Neu im Kino/Filmkritik: „Living – Einmal wirklich leben“, aber wie geht das? Und was ist das?

Mai 20, 2023

Mr. Williams ist, auch wenn er von seinen Untergebenen geachtet und auch gefürchtet wird, im Nachkriegslondon ein unbedeutender Beamter in der für die Vergabe öffentlicher Bauaufträge zuständigen Abteilung. Sein Leben scheint er der Erfüllung von Paragraphen, die er in- und auswendig kennt, gewidmet zu haben. Als sein Arzt ihm sagt, dass er tödlich erkrankt ist und in wenigen Wochen tot ist, bricht er erstmals aus der Routine aus. Er kommt nicht zur Arbeit und fragt sich, was der Sinn seines Lebens sein soll.

Living – Einmal wirklich leben“ von Regisseur Oliver Hermanus und Autor Kazuo Ishiguro (der bekannteste Roman des Nobelpreisträgers ist „Was vom Tage übrigblieb“) ist eine Neuinterpretation von Akira Kurosawas „Einmal wirklich leben“ (Ikiru, 1952). Unter Cineasten gilt „Ikiru“ als einer von Kurosawas wichtigsten Filmen. Beim breiten Publikum ist der Film fast unbekannt. Ishiguro und Hermanus verlegen die Handlung von Japan nach England und erzählen sie in knapp über hundert Minuten. Kurosawa erzählte die Geschichte des Beamten in 143 Minuten. Die deutsche Kinofassung wurde auf 120 Minuten gekürzt.

Ishiguro schrieb, nach einem zufälligem Gespräch mit Produzent Stephen Woolley und Bill Nighy, das Drehbuch als ein Starvehikel für Bill Nighy, der die perfekte Verkörperung des steifen britischen Beamten ist.

Hermanus inszenierte die Geschichte als angenehm altmodisches Schauspielerkino, das gleichzeitig eine milde Satire auf das Beamtentum und eine Liebeserklärung an dieses ist.

Der verdiente Lohn waren viel Kritikerlob, Preise und Nominierungen. So waren Ishiguro für sein Drehbuch und Nighy für sein Spiel für jeweils einen Oscar nominiert.

Living – Einmal wirklich leben (Living, Großbritannien 2022)

Regie: Oliver Hermanus

Drehbuch: Kazuo Ishiguro (nach dem Drehbuch „Ikiru“ von Akira Kurosawa, Shinobu Hashimoto und Hideo Oguni)

mit Bill Nighy, Aimee Lou Wood, Alex Sharp, Tom Burke, Adrian Rawlins, Hubert Burton, Oliver Chris, Michael Cochrane

Länge: 103 Minuten

FSK: ab 6 Jahre

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

Moviepilot über „Living“

Metacritic über „Living“

Rotten Tomatoes über „Living“

Wikipedia über „Living“ (deutsch, englisch)


Neu im Kino/Filmkritik: Charles Dickens und „The Invisible Woman“

April 24, 2014

Erst wenn man die historischen Daten studiert, fällt auf, wie sehr Regisseur Ralph Fiennes sich in seinem zweiten Spielfilm „The Invisible Woman“ um eine genaue Datierung der Ereignisse herummogelt oder sie als so bekannt voraussetzt, dass er sie nicht explizit erwähnen muss. Jedenfalls erweckt er bei einem unbedarftem Publikum den Eindruck, dass die Geschichte der titelgebenden unsichtbaren Frau sich innerhalb eines ziemlich kurzen Zeitraums abspielt.
Der Film beginnt 1885 am Strand der englischen Küstenstadt Margate. Eine Frau läuft, gehetzt von unsichtbaren Dämonen, am Strand entlang. Es ist Mrs. George Wharton Robinson, gebürtige Ellen ‚Nelly‘ Ternan (Felicity Jones), die mit Jugendlichen das von Charles Dickens und Wilkie Collins geschriebene Theaterstück „No Thoroughfare“ inszeniert. Die respektierte Gelehrtengattin, die mit ihrem Mann eine Jungenschule leitet, ist eine große Dickens-Bewunderin, die den Dichter sogar persönlich kannte. Als Kind behauptet sie.
Eine Rückblende in das Jahr 1857 zeigt sie als achtzehnjährige Schauspielerin, die in Manchester in dem Collins/Dickens-Theaterstück „The Frozen Deep“ mitspielen soll. Inszeniert wird die Aufführung von Charles Dickens (Ralph Fiennes) höchstpersönlich, der auch die Hauptrolle übernimmt. Der verheiratete 45-jähriger Mann verliebt sich in die Schauspielerin.
In den folgenden dreizehn Jahren, bis zu Dickens Tod 1870, sind sie ein Liebespaar, bei dem Nelly die titelgebende unsichtbare Frau ist. Denn in der Öffentlichkeit gehen sie getrennte Wege und Dickens versucht alles, damit niemand von der Beziehung erfährt.
Und genauso diskret, wie Dickens und Ternan vorgingen, erzählt Ralph Fiennes, nach einem Drehbuch von Abi Morgan („Shame“, „Die eiserne Lady“), diese auf Fakten basierende Geschichte. Denn anstatt die Konflikte direkt anzusprechen, umkreist er sie und deutet sie in Halbsätzen und Gesten an. Und die lange Zeit, die vergeht, ignoriert er, weil die Schauspieler immer ungefähr gleich alt aussehen.
Außerdem werden die Konflikte zugunsten einer gediegenen Inszenierung vernachlässigt. Letztendlich ist „The Invisible Woman“ ein Kostümdrama für das gebildete, schon etwas ältere Publikum, das sich an einer ästhetischen, das Nervenkostüm schonenden Inszenierung ergötzt, während das Denkmal von Charles Dickens kaum angekratzt wird und seine Liebe zu der jungen Schauspielerin fast wie allseit akzeptierte eine Zweckehe wirkt.
Die starren gesellschaftlichen Konventionen und auch die Belastungen und Nachteile, die Nelly Ternan aufgrund ihrer Liebe zu einem älteren, verheirateten, von der Öffentlichkeit vergötterten, sich absolut egoistisch verhaltenden Mann, hatte, werden kaum angesprochen. Denn es war auch eine Liebe, für die sie als Konkubine ihr Leben aufgab und über die sie schweigen musste. Auch nach ihrem Tod wurde von Dickens‘ Nachkommen diese Beziehung soweit möglich verschwiegen.
So bleibt der Film hinter den Möglichkeiten zurück, die die wahren Geschichte von Nelly Ternan geboten hätte.

