Die kriminelle Karriere von Ursula López beginnt mit einem Telefonanruf. Sie soll Lösegeld für ihren entführten Mann zahlen. Sie ist nicht verheiratet, aber neugierig, gerät in Teufels Küche und entdeckt bei sich ungeahnte kriminelle Fähigkeiten.
Das erzählte Mercedes Rosende in „Falsche Ursula“. In „Krokodilstränen“ und „Der Ursula-Effekt“ erzählte sie die weiteren Abenteuer der dicken, hässlichen, vollkommen unsportlichen Fünfzigjährigen. Jedenfalls sieht Ursula sich so, während ihr Vermögen wächst und echte Verbrecher, die ihr begegnen, in jeder Beziehung existenzbedrohende Probleme bekommen.
In ihrem neuesten, wiederum überaus kurzweiligem vierten Ursula-Roman „Ursula fängt Feuer“ erzählt Mercedes Rosende die Geschichte ihrer Heldin weiter.
Weil die Kommissarin Leonilda Lima sie immer noch hartnäckig verfolgt, ergreift Ursula einige Schutzmaßnahmen und verlässt Montevideo in Richtung der in Uruguay und Brasilien liegenden Grenzstadt Chuy. In der heruntergekommenen Ferienanlage Los Troncos trifft sie auf die ihr zum Verwechseln ähnlich aussehende Vanessa Steel. Vanessa ist der einzige andere Gast in der Anlage. Sie verkauft eindeutig verbotene pornographische Nacktfotos von Minderjährigen an vermögende Männer und sie bewahrt eine Tasche voll mit Geld, falschen Papieren und einer Schusswaffe für Rocco Morabito auf. Rocco ist ein ‚Ndrangheta-Boss, der Demenz hat und gerade aus dem Gefängnis ausgebrochen ist. Die Ferienanlage ist eine Station auf seiner Flucht aus dem Land.
Außerdem überlegt der Besitzer der Ferienanlage, wie er seine Schulden bezahlen kann. Ein Brand wäre eine Möglichkeit.
Auch der vierte Ursula-Roman ist ein gewohnt kurzweiliges, schwarzhumoriges Vergnügen mit einer sympathischen Heldin. Ursula ist eine schlecht gelaunte, alleinstehende Übersetzerin, die ungeahnte kriminelle Talente und eine ungeahnte kriminelle Energie hat. Diese setzt sie jetzt wieder ein.
Die Geschichte entfaltet sich flott. Rosende erzählt sie aus verschiedenen Perspektiven und mit unterschiedlichen Stimmen. Es gibt etliche prägnant gezeichnete Nebenfiguren, die im Lauf der Geschichte wichtig werden können. Auf wenigen Seiten entsteht ein dichtes Bild der dortigen Gesellschaft und Kultur.
Jeder der vier bis jetzt erschienenen Ursula-Romane kann unabhängig von den anderen gelesen werden. Aber sie spielen zeitlich nacheinander und bauen auch etwas aufeinander auf.
Am Ende von „Ursula fängt Feuer“ deutet Mercedes Rosende an, dass Ursula sich aus ihrem verbrecherischem Leben verabschiedet. Das wäre sehr schade.
Alan Moore gefällt die Verfilmung von 2005 nicht. Allerdings gefallen ihm auch die anderen Verfilmungen seiner Werke, teils trotz anderer Ansichten von Kritikern und Fans, nicht. Wahrscheinlich wird ihm auch die sich aktuell bei HBO in Planung befindende Serienadaption von „V wie Vendetta“ nicht gefallen.
Aber gefällt uns sein ab 1982 zusammen mit Zeichner David Lloyd geschriebener Comic „V wie Vendetta“ immer noch und was hat die von Alan Moore in den Achtzigern erfundene Geschichte uns heute zu sagen?
1997, einige Jahre nach einem Atomkrieg, wird England von einem totalitärem Regime regiert. Gegen diese Regierung protestiert ein Mann mit einer Guy-Fawkes-Maske. Fawkes und seine Mitverschwörer wollten am 5. November 1605 das englische Parlament im Palast von Westminster in die Luft sprengen. Der Anschlag schlug fehl. Fawkes wurde am 31. Januar 1606 gehängt. Bis heute wird in der Bonfire Night, auch bekannt als Guy Fawkes Day, an ihn erinnert. Nach der Verfilmung wurde die Guy-Fawkes-Maske bei vielen Demonstrationen getragen, die gegen die überbordende Überwachung durch den Staat protestierten.
Doch zurück zu dem Comic.
Der maskierte Mann, nur V genannt, kämpft gegen einen Überwachungsstaat, der die Bevölkerung in George-Orwell-“1984“-Manier ständig beobachtet, manipuliert und unterdrückt. Menschen mit abweicher Meinung oder der falschen Hautfarbe werden in Konzentrationslagern getötet. Auch V war in einem dieser Lager. Die dortigen Ärzte führten an ihm Experimente durch.
Während der ihn jagende Polizeidetektiv Finch einiges über ihn und seine Vergangenheit herausfindet und sich fragt, was davon der Wahrheit entspricht und was falsche Fährten sind, rettet V die Prostitutierte Evey. Sie wird, mehr oder weniger, zur Verbündeten bei seinem Feldzug gegen ein System, das der Anarchist vollkommen zerstören will.
Dabei hat V einen aus heutiger Sicht, zwischen Social-Media-Overkill, Fake News und einem ständig lügendem US-Präsidenten, naiven Glauben an die Aufklärung. V will mit den richtigen Informationen und der Wahrheit die Bevölkerung überzeugen und zum Kampf gegen die Regierung animieren.
„V wie Vendetta“ hat eine etwas komplizierte Publikationsgeschichte. Von 1982 bis 1985 veröffentlichten Moore und Lloyd die Geschichte als Schwarz-Weiß-Fortsetzungsgeschichte in dem britischen Comic-Magazin „Warrior“. Als das Magazin sein Erscheinen einstellte, war die Geschichte von V noch nicht zu Ende erzählt. Erst 1988 geschah das bei DC Comics. Die ursprünglich in SW erschienenen Teile wurden koloriert. Die zehn „V wie Vendetta“-Hefte wurden anschließend in einem Sammelband veröffentlicht. Die erste deutsche Ausgabe erschien 1991.
Die Geschichte ist, wie Alan Moores ebenfalls legendärer Comic „Watchmen“, deutlich von dem damaligen No-Future-Zeitgefühl beeinflusst. Alan Moore und David Lloyds London sieht wie eine satirisch überspitzte dystopische Version der Thatcher-Politik aus.
Auch David Lloyds Zeichenstil, die Farben und die Textlastigkeit gehören eindeutig in achtziger Jahre; wobei Alan Moore immer viel Text schreibt. Und manchmal in dem Begleitmaterial zu den Comics ausführlich auf seine Recherche und verarbeitete Einflüsse eingeht. In der aktuellen Ausgabe ist ein längerer Text von Alan Moore aus dem Jahr 1983 über die Geschichte enthalten.
