit ihren riesigen Tanzflächen und dem aufregendem Nachtleben, in dem alles möglich ist. Es sind Bilder von einem Leben, das sie gerne führen würde. Und sie steckt dabei im Körper der gleich alten, deutlich selbstsicheren Nachtschwärmerin Sandie. Die will in London als Sängerin Karriere machen. Allerdings wird sie auch in einen ihr Leben bedrohenden Mordfall verwickelt.

Mit Eloise fragen wir uns, ob das ein Traum, eine Jungmädchenfantasie von damals, ein zunehmend Eloises Leben bedrohendes Wahngebilde oder ein Hilferuf aus der Vergangenheit ist. Also ob eine Tote zu Eloise spricht und sie den Mörder enttarnen soll. Denn über fünfzig Jahre später ist der Mord immer noch nicht gesühnt und der Mörder lebt wahrscheinlich immer noch in Soho lebt.

Viel mehr als diese Prämisse sollte über die Geschichte von „Last Night in Soho“ nicht verraten werden. Auch nicht das Genre; oder sagen wir es anders: Fans von psychologischen Kriminal- und Horrorfilmen dürften nicht enttäuscht sein.

Im folgenden verwirrt sich Eloises Geschichte immer mehr zwischen Gegenwart und Vergangenheit, zwischen Wahn und Wirklichkeit, zwischen Traum und Realität. Als Zuschauer wird man immer wieder darauf aufmerksam gemacht, dass bei der in den Sechzigern spielenden Geschichte etwas nicht stimmt. Immer wieder wird, in einer Szene und ohne erkennbaren Schnitt Eloise (Thomasin McKenzie) zu Sandie (Anya Taylor-Joy) oder Sandie geht eine Treppe hinunter, während wir als ihr Spiegelbild Eloise sehen. Diese Szenen drehte Wright vor Ort mit praktischen Tricks und ohne CGI. Und die von Eloise erlebten Sechziger sind ein wahres Sechziger-Jahre-Wunderland, in dem alles so ist, wie wir die Swinging Sixties in Soho aus Filmen, Büchern, Schallplatten und Magazinen kennen. Nur dass Sean Connery und „Alfie“ Michael Caine nicht über die Straße schlendern. Dafür trifft Sandie auf einen anderen gutaussehenden Mädchenschwarm, der Frauen nicht immer gut behandelt, aber ihr als Sängerin bei den ersten Karriereschritten helfen möchte.

Das klingt jetzt nach einem rundum gelungenem Vergnügen für Thriller- und Sixties-Fans. Dummerweise verlangt die Lösung mehr als eine Portion Gutgläubigkeit. Sie funktioniert nämlich nur, weil, rückblickend, die einzelnen Figuren sich wie Idioten verhielten und nicht miteinander gesprochen haben. Ja, Eloise erkundigte sich bei der Wirtin noch nicht einmal, wer denn der seltsame Stammgast sei.

Last Night in Soho (Last Night in Soho, Großbritannien 2021)

Regie: Edgar Wright

Drehbuch: Edgar Wright, Krysty Wilson-Cairns (nach einer Geschichte von Edgar Wright)

mit Thomasin McKenzie, Anya Taylor-Joy, Matt Smith, Diana Rigg, Terence Stamp, Rita Tushingham, Synnøve Karlsen, Michael Ajao, Jessie Mei Li, Kassius Nelson, Rebecca Harrod

Länge: 117 Minuten

FSK: ab 16 Jahre

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

Moviepilot über „Last Night in Soho“

Metacritic über „Last Night in Soho“

Rotten Tomatoes über „Last Night in Soho“

Wikipedia über „Last Night in Soho“ (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von Edgar Wrights „The World’s End“ (The World’s End, Großbritannien 2013)

Meine Besprechung von Edgar Wrights „Baby Driver“ (Baby Driver, USA 2017)

Meine Besprechung von Edgar Wrights „The Sparks Brothers“ (The Sparks Brothers, USA 2021)