The Invisible Woman - Plakat

The Invisible Woman (The Invisible Woman, Großbritannien 2013)
Regie: Ralph Fiennes
Drehbuch: Abi Morgan
LV: Claire Tomalin: The Invisible Woman: The Story of Nelly Ternan and Charles Dickens, 1991
mit Ralph Fiennes, Felicity Jones, Kristin Scott Thomas, Tom Hollander, Joanna Scanlan, Perdita Weeks, Amanda Hale, Tom Burke, John Kavanagh
Länge: 111 Minuten
FSK: ab 0 Jahre

Hinweise
Englische Homepage zum Film
Deutsche Homepage zum Film
Film-Zeit über „The Invisible Woman“
Moviepilot über „The Invisible Woman“
Metacritic über „The Invisible Woman“
Rotten Tomatoes über „The Invisible Woman“
Wikipedia über „The Invisible Woman“

Die TIFF-Pressekonferenz

Die NYFF-Pressekonferenz

Die Screen-Actors-Guild-Conversation


Neu im Kino/Filmkritik: „Only God Forgives“ – – – na immerhin einer

Juli 18, 2013

Das Team der grandiosen James-Sallis-Neo-Noir-Verfilmung „Drive“ – Regisseur Nicolas Winding Refn, Hauptdarsteller Ryan Gosling und Musiker Cliff Martinez – ist wieder zusammen und dieses Mal ist auch Kristin Scott Thomas dabei. Als Blondine und kaum erkennbar.

Kaum erkennbar ist auch die Geschichte. Sie kryptisch zu nennen, ist fast schon eine unverschämte Überhöhung. In Bangkok verdienen die Brüder Julian (Ryan Gosling) und Billy (Tom Burke) mit wahrscheinlich schmutzigen Geschäften ihr Geld – und stehen dabei noch unter der Fittiche ihrer Mutter Crystal (Kristin Scott Thomas als Cartoon-Sexy-Böse-Mutter), die aber erst zur Beerdigung von ihrem über alles geliebtem Sohn Billy nach Bangkok kommt. Billy hatte eine Prostituierte ermordet. Chang (Vithaya Pansringarm), ein im Film namenloser Polizist, stiftet den Vater und (oder?) Zuhälter der Toten an, Billy zu ermorden.

Danach entspinnt sich ein langatmiger Kampf zwischen Chang, der scheinbar jeden, der ihn stört, ermordet, und Julian, der seinen Bruder auf Befehl seiner Mutter, die ihn ständig herabsetzt, rächen soll.

Die meiste Zeit starren die Charaktere in Nicolas Winding Refns Film, der zu sehr die Antithese zu „Drive“ sein will, in gekonnt ausgeleuchteten Räumen nämlich Luftlöcher. Schnell wird deutlich, dass „Only God Forgives“ ungefähr so faszinierend wie das minutenlange, bewegungslose Anstarren von sich bedeutungsschwer gebenden, schön komponierten und schön anzusehenden Standbildern, unterlegt mit meditativ-einschläfernder Musik, ist.

Der Neunzigminüter ist eine Versuchsanordnung ohne irgendeine Dynamik, aber mit vielen Posen, die besser in einem Bildband oder einer Modefotostrecke zum Ausdruck kommen und „Only God Forgives“ zu einen der großen Enttäuschungen des Kinojahres macht.

Denn so ehrenwert und auf den ersten Blick erfreulich (Das war vor dem Filmgenuss.) es auch ist, dass das Team von „Drive“ nicht einfach die Erfolgsformel, dieses Mal mit etwas fernöstlicher Philosophie und Kampfkunst, wiederholt, so sehr muss man auch konstatieren, dass „Only God Forgives“ nur prätentiöser Quark mit einem Übermaß an Gewalt (die man meistens nicht sieht) ist, der verärgert und schnell tödlich langweilt.

Only God Forgives - Plakat

Only God Forgives (Only God Forgives, Frankreich/Dänemark 2013)

Regie: Nicolas Winding Refn

Drehbuch: Nicolas Winding Refn

mit Ryan Gosling, Kristin Scott Thomas, Vithaya Pansringarm, Tom Burke, Rhatha Phongam, Byron Gibson, Gordon Brown, Sahajak Boonthanakit, Joe Cummings

Länge: 90 Minuten

FSK: ab 16 Jahre

Hinweise

Film-Zeit über „Only God Forgives“

Metacritic über „Only God Forgives“

Rotten Tomatoes über „Only God Forgives“

Wikipedia über „Only God Forgives“

Meine Besprechung von Nicolas Winding Refns „Fear X“ (Fear X, USA 2003)

Meine Besprechung von Nicolas Winding Refns „Drive“ (Drive, USA 2011)


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