Das macht „V wie Vendetta“ eindeutig zu einem Kind seiner Zeit. Aber, wie alle großen Science-Fiction-Geschichten, sprechen Alan Moore und David Lloyd zeitlose Fragen an. Auch wenn heute einiges anders geschrieben würde.
Luzy Morgenroth ist fünfzig – Andreas Pflügers neuer Thriller „Kälter“ beginnt an ihrem Geburtstag -, arbeitet seit acht Jahren als Polizistin auf Amrum und sie hat in den vergangenen Jahren zugenommen. Das süße Essen und das ruhige Inselleben. Aber sie kann immer noch zu der Kampfmaschine werden, die sie früher war.
Als im Herbst 1989 ein fünfköpfiges Killerkommando schon auf der Fähre nach Amrum einen Inselbewohner, der etwas bemerkt hat, was er nicht hätte bemerken sollen, ermordet, übernehmen bei ihr die eingeübten Routinen wieder das Kommando. Am Ende sind das Zielobjekt des Killerkommandos, ein Inselpolizist und die fünf Killer tot. Luzy hat die Killer im Alleingang getötet. Bei dem Kopf des Kommandos findet sie ein Stasi-Aktenblatt, aus dem hervorgeht, dass Hagen List noch lebt und er den Decknamen Babel hat. Babel ist der gefährlichste Terrorist der Welt. Nach Schätzungen des Bundeskriminalamt (BKA) hat er bei verschiedenen Anschlägen in verschiedenen Ländern zwischen sechs- und siebentausend Menschen ermordet. Viel mehr ist über ihn nicht bekannt. Außer dass List schon seit Jahren tot sein soll.
Luzy begegnete List 1981 in Israel. Damals tötete er den Minister, den sie und ihr Team beschützen sollten. Außerdem tötete er den Mann, den der Minister treffen wollte, und Luzys gesamtes Team.
Jetzt will Luzy, mit der Quasi-Billigung des ihr wohlgesonnenen BKA-Chefs, ein Team zusammenstellen und List jagen und endgültig zur Strecke bringen.
Für seinen vorherigen Thriller „Wie Sterben geht“ erhielt Andreas Pflüger den Deutschen Krimipreis. Sein neuer Thriller „Kälter“ steht aktuell auf dem zweiten Platz der monatllichen Krimibestenliste, die mir bekannten Kritiken sind überaus positiv und wem „Wie Sterben geht“ gefiel, dem dürfte auch Pflügers neuer Standalone gefallen.
Wieder nimmt er sich viel Zeit. Die 1981 und 1989 spielende Geschichte entwickelt sich auf fast fünfhundert eng bedruckten Seiten im Schneckentempo. Pflüger erzählt überaus detailreich von Luzys Training vor Einsätzen, den Verwicklungen zwischen den Regierungen und Geheimdiensten in Ost und West – und den seit den siebziger Jahren in Westeuropa aktiven Terrorgruppen. List wird dabei zu einem Über-“Carlos“ stilisiert. Luzy etabliert sich schon auf den ersten sechzig Seiten zwischen zwei Fischbrötchen als ebenbürtige Konkurrentin zu den rüstigen Actionrentnern, die seit einigen Jahren in Actionfilmen mühelos ganze Armeen gut trainierter Jungspunde verprügeln und töten. Das ist dann die Welt gut abgehangener Pulp-Romane.
Rilke – Du musst Dein Leben ändern(Deutschland 2025)
Regie: Thomas von Steinaecker
Drehbuch: Thomas von Steinaecker
Brandneue 55-minütige Doku über den Dichter Rainer Maria Rilke (4. Dezember 1875, Prag, Österreich-Ungarn – 29. Dezember 1926, Sanatorium Valmont bei Montreux, Schweiz). Danach wissen wir mehr über sein Leben und Werk.
Was bedeutet Rainer Maria Rilke für uns heute? Melanie Garanin („Nils. Von Tod und Wut. Und von Mut“) beantwortet diese Frage anhand der Geschichte einer Journalistin, die einen Artikel über ein Rilke-Symposium in Worpswede schreiben soll, ihm (oder einem Imitator) begegnet und sich auf die Spuren des Dichters begibt.
Garanin erzählt das, kurzweilig und informativ, zwischen Rilkes Biographie und den heutigen Ereignissen hin und her springend.
Choi Yu-hee betreibt im Stadteil Dosan ein Blumengeschäft. Es ist in einem abgelegenem Teil Sejins, aber dank einer treuen, zuerst aus der Nachbarschaft kommenden Kundschaft, Social Media und einem Extra-Service läuft ihr Laden ganz gut.
Dieser Extra-Service macht Minyoung Kangs Debütroman „Plant Lady“ auch für den Krimifan interessant. Denn Yu-hee bringt die Männer um, die ihre Kundinnen schlagen, belästigen oder sonstwie schlecht behandeln. Dabei gilt die Regel: wer Pflanzen schlecht behandelt, behandelt auch Frauen schlecht. Oder umgekehrt.
Selbstverständlich erweckt ihr Tun – es verschwinden einfach zu viele Männer für immer in ihrem Geschäft – auch den Verdacht der Polizei. Der Kriminalbeamter Cha Do-kyung will unbedingt die Wahrheit herausfinden.
Das klingt doch nach einer Idee, aus der eine gute Geschichte entstehen könnte.
Leider ist einiges schief gegangen. So ist „Plant Lady“ weniger ein Roman und viel mehr eine Sammlung unabhängiger Kurzgeschichten. Einzig die Ermittlungen von Do-kyung, der erst kurz vor der Buchmitte seinen ersten Auftritt hat, bringen eine rudimentäre Chronologie und die sich nicht erfüllende Erwartung auf ein konventionelles Finale in die sechs Geschichten.
Aber eine Sammlung von Kurzgeschichten kann doch, wie, um nur ein aktuell im Handel erhältliches Buch zu nennen, Maurice Leblancs „Arsène Lupin, der Gentleman-Gauner“, der der Polizei immer wieder entwischt, eine kurzweilige und vergnügliche Lektüre sein. In diesem Fall ist sie es nicht. Die einzelnen Geschichten und damit der gesamte Roman sind zu spröde geschrieben und an den entscheidenden Stellen zu unklar. Während Minyoung Kang das Motiv, also die Verfehlungen des Mannes, noch grob skizziert, handelt sie seinen Tod mit einem Halbsatz, den man leicht überlesen kann, ab. Es ist, auch wenn wir uns denken können, dass sein Tod irgendwie durch irgendeine Pflanze verursacht wurde, unklar, wie er genau stirbt. Wie sie die Leiche dann entsorgt, ist noch unklarer. Auch wenn wir vermuten können, dass er irgendwie zu Dünger verarbeitet wird. Wir erfahren nichts über die Planung und die immer problemlos ablaufende Durchführung.
Ein weiteres Problem ist, dass Yu-hee nie zweifelt. Sie glaubt ihren Kundinnen bedingungslos und geht kompromisslos gegen den Problemverursacher vor.
Das macht die Rachefantasie „Plant Lady“ zu einer drögen und auch enttäuschenden Lektüre. Jedenfalls für alle, die gerne einen schwarzhumorigen Krimi gelesen hätten, in dem einige Männer bestraft werden.