Neu im Kino/Filmkritik: „Old“ – ein Tag am Strand

Juli 30, 2021

Ich fand M. Night Shyamalans neuen Film „Old“ gelungen. Bevor ich das genauer erkläre, sollte ich vielleicht verraten, was „Old“ nicht ist. Wer „Old“ mit den Erwartungen des traditionellen Hollywood-Erzählkinos und den Hollywood-Plotmodellen ansieht, wird wenig mit dem Horrorfilm anfangen können. Er hat keinen eindeutigen Protagonisten. Wer nach Unplausibilitäten sucht, wird viele finden. Die Erklärung ist, nun, logisch betrachtet ziemlich fantastisch oder, je nachdem, wie kritisch man darüber nachdenkt, einfach bescheuert. Aber immerhin liefert Shyamalan einen nachvollziehbaren Grund für die Leiden seiner Figuren. In der Vorlage, dem Comic „Sandburg“ von Pierre Oscar Lévy und Frederik Peeters, wird zugunsten eines Warten auf den Tod darauf verzichtet. Ansonsten hält Shyamalan sich in seiner Interpretation erstaunlich nah an den Plot der Vorlage.

Und wer in einen Shyamalan-Film nur wegen des Twists hineingeht, wird auch enttäuscht werden. Denn diesen Twist gibt es nicht. Es ist, soviel kann verraten werden, eher eine B-Picture-Auflösung oder die Enttarnung des Mörders am Ende eines Rätselkrimis. Es ist also keine Auflösung, die, wie in „The sixth Sense“, alles vorher gesehene in einem vollkommen anderen Licht erscheinen lässt. Und, im Gegensatz zu seinen vorherigen Filmen, gibt es dieses Mal auch keine Superhelden oder vermeintlichen Superhelden. In „Old“ gibt es nur ganz normale Menschen ohne irgendwelche fantastischen Eigenschaften.

In „Old“ geht es um ein Thema, das im Rahmen einer albtraumhaften Situation durchgespielt wird.

Während des Urlaubs in einem malerisch abgelegen gelegenem Luxusressort empfiehlt der Hotelmanager den Eheleuten Guy und Prisca Capa und ihren beiden Kindern, dem sechsjährigen Trent und der elfjährigen Maddox, den Besuch einer kleinen, versteckten Bucht.

Dorthin begleitet werden sie von einer anderen Familie, die aus einem Arzt (mit, wie wir später erfahren, psychischen Problemen), seiner Mutter, seiner deutlich jüngeren, auf ihr Aussehen bedachten Frau und ihrer sechsjährigen Tochter.

In der Bucht treffen sie auf MID SEIZED SEDAN. Der Rapper wartet auf seine Freundin. Sie ist in der Nacht hinausgeschwommen. Ihre Leiche wird im Lauf des Tages angespült.

Etwas später stößt ein weiteres Paar zu ihnen. Es sind ein patenter Krankenpfleger und seine Frau, eine Psychologin, die auch Epileptikerin ist.

Zugegeben, für eine versteckte Bucht sind das viele Menschen. Sie sind auch nicht zufällig in die Bucht gekommen. Fast alle haben Krankheiten. Und am Strand altern sie rasend schnell. Jede halbe Stunde altern sie um ein Jahr. In zehn Stunden altern sie also um zwanzig Jahre. In zwanzig Stunden um vierzig Jahre. Diese Veränderung fällt zuerst an den Kindern auf. Ihr Körper verändert sich. Ihre Badekleider passen nicht mehr.

Weil sie nicht sterben wollen, versuchen sie den Strand zu verlassen, bevor sie in wenigen Stunden sterben werden.

Allerdings schlagen ihre ersten Fluchtversuche fehl. So können sie durch die Felsschlucht, durch die sie zum Strand gelangten, nicht zurückgehen. Sie können die die Bucht umgebende imposante Felswand nicht hinaufklettern. Sie können nicht in das Meer hinausschwimmen.

Und sie finden keine Erklärung für ihr plötzliches Altern.