Eines Tages taucht ein Fremder in der ärmlichen Bar von El Tano auf. Er fragt nach Pepa. Er erzählt von seiner Heimat, seinen großen Ländereien und dem Regen, der Wiesen und Weiden gedeihen lässt.
Kurz darauf ist er tot. Der Erzähler der Geschichte und die anderen Dorfbewohner verscharren die Leiche und beschließen, über die Sache zu schweigen. Zwei Wochen später tauchen drei von Lopretes insgesamt neun Brüder auf. Sie suchen suchen ihren verschwundenen Bruder. Es gibt weitere Tote.
Mariana Travacio erzählt in ihrem Debütroman in wenigen Worten und kargen Szenen, die es unmöglich machen, den Roman zeitlich und örtlich präzise zu verorten, eine blutige eskalierende Rachegeschichte. Jeder Mord wird mit einem weiteren Mord vergolten. Die Morde geschehen dabei eher nebenbei, zwischen Sätzen, und werden protokollarisch vermerkt. Das Ausmalen der Ereignisse unmittelbar vor dem Mord bleibt dem Leser überlassen. Die Stimmung, die davor und danach bei Manoel, dem Erzähler, und den Männern, mit denen er die Lopretes verfolgt, herrscht, beschreibt sie genauer. Auch das ihre Stimmung spiegelnde Wetter. Die Bilder die sie in ihrer düsteren Rachegeschichte heraufbeschwört, erinnern an einen dreckigen Italo- oder Neo-Western.
Auch aufgrund seiner Länge von deutlich unter 120 Seiten (nicht jede Seite ist vollständig bedruckt) liest sich „Ein Mann namens Loprete“ nicht wie ein Roman, sondern wie ein Treatment für einen Western, den vor fünfzig Jahren Sergio Leone oder Sam Peckinpah gut hätte inszenieren können.
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Mariana Travacio: Ein Mann namens Loprete
(übersetzt von Kirsten Brandt, mit einem Nachwort von Jochen König)
Die Prämisse liest sich spannend. Ein Mann sitzt in der Schweiz im Gefängnis. Er soll der vor sieben Jahren spurlos verschwundene Schweizer Anatol Stiller sein. Er sagt, er sei der US-Amerikaner James Larkin White. Lügt er? Oder irren sich die Behörden?
Ausgehend von dieser Frage schrieb Max Frisch seinen Roman „Stiller“. Er wurde 1954 veröffentlicht und ein Bestseller. Seitdem wurde immer wieder über eine Verfilmung gesprochen. Stefan Haupt, der den Roman jetzt verfilmte, unterhielt sich noch vor Frischs Tod am 4. April 1991 mit ihm darüber und erhielt die Rechte. Seine damaligen und andere Verfilmungspläne zerschlugen sich.
Als ein Grund wurde immer gesagt, dass „Stiller“ zu wenig und die falsche Handlung für eine Verfilmung habe.
„Ich bin nicht Stiller!“
Jetzt verfilmte Haupt, nach einem von ihm und Alex Buresch geschriebenem Drehbuch, den Roman nah am Roman als gediegenen TV-Film. Die Besetzung ist prominent. Albrecht Schuch spielt White, Paula Beer die mit Stiller verheiratete Balletttänzerin Julika Stiller-Tschudy, Max Simonischek Staatsanwalt Rolf Rehberg, Maria Leuenberger seine fremdgehende Frau Sibylle Rehberg, Stefan Kurt Dr. Bohnenblust und Sven Schelker spielt in den Rückblenden Anatol Stiller.
Der Film beginnt, wie der Roman, mit Whites Verhaftung. Was ihm genau vorgeworfen wird – außer dass er einen falschen Pass haben soll und alkoholisiert gegenüber Polizisten ausfällig wurde – erfährt White nicht. Ihm werden mehrere unbeschriebene Hefte gegeben. Der amtliche Verteidiger rät ihm, die Wahrheit aufzuschreiben. White beginnt zu schreiben über seine aktuelle Situation, sein Leben als White, von ihm erfundene Geschichten und über das, was ihm über Stiller und das Umfeld des verschwundenen Bildhauers berichtet wird.
Das ist gediegen, immer auf TV-Niveau inszeniert. Kein Bild verlangt nach der großen Kinoleinwand. Kein Bild und kein Dialog verunsichert. Dabei betonen Haupt und Co-Drehbuchautor Buresch an ein, zwei Stellen den Krimiplot stärker als im Roman. So wird im Film deutlich angedeutet, Stiller könnte in eine politische Affäre verwickelt sein, möglicherweise sogar einen Mord begangen haben und sich seitdem auf der Flucht befinden.
Oder bin ich doch Stiller?
Haupts Film hält sich, mit einigen notwendigen Straffungen und Akzentverschiebungen, an die Struktur und Geschichte des Romans. Damit hat er auch die massiven Probleme des Romans. „Stiller“ erzählt, nach einem vielversprechendem ersten Satz eine aus Sicht eines Krimilesers durchgehend unlogische Geschichte. Im Film wird das noch deutlicher als im Roman. Im Film wird White mehrmals gesagt, er könne das Gefängnis sofort verlassen, wenn er sagt, er sei Stiller. Danach, vor der Tür der Haftanstalt, könne er sich wieder White nennen und seines Weges gehen. Warum er das Angebot nicht annimmt, bleibt unklar.
„Stiller“ ist, wie gesagt kein Kriminalroman. Max Frisch hatte auch nie die Absicht, einen Kriminalroman zu schreiben. Er ist absolut desinteressiert an allem, was zu einem Kriminalroman gehört. So bleibt bis zum Ende unklar, was White/Stiller genau vorgeworfen wird. Also woher das übergroße Interesse der Schweiz an seiner Inhaftierung kommt. Auch White fragt nie energisch nach. Stattdessen richtet er sich gemütlich in der Untersuchungshaft ein und schreibt mehrere Hefte voll.
Die im ersten Absatz aufgeschriebene Behauptung des Ich-Erzählers, er sei unschuldig inhaftiert, ist nur der Köder, der dazu dient, die Leser zum Lesen zu animieren. Frisch ging es um das Porträt eines Mannes, der aus seinem Leben in ein anderes Leben, über das wir nichts erfahren, flüchtet. Und um ein längliches Ehedrama.
Der Roman wird letztendlich aus einer Perspektive erzählt. Nämlich der von White. Über Stillers Leben und dem Leben von Sibylle Rehberg, einer Geliebten Stillers, schreibt er immer nur, was ihm andere Menschen über diese Menschen erzählt haben. Oder was er sich ausdenkt. Auch wenn die verschiedenen von White aufgeschriebenen möglicherweise wahren und definitiv erfundenen Geschichten verschiedene Perspektiven vortäuschen, sind die von White im Gefängnis getätigten Aufzeichnungen bestenfalls eine Selbstbefragung. Es gibt keine verschiedenen Perspektiven auf Stiller, sondern immer nur eine Sicht.
Auch wenn am Ende des Romans gesagt wird, dass White Stiller ist und er wieder seine wahre Identität annimmt, kann auch interpretiert werden, dass White und Stiller zwei verschiedene Personen sind. White nimmt dann die Identität von Stiller an, weil er so seinen Frieden finden kann. Diese Interpretation ist möglich, weil Frisch trotz der epischen Länge von über vierhundert Seiten kaum etwas über Stiller und noch weniger über White verrät. Fakten, die eine Identität bestätigen könnten, gibt es auch nicht. Entsprechend fremd bleiben Stiller und White dem Leser.
Als Briefroman – wie Mary Shelleys „Frankenstein“ oder Bram Stokers „Dracula“ (um nur zwei bekannte Beispiele zu nennen, die jetzt wieder verfilmt wurden) – wäre hier mehr möglich gewesen.
Und dann muss noch der Elefant im Raum angesprochen werden. „Stiller“ spielt 1952. Er verschwand Ende 1945/Anfang 1946. Seine Beziehung zu Julika und die Ereignisse die zu seinem Verschwinden geführt haben, ereigneten sich in den davor liegenden Jahren. Konkret: zu einem großen Teil ereigneten sie sich kurz vor und während des Zweiten Weltkriegs. Auch wenn die Schweiz während des Kriegs neutral war, ist es schlechterdings unvorstellbar, dass das Kriegsgeschehen keinerlei Auswirkung auf das Leben in der Schweiz gehabt haben soll. Das macht „Stiller“ zu einem von der damaligen Realität der Nazi-Diktatur und des Zweiten Weltkriegs vollkommen abgekoppelten Fantasyroman.
Die eingestreuten Erzählungen von White sind schlechte Pulp-Kurzgeschichten, die mit der Hauptgeschichte nichts zu tun haben. Auch die in der zweiten Hälfte des Romans über Dutzende von Seiten geschilderten Eheprobleme und Erlebnisse von Sibylle Rehberg tragen nichts zur Klärung der Identität von White/Stiller bei.
Das erfolgt dann im Roman in einem über fünfzigseitigem Nachwort des Staatsanwalts. Im Film erfolgt die Enttarnung etwas anders.
„Ich bin nicht Stiller!“
„Stiller“ bebildert brav einen Literturklassiker, der mich niemals ansprach. Natürlich erkannte ich beim Lesen des Romans und Sehen des Films mühelos die Konstruktion und wie Myriaden von Studierenden die Geschichte in Abiturprüfungen und Seminararbeiten sie interpretieren und die zahlreichen Anspielungen fliegenbeinzählerisch aufschreiben können. Aber vieles an der Geschichte und den Figuren ist einfach zu unglaubwürdig und zu konstruiert um zu überzeugen.
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Nachbemerkung, die wahrscheinlich nur wenige verstehen: Nicht auszudenken, was Donald Westlake aus der Idee gemacht hätte.
Stiller(Deutschland/Schweiz 2025)
Regie: Stefan Haupt
Drehbuch: Alex Buresch, Stefan Haupt
LV: Max Frisch: Stiller, 1954
mit Albrecht Schuch, Paula Beer, Max Simonischek, Marie Leuenberger, Stefan Kurt, Sven Schelker, Martin Vischer, Marius Ahrendt
Länge: 99 Minuten
FSK: ab 12 Jahre
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Die Vorlage (aktuell im Filmcover)
Max Frisch: Stiller
Suhrkamp, 2025
448 Seiten
12 Euro
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Erstausgabe
Suhrkamp, 1954
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Seitdem fester Bestandteil der Suhrkamp-Bibliothek
Nach einem in der Gegenwart spielendem Prolog, in dem Studierende während eines Anatomieseminars die Knochen von Josef Mengele gezeigt bekommen, springt Kirill Serebrennikov zurück in die fünfziger Jahre. In schönster Film-Noir-Manier und selbstverständlich in Schwarz-Weiß flüchtet ein Mann tagsüber durch Buenos Aires. Er fühlt sich verfolgt. Und wie wir ziemlich schnell erfahren, ist seine Sorge nicht vollkommen unberechtigt.
Seit 1949 lebt der Mann als Helmut Gregor in Südamerika. In Wirklichkeit ist es Josef Mengele. Mengele wurde 1911 in Günzburg an der Donau als ältester Sohn des vermögenden Fabrikbesitzers Karl Mengele geboren. Später studierte er Medizin und Anthropologie, war Assistent bei dem Rassenhygieniker Otmar von Verschuer und von Mai 1943 bis Januar 1945 Lagerarzt im KZ Auschwitz-Birkenau. Später wurde er als Todesengel und Monster von Auschwitz bekannt. Zum Mythos wurde er, weil er der Polizei immer wieder entkommen konnte und, auch in fiktionalen Geschichten, alle möglichen Geschichten über ihn verbreitet wurden. Rückblickend hatten sie nichts mit Mengeles Leben in Südamerika zu tun. Der Polizei konnte er über viele Jahre entkommen, weil sie sich nicht für ihn interessierte.
In seinem neuen Film „Das Verschwinden des Josef Mengel“ erzählt Kirill Serebrennikov, unterbrochen von einigen Rückblenden in das KZ Auschwitz, Josef Mengeles Leben in Südamerika und wie er zunehmend paranoid, isoliert und verbittert wird. Bis zu seinem Tod unterstützt ihm seine Familie finanziell. Weitere Unterstützung erhält er in Argentinien unter dem Diktator Perón von weiteren Nazis und einem breiten Netz von Sympathisanten. Serebrennikov zeigt – und das dürften die erschreckensten Szenen des Films sein – wie die Alt-Nazis in Argentinien unbehelligt von jeder Verfolgung und unter den Augen der Öffentlichkeit in ihren Villen ihr Nazitum ungehindert ausleben. Sie müssen sich nicht verstecken und tun es auch nicht.
Für Mengele ist Buenos Aires nur eine Station in Südamerika.
1977 besucht ihn sein Sohn Rolf in der Nähe von Sao Paulo. Er will mehr über seinen Vater erfahren und trifft einen einsamen, in einer heruntergekommenen Wohnung lebenden, verbitterten, die Welt hassenden Mann. Zwei Jahre später hat Mengele in dem brasilianischen Badeort Bertioga beim Schwimmen im Meer einen tödlichen Schlaganfall. Er wird unter falschem Namen beerdigt. 1985 bestätigt eine forensische Untersuchung die Identität von Mengele.
Diese Biographie eines verachtenswerten Mannes faszinierend vor allem in den Szenen, in denen Serebrennikov Mengeles Leben in den fünfziger Jahren in Argentinien und wie er 1956 kurz nach Deutschland zu seiner Familie zurückkehrt und seinen zwölfjährigen Sohn Rolf trifft, erzählt. Später wird „Das Verschwinden des Josef Mengele“ zunehmend zäh. Das gilt vor allem für seine Begegnung mit seinem Sohn 1977 in Sao Paulo. Sie zieht sich in sich wiederholenden Gesprächen endlos hin. Schon davor wird immer deutlicher, dass Mengele kein besonders interessanter oder komplexer Mensch ist. Er ist auch kein Mensch, für den man Mitleid oder Empathie empfinden könnte
Er ist ein Mitläufer, der nicht weiter nachdenkt, ein Rassist und ein Feigling, der nicht einsehen möchte, dass er grausame Verbrechen begangen hat. Er fühlt sich von allen ungericht behandelt. Dankbarkeit, bespielsweise gegenüber seiner ihn finanziell unterstützenden Familie, kennt er nicht. Er ist unfähig zur Reflektion über sich und seine Taten. Er wird zunehmend einsam und paranoid.