Old“ ist, im Rahmen einer absurden Situation, eine in einen Tag und eine Nacht gedrängte Meditation über das Altern und das Vergehen der Zeit. Weil das Ende, nämlich der Tod, unverrückbar feststeht, ist es keine Frage ob, sondern nur wann die verschiedenen Figuren sterben. Dieses Setting führt natürlich dazu, dass man sich mit keiner der Figuren und ihrer Probleme übermäßig identifizieren möchte. Schließlich könnte sie schon zwei Minuten später tot sein. Außedem sind sie alle erschreckend normal und ohne irgendwelche besonderen Eigenschaften und Fähigkeiten. Wir könnten jedem von ihnen im nächsten Café begegnen.

So werden allerdings das Thema und das kafkaeske der Situation, in der sie sich befinden, umso deutlicher.

Schon in den ersten Minuten, wenn wir zum ersten Mal der Famiie Capa begegnen, führt Shyamalan unauffällig das Thema ein und weist auf künftige Ereignisse hin. So sprechen sie auf ihrer Fahrt zum Hotel über die Dinge, die auf jeder Fahrt angesprochen werden (Wann sind wir da? – Genieß die Landschaft. Guck nicht auf das Telefon. – Ihr habt gesagt, dass wir in fünf Minuten da sind. Jetzt sind wir immer noch nicht da. – Warum vergeht die Zeit so langsam?). Diese alltäglichen Sätze sind gleichzeitig deutliche Hinweise auf die kommenden Ereignisse. Denn in der Bucht wünschen sie sich, dass die Zeit langsamer vergeht, dass sie mehr Zeit hätten und sie fragen sich, was der Sinn ihres Lebens sein könnte.

Shyamalan erzählt diese Horrorogeschichte aus der „Twilight Zone“ voller Suspense und immer wieder elliptisch. Er zeigt die Ereignisse vor einem Ereignisse und die Folgen. Manchmal durch einen Zeitsprung. Manchmal durch einen langsamen Kameraschwenk weg und wieder hin zu dem Ereignis. Manchmal bewegt sich die Kamera auch einfach weg, weil sie irgendwo am Strand etwas interessanteres gesehen hat. Manchmal vergeht mit dem Schwenk viel, manchmal keine Zeit.

Oft zeigt er auch zuerst die Reaktion und dann, auf was die Figuren gerade so erstaunt oder entsetzt reagieren. Ohne jetzt etwas von der Geschichte zu verraten ist so ein Moment, wenn der der Krankenpfleger Jarin und seine Frau Patricia das Alter von Maddox und Trent schätzen. Die beiden Kinder behaupten erheblich jünger zu sein, als sie geschätzt werden. Erst am Ende des längeren Gespräch wird gezeigt, dass Maddox und Trent innerhalb weniger Minuten um Jahre alterten. Oder wenn Prisca ihrer beiden Kinder sucht und entsetzt feststellen muss, dass Maddox und Trent nicht mehr Kinder, sondern Teenager oder junge Erwachsene sind.

Old“ ist eine Mediation über das Leben und die Vergeblichkeit, seinem Tod auszuweichen, der schneller als erwartet kommen kann. Shyamalan erzählt dies im Gewand eines Horror-B-Pictures, das die Horrorfilm-Konventionen mit seinen Geisterbahn-Effekten ignoriert. Ein großer Spaß.

Old (Old, USA 2021)

Regie: M. Night Shyamalan

Drehbuch: M. Night Shyamalan

LV: Pierre Oscar Lévy, Frederick Peeters: Chateau de sable, 2010 (Sandburg)

mit Gael García Bernal, Vicky Krieps, Rufus Sewell, Alex Wolff, Thomasin McKenzie, Abbey Lee, Nikki Amuka-Bird, Ken Leung, Eliza Scanlen, Aaron Pierre, Embeth Davidtz, Emun Elliott, Alexa Swinton, Gustaf Hammarsten, Kathleen Chalfant, Nolan River, Luca Faustino Rodriguez, Mikaya Fisher, Kailen Jude, M. Night Shyamalan

Länge: 109 Minuten

FSK: ab 16 Jahre

Die Vorlage

(ein gutes Geschenk für den Aufenthalt in den Alpen; – obwohl, wer sagt, dass es da nicht ein ähnliches Tal gibt?)