August Diehl, der Mengele kongenial spielt, sagt, Mengele „war einfach ein kleiner spießiger Arzt in einem Lager“.
Olivier Guez, der Autor der Romanvorlage, ergänzt im Presseheft: „Jeder andere Mensch, der im Film zu sehen ist, ist wertvoller. Denn er [Josef Mengele] ist unbelehrbar und komplett flach. Er verkörpert die Mediokrität des Bösen“.
Die Vorlage für Kirill Serebrennikovs Noir ist „Das Verschwinden des Josef Mengele“ von Olivier Guez. Guez schrieb auch das Drehbuch für Lars Kraumes „Der Staat gegen Fritz Bauer“. Sein Roman „Das Verschwinden des Josef Mengele“ ist ein Tatsachenroman, der ein strikt an den bekannten Fakten entlangerzählter Bericht ist. Guez reportiert einfach die Ereignisse nacheinander. Das Ergebnis ist eine angesichts des Materials eine erstaunlich dröge lexikalische Lektüre.
Dagegen ist Serebrennikovs etwas lang geratene Verfilmung als gnadenlose Demontage des Übermenschen ein spannender Noir mit satirischen Elementen, Wut auf Mengele, die Nazis und ihre Unterstützer und einem mitleidlosen Blick auf den gefürchteten Auschwitz-Arzt, der zunehmend zum lächerlichen Mann wird.
Das Verschwinden des Josef Mengele(Frankreich/Monaco/Deutschland/Mexiko/USA/Großbritannien/Serbien/Lettland 2025)
Regie: Kirill Serebrennikov
Drehbuch: Kirill Serebrennikov
LV: Olivier Guez: La disparition de Josef Mengele, 2017 (Das Verschwinden des Josef Mengele)
mit August Diehl, Max Bretschneider, David Ruland, Friederike Becht, Mirco Kreibich, Dana Herfurth, Karoly Hajdyk, Falk Rockstroh, Burghart Klaußner
Länge: 135 Minuten
FSK: ab 12 Jahre
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auch bekannt als „The Disappearance“ und „La disparition de Josef Mengele“
Diese Woche stellte Jake Lamar in Berlin in der Buchhandlung InterKontinental seinen neuen Kriminalroman „Viper’s Dream“ vor. In dem grandiosen Noir-Jazz-Gangsterroman muss Clyde ‚Viper‘ Morton 1961 innerhalb der nächsten drei Stunden seine Heimatstadt New York verlassen. Der Schwarze hat gerade einen Menschen ermordet. Es ist der erste Mord, den er bereut. Im Cathouse der Baroness Pannonica de Koenigswarter, einer Rothschild-Erbin und über Jahrzehnte wichtige Jazz-Mentorin, plant er, umgeben von bekannten Jazzmusikern, seine Flucht. Da stellt sie ihm die Frage, die sie in ihrem Leben,
hunderten von Jazzmusikern stellte: „Wenn du drei Wünsche frei hättest, die sofort in Erfüllung gingen, welche wären das?“
In dem Moment beginnt Clyde Morton über sein Leben nachzudenken – und Jake Lamar schreibt auf, wie Morton 1936 von Alabama nach New York kommt, in Harlem Musiker werden will und ein Verbrecher wird. Mr. O nimmt ihn in seine Organisation auf. Viper wird zum gut verdienenden Drogenhändler.
„Viper’s Dream“ ist eine fulminante, sehr dicht und schnörkellos geschriebene Biographie eines Gangsters, die unmittelbar mit dem Wandel des Verbrechens und der Jazzmusik von den dreißiger bis zu den sechziger Jahren in New York und den USA verknüpft ist. Der Krimi erhielt letztes Jahr den CWA Historical Dagger Award. Dieses Jahr war er von den Mystery Writers of Japan als bester ins Japanische übersetzter Kriminalroman nominiert.
Letztes Jahr erschien, ebenfalls in der Edition Nautilus, als erste Übersetzung eines seiner Romane ins Deutsche, „Das schwarze Chamäleon“. Über den mit dem Deutsche Krimipreis ausgezeichneten Roman schreibt Krimiautor Robert Brack, der den Roman übersetzte, im Nachwort: „ein perfekt konstruierter klassischer Whodunnit, außerdem ein satirischer Campus- und vielschichtiger amerikanischer Gesellschaftsroman, der schon 2001 komplexe Fragen von Race, Gender und Identity Politics mit beeindruckender erzählerischer Virtuosität behandelte.“
Während der Lesung sprach der in der Bronx aufgewachsene, seit 1993 in Paris lebende Autor auch über seine anderen Romane, wie seine Bücher entstehen, von ihm bewunderte Kollegen und Romane und den Jazz.
Am 13. Dezember wird im winterlich verschneiten Prag im Garten einer Zwischenkriegsvilla eine Frauenleiche gefunden. Während Kriminalrat Marián Holina vom Dezernat für Tötungsdelikte noch rätselt, wer die Tote ist und wer sie vor einigen Tagen ermordete, haben wir Leser von Iva Procházkovás Kriminalroman „Die Spur der Kälte“ bereits eine ziemlich gute, sich später bestätigende Idee über ihre Identität. Es handelt sich um die 22-jährige Tran Chau Anh, eine Vietnamesin mit tschechischer Staatsbürgerschaft. Sie studierte Jura, lebte in einer Wohngemeinschaft und, obwohl ihre geschiedenen Eltern vermögend sind, arbeitete sie als Pflegeassistentin von Andrej und Tamara Knotek und kellnerte in einer ‚Oben-Unten-Ohne‘-Bar. Einer der Kunden des Lokals könnte sie ermordet haben.
Ein anderes, noch besseres Motiv ergibt sich aus ihrer Arbeit als Assistentin. Nach einem schweren Unfall, bei dem der Ingenieur Andrej sich am Kopf verletzte, wurde er wieder zum Kind, das mehr oder weniger ständig beaufsichtigt werden muss. Anh erledigt diese Aufgabe an einigen Stunden in der Woche. Inclusive, und ohne dass Tamara es erfährt, kleineren sexuellen Gefälligkeiten. Er gibt ihr immer wieder Geld. Und vergisst es anschließend. Neben Anh hilft die junge Physiotherapeutin Doubravka Andrej.
Es ist eines dieser Pflegenetzwerk, in dem viele Menschen viele intime Details aus dem Leben der anderen wissen. Beispielsweise, dass die Knoteks bei der letzten Ziehung des Eurojackpots den Hauptgewinn gewonnen haben. Dummerweise ist der Wettschein, der jetzt 45 Millionen Euro wert ist, unauffindbar.
Im folgenden konzentriert Procházková sich nicht auf die polizelichen Ermittlungen. Sie entfaltet ein ausuferndes Bild, in dem sie von den vielen Verdächtigen, ihrem noch größerem Umfeld und ihrem Leben nach der Entdeckung von Anhs Leiche erzählt. Der Leser, der versucht bei der Mördersuche mitzurätseln, wird dabei genötigt, immer mehr potentiell Verdächtige aus der Liste der möglichen Täter zu streichen. Vor allem, weil sie immer noch den Lottoschein suchen. Oder keine sichtbaren Wunden haben. Denn Anh wehrte sich.
„Die Spur der Kälte“ ist also kein Rätselkrimi. Er ist auch kein Polizeiroman, der sich auf die Arbeit der Polizei konzentriert. Er ist ein Mini-Mini-Gesellschaftsporträt, das den Fokus auf verschiedene Menschen lenkt, die von einem Mord betroffen sind und von denen einer der Mörder sein könnte. Procházková erzählt dies sehr kleinteilig in einem angenehm Tonfall, der sich an klassischen Erzähltugenden orientiert. Außerdem erfahren wir einiges über die kriminalliterarisch wenig erkundete tschechische Hauptstadt, die sich in diesem Fall und mit diesen Verdächtigen und ihren Problemen kaum von einer anderen westlichen Metropole unterscheidet. Besonders spannend ist das dann nicht. Die Auflösung, in der der Mörder uns in seinen Gedanken den Tathergang schildert, gerät eher unbeholfen.
Iva Procházková wurde 1953 in Olmütz, Tschechoslowakei, geboren. Sie lebte viele Jahre in Österreich und Deutschland. Seit 2001 lebt sie in Prag. Neben den Romanen für Erwachsene schrieb sie Drehbücher und Kinder- und Jugendbücher. Für diese erhielt sie, unter anderem, den Deutschen Jugendliteraturpreis, den Österreichischen Jugendbuchpreis und den Luchs des Jahres.
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Iva Procházková: Die Spur der Kälte – Ein neuer Fall von Kommisaar Holina
(übersetzt von Mirko Kraetsch)
braumüller, 2025
432 Seiten
22 Euro
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Originalausgabe
Dívky nalehko
Paseka, Prag 2016
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Außerdem von Iva Procházková erhältlich
Iva Procházková: Der Mann am Grund – Der erste Fall von Kommissar Holina
Wer war Xaver, der X. genannt wird? Sein bester Freund Erich will für einen Nachruf, den er ihren gemeinsamen Bekannten zuschicken will, die wichtigsten Stationen im Leben seines Freundes zusammentragen. Sie lernten sich in den Achtzigern in Zürich während des Studiums kennen. Erich studierte BWL. X. alles andere, nach Lust und Laune, abseits des Lehrplans. Danach trafen sie sich, teils mit langen Unterbrechungen, immer wieder. Vor zwei Monaten wurde X. Leiche neben der Straße zum Flughafen von Bissau, der Hauptstadt voun Guinea-Bissau gefunden. Wahrscheinlich wurde der 49-jährige ermordet.
Aber wie seriös ist Erichs Erinnerung an X.? In der ersten Hälfte von David Signers „Das Ende der Maskeraden“ porträtiert er X. als um die Welt reisenden Abenteurer, Freigeist, Schlawiner und Künstler. Er hatte überall Freunde und sicher war er auch in halbseidene und gefährliche Geschäfte verwickelt. In jedem Fall erlebte er in seinem kurzen Leben mehr als ein halbes Dutzend Pulp-Helden.
In der zweiten Hällfte von „Das Ende der Maskeraden“ beginnt Signer dann, den Ich-Erzähler und dessen Behauptung von der tiefen, durch keinerlei Neid oder schlechte Gefühle getrübten Freundschaft zu demontieren. Die Polizei ermittelt gegen ihn. X. erscheint in einem anderen, deutlich unvorteilhafteren Licht.
„Das Ende der Maskeraden“ ist eine schnell gelesene, spannende Geschichte, mehr Kurzroman oder Novelle als klassischer Roman, über Erinnerungen, Freundschaft und den Lügen, die wir uns über unser Leben erzählen. Nach knapp hundertfünfzig Seiten ist alles anders als es auf den ersten Blick erschien.
Mehr will ich nicht verraten über das Leben und den Tod von X..
Es sind kurze Geschichten, die Juoko Kawakami in seiner Manga-Kurzgeschichtenreihe „Furcht – Horrorgeschichten aus dem modernen Japan“ erzählt und zeichnete. Vor wenigen Tagen erschien der dritte Band. Er enthält auf unter zweihundert Seiten zwölf Kurzgeschichten, die einige Gemeinsamkeiten haben und vollkommen unabhängig voneinander gelesen werden können. Es sind, wie der Titel verrät, kurze Horrorgeschichten, die im heutigen Japan spielen. Trotzdem spielen sie immer wieder, für uns wenig bis nicht erkennbar, auf japanische Traditionen an. Das Wissen über diese Traditionen steigert dann das Lesevergnügen, aber für das Verständnis der meisten Geschichten (ein, zweimal dachte ich, dass ich die Pointe nicht verstehe, weil ich die angesprochene Riten, Sitten und Erzählungen nicht kenne) ist es egal. Sie sind universell verständlich.
Im Mittelpunkt der Geschichten steht das Leben im heutigen Japan, meistens mit Protagonisten zwischen Schule und Studium und ihren Problemen. Computer, Handys, die Wirkung von Influencern und das Leben in einer anonymen Großstadt stehen immer wieder im Zentrum der mal mehr, mal weniger übernatürlichen Geschichten.
In der ersten Geschichte bemerkt ein schönheitsversessener Junge plötzlich einen Pickel an seinem Hals und Haare an den Beinen. Was für einen normalen Jugendlichen höchstens ärgerlich wäre, ist für ihn eine Katastrophe. Das Ende ist – überraschend.
In anderen Geschichten geht es um den nächtlichen Besuch in einem leer stehendem Haus, das möglicherweise doch nicht so leer steht. Oder um den Betreiber von einem Okkult-TV-Kanal, der eine Veranstaltung einer Netzwerk-Marketing-Firma besucht – und sich irgendwann denkt, er hätte wohl doch besser eine weitere Geistervilla erkundet. Es geht um den Besuch bei den seltsamen Eltern des künftigen Gatten. In einer anderen Geschichte geht es um eine Hochzeit und die Planungen vor der Hochzeit. Eine andere Geschichte beschäftigt sich mit den körperlichen Veränderungen eines schmächtigen Jungen bei dem Training in einem Fitnessstudio. Einmal geht es um die moderne urbane Legende Ushigisan, die gerade im Netz trendet; ein anderes Mal um eine KI-Cosplayerin und einmal um eine Telefonzelle, die als Müllabladeplatz benutzt wird.
Auch der dritte „Furcht“-Sammelband ist eine schön schwarzhumorige Lektüre.
Der vierte Band ist für November angekündigt. Das klingt doch nach einem Weihnachtsgeschenk für den Horrorfan.