Pierre Oscar Lévy/Frederik Peeters: Sandburg

(aus dem Französischen von Marion Herbert)

Reprodukt, 2021

104 Seiten

18 Euro

Deutsche Erstausgabe

Reprodukt, 2013

Originalausgabe

Cháteau de sable

Atrabile, 2010

Hinweise

Deutsche Facebook-Seite zum Film

Englische Homepage zum Film

Moviepilot über „Old“

Metacritic über „Old“

Rotten Tomatoes über „Old“

Wikipedia über „Old“ (deutsch, englisch) (Achtung: hier wird selbstverständlich das Ende verraten!)

Meine Besprechung von M. Night Shyamalans „After Earth“ (After Earth, USA 2013)

Meine Besprechung von M. Night Shyamalans „Split“ (Split, USA 2017)

Meine Besprechung von M. Night Shyamalans „Glass“ (Glass, USA 2019)


Neu im Kino/Filmkritik: „Jojo Rabbit“, die Geschichte eines Hasenfußes und seines imaginären Freundes Alfred Hitler

Januar 23, 2020

Nachdem er Blutsauger und einen Gott zu Lachfiguren machte, ist jetzt der „GröFaZ“ (Größter Feldherr aller Zeiten) dran. Und Taika Waititi macht den Führer Adolf Hitler, von ihm übertrieben chargierend gespielt, zu einer richtigen Lachnummer.

Hitler ist der imaginäre Freund des zehnjährigen Jojo Betzler (Roman Griffin Davis). Jojo lebt in Falkenheim, einem typisch typischem deutschen Dorf. Es sind die letzten Monate vor dem Ende des Krieges und damit der endgültigen und allumfassenden Niederlage des GröFaZ und seines Reichs. Aber das Wissen in dem Moment Jojo und sein Klassenkamerad Yorki (Archie Yates) nicht. Die beiden Außenseiter in der Klasse glauben noch an das ewige Bestehen des tausendjährigen Reichs. Sie sind begeisterte Anhänger der Nazis. Vor allem Jojo ist ein hundertfünfzigprozentiger Verehrer des Führers und seiner Ideologie, die er wortwörtlich nimmt. Daher nimmt er begeistert bei den Aufnahmeprüfungen für die Hitlerjugend teil. Dummerweise geht schon bei ihren ersten Prüfungen einiges schief. Er ist halt nicht sportlich und ein rechter Hasenfuß. Und Sam Rockwell hat einen wundervoll durchgeknallten Auftritt als Ausbilder Hauptmann Klenzendorf. Leider verschwindet er danach fast vollständig aus dem Film.

Jojo lebt zusammen mit seiner lebenslustigen Mutter Rosie (Scarlett Johansson). Sie haben ein sehr innig-vertrauensvolles Verhältnis. Sein Vater ist im Krieg.

Eines Tages entdeckt Jojo in ihrem ziemlich großem Haus ein in einer Kammer verstecktes Mädchen (Thomasin McKenzie). Noch schlimmer als ihr Geschlecht ist, dass sie eine Jüdin und damit eine Ausgeburt der Hölle ist, die er gerne sofort verraten würde. Wenn dann nicht auch seine über alles geliebte Mutter verhaftet würde.

Und dann ist diese Jüdin gar nicht so unsympathisch. Fast könnte Elsa eine größere Schwester sein.

Jojo Rabbit“ ist eine durchgeknallte Komödie, die hemmungslos die Nazis und Adolf Hitler der Lächerlichkeit preisgibt. Das ist heute das Einrennen offener Scheunentore. Schon zu Hitlers Lebzeiten gab es die Komödien „Der große Diktator“ und „Sein oder Nichtsein“. Später kamen unter anderem „Frühling für Hitler“ und Walter Moers‘ „Adolf“-Comics dazu. Deshalb muss auch nicht über einen vermeintlichen Tabubruch geredet werden, sondern es kann über die Qualitäten des Films gesprochen werden. Also über die Qualitäten der Inszenierung, die Stringenz seiner Geschichte, die Leistungen der Schauspieler und, immerhin ist es eine Komödie, über die Qualität der Witze.

Beginnen wir mit der Geschichte und damit dem großen Problem des Films. Bei all dem Spaß, den Waititi und sein glänzend aufgelegtes Ensemble verbreiten, ist unklar, welche Geschichte und damit welches Thema im Mittelpunkt steht. Also welche Coming-of-Age-Geschichte er erzählen will; wobei über große Strecken des Films auch unklar ist, ob Waititi die Regeln eines Coming-of-Age-Films befolgen will. So wechselt der Film zwischen Jojos Emanzipation von seinem Freund Adolf Hitler, der ihn belügt, seiner Liebe zu seiner Mutter (die ihn auch, aber aus anderen und edleren Motiven belügt) und seinen Gefühlen gegenüber Elsa. Das sind dann ungefähr drei verschiedene Filme, etliche Stilbrüche und auch, weil im Mittelteil unklar ist, wie sich Jojos Geschichte weiter entwickeln wird, eine gewisse Langweile. Außerdem pendelt er, immer wieder den Tonfall wechselnd, unentschlossen zwischen Nazi-Komödie und Nazi-Satire; wobei ihm hier die satirische Schärfe fehlt.

Denn Waititi ist kein kühle Analytiker, sondern das Kind in der Süßwarenabteilung, das im Zweifelsfall noch einen Gag aufnimmt und achselzuckend für einen Lacher jede Stringenz opfert. In seinen vorherigen Komödien „Fünf Zimmer Küche Sarg“ (What we do in the Shadows) und „Thor: Tag der Entscheidung“ (Thor: Ragnarok) störte dieses Kindergeburtstagsfeeling nicht. Bei einer Satire, die Aufklären und Warnen will, schon.

So war ich, wenn am Ende David Bowies „Helden“ (seine deutsche Fassung von „Heroes“) erklingt, von Waititis angenehm respektloser Komödie nicht so begeistert wie die meisten anderen Kritiker.

Und nun einige zeitlose Worte vom Meister über sein Werk:

Seit ich selbst Kinder habe, wird mir immer stärker bewusst, dass wir Erwachsene dazu da sind, unsere Kinder durch das Leben zu geleiten und sie zu besseren Versionen von uns selbst zu erziehen. Doch in Kriegszeiten machen Erwachsene oft genau das Gegenteil. Tatsächlich erscheint in jenen Zeiten das Verhalten von Erwachsenen, aus der Perspektive von Kindern betrachtet, chaotisch und absurd, wo doch gerade dann die Welt dringend Führung und Ausgeglichenheit nötig hätte.

Als ich aufwuchs, erlebte ich als jüdischer Māori ein gewisses Maß an Vorurteilen. Deshalb soll „Jojo Rabbit“ auch als Mahnung dienen, unsere Kinder, besonders in der heutigen Zeit, zu Toleranz zu erziehen – und auch uns selbst daran erinnern, dass in dieser Welt der Hass keinen Platz hat. Kinder werden ohne Hass geboren, sie werden zum Hass abgerichtet.

Ich hoffe, dass der Humor in „Jojo Rabbit“ dabei hilft, eine neue Generation zu interessieren; es ist wichtig, neue und originelle Wege zu finden, um die schreckliche Geschichte des Zweiten Weltkriegs immer und immer wieder auch der jüngeren Generation nahe zu bringen, damit unsere Kinder zuhören und daraus lernen, und sich gemeinsam daran machen, diese Welt in einen besseren Ort zu verwandeln.

Auf dass die Dummheit endet und durch Liebe ersetzt wird.

Jojo Rabbit (Jojo Rabbit, USA 2019)

Regie: Taika Waititi

Drehbuch: Taika Waititi

LV: Christine Leunens: Le ciel en cage, 2007

mit Roman Griffin Davis, Thomasin McKenzie, Taika Waititi, Scarlett Johansson, Sam Rockwell, Rebel Wilson, Stephen Merchant, Alfie Allen

Länge: 108 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

Englische Homepage zum Film

Moviepilot über „Jojo Rabbit“

Metacritic über „Jojo Rabbit“

Rotten Tomatoes über „Jojo Rabbit“

Wikipedia über „Jojo Rabbit“ (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von Taika Waititi „5 Zimmer Küche Sarg“ (What we do in the Shadows, Neuseeland 2014)

Meine Besprechung von Taika Waititis „Thor: Tag der Entscheidung“ (Thor: Ragnarok, USA 2018)