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Juoku Kawakami: Furcht – Horrorgeschichten aus dem modernen Japan – Band 3
396.960 Einwohner (da hat Bochum deutlich weniger und der Berliner Bezirk Pankow über zehntausend Einwohner mehr)
Größe der Insel: 103.000 Quadratkilometer
Bevölkerungsdiche: 4 Einwohner pro km² – oder, anders ausgedrückt: Island ist in Europa der am dünnsten besiedelte Staat
Die Verbrechensrate ist sehr niedrig. Im Durchschnitt werden auf der Insel zwei Morde pro Jahr verübt. Manchmal gibt es innerhalb eines Jahres keinen einzigen Mord. Nach Vergleichsrankings ist Island das sicherste Land der Welt.
Die Zahl der jährlich verübten Morde ist natürlich nur für Journalisten und Wissenschaftler interessant. Autoren fiktionaler Geschichten müssen sich, zum Glück für das verbrechensgierige Lesepublikum, nicht darum kümmern. Denn dann gäbe es in Island höchstens einen Krimiautor, der auch nur alle zwei Jahre einen Krimi veröffentlichen darf. Serienkiller wären, wegen der vielen von ihnen verübten Morde, tabu.
Satu Rämö kümmert sich, wie ihre isländischen Autorenkollegen, nicht um diese Zahlen. „Die Spur im Fjord“, ihr erster Roman mit ihrer Kriminalpolizistin Hildur Rúnarsdóttir, erschien 2022; die deutsche Übersetzung 2023. „Das Grab im Eis“ und „Der Schatten des Nordlichts“ folgten. In ihrem vierten und somit neuesten Roman „Hildur – Die Toten am Meer“ muss ihre Serienheldinn Hildur gleichzeitig mehrere Fälle aufklären. Harmlos sind die Einbrüche in leer stehende Ferienhäuser. Dazu kommen noch ungefähr ein halbes Dutzend Morde. Und ein alter Fall. Und der seltsame Tod eines Babys. Oh, und ein Mann stolpert mit einem blutverschmierten Gesicht von einem Touristenschiff.
Das sind viele Fälle, von denen am Ende auch einige, mehr oder weniger, miteinander zusammenhängen und, was quasi unvermeidbar bei den wenigen Inselbewohnern ist, die Kommissarin kennt einige der Verdächtigen gut. Ein Fall wird ihr sogar aus der Hand genommen. Die vier Menschen, die vor Jahrzehnten in der Erde vergraben wurden, wurden auf dem Hof von Hildurs Eltern vergraben. Ihre toten Eltern könnten etwas mit den Toten zu tun haben.
Wer die Toten sein könnten und warum sie dort vergraben wurden, wird in zahlreichen, in den Neunzigern spielenden Rückblenden, in denen es vor allem um das Leben von Hildurs Eltern geht, angedeutet.
Auf „Die Toten am Meer“ trifft die Kritik zu, die schon zu ihrem ersten Kriminalroman „Die Spur im Fjord“ geäußert wurde. Im Umkehrschluss heißt das: wem die vorherigen Hildur-Romane gefielen, dürfte auch der neueste Hildur-Roman gefallen.
Die Ermittlungen erfolgen hauptsächlich in der Form von Infodumps. Selten begleiten wir die Ermittler bei ihrer Arbeit. Oft erzählen sie sich gegenseitig, was sie ermittelten. Manchmal endet ein Kapitel mit einer für die Ermittlungen wichtigen Entdeckung. Später erzählt dann der eine Ermittler dem anderem, was er entdeckte und was er danach unternahm. Das ist nur mäßig spannend.
Es gibt zu viele Fälle, die sich dann gegenseitig im Weg stehen und teilweise über viele, sehr viele Seiten aus der Geschichte verschwinden. Der mögliche Mord an dem Baby verschwindet sogar vollkommen aus der Geschichte; oder er wurde in einem von mir überlesenem Halbsatz aufgeklärt. Die Rückblenden in das Leben von Hildurs Mutter Rakel (gleichzeitig der doch etwas in die Irre führende Originaltitel) haben mit den aktuellen Fällen nichts zu tun; – der Krimifan hofft natürlich auf einen Zusammenhang und sucht begierig in jeder Rückblende nach entsprechenden Hinweisen. Die für die Lösung nicht vollkommen unwichtigen Einbrüche werden zum ersten Mal wenige Seiten vor der Buchmitte erwähnt. Sowieso gelingt Rämö nie eine vernünftige Balance zwischen den verschiedenen, ungefähr gleich wichtigen Fällen und dem Privatleben der Hauptfiguren zu finden.
Und damit kämen wir zum letzten Punkt: Es gibt zu viele belanglose Informationen über das Privatleben von Hildur und ihrem Kollegen Jakob. Auch das ist nur mäßig spannend, aber die Zeiten von Columbo und anderen Ermittlern, über deren Privatleben wir nichts wissen (und das auch nie vermissten), sind vorbei. Zur Erinnerung: Columbo hat den Vornamen Lieutenant und es ist immer noch unklar, ob er wirklich verheiratet ist oder seine Frau nur aus ermittlungstaktischen Gründen gegenüber den Verdächtigen erwähnt.
Nachdem ich in meinen Besprechungen langsam die ungute Tendenz bemerke, Filmen vorzuwerfen, dass sie unlogisch und unrealistisch seien, kann ich jetzt mit Fug und Recht und großer Geste einen Tsunami an Empörung über Unlogik und Unrealismus entfachen. Oder einfach darauf hinweisen, dass es immer um Logik und Realismus innerhalb der Geschichte und der in ihr gesetzten Grenzen geht. Wenn in „Momo“ behauptet wird, dass es zigarrenrauchende Zeit stehlende graue Herren gibt, dann bin ich durchaus bereit zu akzeptieren, dass es diese Zeit-Diebe und die Zeit-Spar-Kasse gibt.
Michael Ende, der Erfinder von Jim Knopf und Erzähler der „unendlichen Geschichte“ erfand diese Männer und erzählte in dem 1973 erschienenem Kinderbuch „Momo oder Die seltsame Geschichte von den Zeit-Dieben und von dem Kind, das den Menschen die gestohlene Zeit zurückbrachte – Ein Märchen-Roman“ ihre Geschichte. Die Zeit-Diebe sind die Bösewichter. Die Heldin ist Momo, ein aus dem Nichts aufgetauchtes Waisenmädchen, das allein in einem Amphitheater lebt und gut zuhören kann. Sie hat Zeit und schenkt anderen Menschen ihre Zeit. Niemand hat viel Geld. Aber alle sind glücklich und zufrieden. In dieser Welt tauchen die Zeit-Diebe auf. Die grauen Herren bequatschen die Menschen, ihnen ihre Zeit zu geben. Sie würden sie später mit Zinsen zurückerhalten. Wenn die Menschen einmal in den Fängen der Zeit-Diebe sind, haben sie keine Zeit mehr. Immer mehr Menschen unterwerfen sich dem Regime der Zeit-Diebe.
Momo will ihre Freunde und alle Bewohner der Stadt retten. Die Menschen sollen wieder Zeit für sich und andere Menschen haben. Zusammen mit Meister Hora, dem im Nirgend-Haus lebendem Hüter der Zeit (der seinen ersten Auftritt ziemlich genau in der Buchmitte hat), und seiner Schildkröte Kassiopeia nimmt sie den Kampf auf.
Endes Buch wurde ein immer noch erhältlicher Bestseller und ist anscheinend für Viele eine wohlige Kindheitserinnerung. Ich hielt schon als Kind einen wohltuenden Abstand zu Fantasy-Geschichten und gehörte eindeutig zum Winnetou-Edgar-Wallace-James-Bond-Lager (als ob das realistische Geschichten sind). 1986 verfilmte Johannes Schaaf, mit Billigung des Autors den Roman. Ihm gefiel die Verfilmung von seinem Roman „Die unendliche Geschichte“ nicht.
Und jetzt verfilmte Christian Ditter wieder den Roman als internationale Produktion, die mit einer internationalen Besetzung und bekannten Namen auf einen internationalen Markt schielt. Alexa Goodall, eine zwölfjährige englische Schauspielerin in ihrer siebten Rolle, spielt Momo. Kim Bodnia spielt Beppo Straßenkehrer, Martin Freeman Meister Hora und Claes Bang den Anführer der grauen Herren, die im Film Greys heißen und nicht mehr nur aus Männern bestehen. Die Geschichte wurde an einigen weiteren Stellen modernisiert. Aber insgesamt halten die Macher sich an den Roman.
Das Ergebnis ist ein durchaus unterhaltsamer, CGI-lastiger Fantasyfilm für Kinder mit einem sympathischen Ensemble und einem wohligen Retro-Feeling. Die aus der Zeit gefallene Welt, in der „Momo“ spielt, erinnert an das aus Filmen bekannte Italien der fünfziger und sechziger Jahre, mit einigen Insignien der Gegenwart. Die Botschaft ist begrüßenswert und heute, zwischen gnadenloser Zeit-Optimierung im Beruf/Schule und in der Freizeit und sinnfreier Zeitvertrödelei vor dem Computer mit automatisch generierten Listen belangloser Posts, aktueller als damals.
Das Konzept der Zeit-Spar-Kasse und wie Momo die Zeit-Diebe besiegen kann ist, nun, etwas einfach. Sowieso ist der gesamte Film, jedenfalls für Erwachsene, etwas einfach geraten. Kinder dürften das anders sehen. Und für sie wurde der Film gemacht.
Mit neunzig Minuten hat Christian Ditters „Momo“ auch die richtige kindgerechte Länge.
Momo (Deutschland 2025)
Regie: Christian Ditter
Drehbuch: Christian Ditter
LV: Michael Ende, Momo, 1973
mit Alexa Goodall, Martin Freeman, Araloyin Oshunremi, Kim Bodnia, Claes Bang, Laura Haddock, Jennifer Amaka Pettersson, David Schütter, Skylar Blu Copeland, Maxwell Smith
Länge: 92 Minuten
FSK: ab 6 Jahre
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Die Vorlage (aktuell auch als Filmausgabe mit Fotos aus dem Film erhältlich)
Michael Ende: Momo oder Die seltsame Geschichte von den Zeit-Dieben und von dem Kind, das den Menschen die gestohlene Zeit zurückbrachte – Ein Märchen-Roman
1968 schrieb Philip K. Dick einen Science-Fiction-Roman, der heute längst vergessen wäre, wenn Ridley Scott den Roman nicht 1982 verfilmt hätte. Seine Verfilmung wurde schnell zu einem Kultfilm und Klassiker. Und der Grundstein für ein seitdem expandierendes Franchise mit bislang nur einer (überflüssigen) Filmfortsetzung, Computerspielen, Romanen und Comics, die sich an Scotts Film orientieren. Hauptautor der aktuell erscheinenden „Blade Runner“-Comics ist Mike Johnson.
Sein neuestes Werk ist die Miniserie „Blade Runner 2039“. „Luv“, der erste Sammelband, und „Upgrade“, der zweite Sammelband, sind kürzlich erschienen. Der dritte Band „Ash“ ist für den 16. Dezember angekündigt.
Vor zwanzig Jahren half die Replikantenjägerin Aahna „Ash“ Ashina dem Kind Cleo Selwyn und ihrer Replikanten-Ersatzmutter Isobel Selwyn bei ihrer Flucht auf den Kolonialplaneten Arcadia. Dort waren sie sicher vor Cleos Vater, dem Wirtschaftmagnaten Alexander Selwyn. Und dort sollten sie auch bleiben.
Aber jetzt ist Isobel verschwunden. Cleo glaubt, dass sie auf Befehl von Konzernchef Niander Wallace entführt wurde. Er hat die Tyrell Corporation, die für ihre Replikanten-Produktion bekannt war, übernommen und führt die Produktion mit neuen Modellen fort.
Cleo glaubt, dass die Entführer ihre Mutter zur Erde brachten. Sie folgt diesem Verdacht. Auf der Erde benötigt sie für die Suche Hilfe von Ash, die seit zehn Jahren untergetaucht ist.
Verfolgt werden sie von Luv. Sie gehört zu den neuen von Wallace erschaffenen Replikanten, die sich durch blinden Gehorsam auszeichnen. Sie ist ein Prototyp, der von der vom LAPD im Dienst erprobt wird, und die erste Blade-Runner-Replikantin. Sie soll Cleo finden. Wallace glaubt, dass sie den Schlüssel zur Fruchtbarkeit der Replikanten besitzt.
Die von Autor Mike Johnson, Zeichner Andrés Guinaldo und Kolorist Marco Lesko erfundene Geschichte spielt zwanzig Jahre nach Scotts Film. Die damalige Noir-Welt ist immer noch gut erkennbar. Aber mit einem Ausflug in das gefährliche, an einen Rural Noir erinnernde Hinterland und die noch gefährlichere Stadtruine San Francisco erweitern sie diese Welt klug. Ash vermutet, dass sie dort Isobel finden wird.
Johnson, Guinaldo und Lesko erzählen ihre Geschichte mit wenig Text, knackigen Actionszenen, einem prägnanten Ensemble verschiedener Figuren und zwischen mehreren Handlungssträngen wechselnd. So zeigen sie anfangs Luv bei der Arbeit, ehe die Suche nach Cleos Mutter wichtig wird und der Plan von Niander Wallace immer deutlicher wird.
Wie die Geschichte endet, erfahren wir Mitte Dezember.
Am Samstag ist es wieder so weit: in Deutschland, Österreich und der Schweiz werden in über 1200 Comicgeschäften und Bibliotheken dreißig Manga-Comics verteilt. Die Mangas des vierten Manga Day sind in elf verschiedenen Verlagen erschienen. Für die immer größer werdende Gruppe der Manga-Fans handelt es sich um vertraute und vertrauenswürdige Namen. altraverse, TOKYOPOP, Carlsen (Carlsen Manga! und Hayabusa), Egmont Manga, Crunchyroll, Manga Cult, TOPP, Panini, LOEWE Manga und, aus dem benachbarten Österreich, Manga JAM Session.
Zu den verteilten Mangas, die einen gelungenen Überblick über die gesamte Breite der sich oft in fantastische Welten begenden Mangas geben, gehören:
Hiromu Arakawa: Fullmetal Alchemist
Hiromu Arakawa: Das Band der Unterwelt
Hirofumi Yamada & David Füleki: Einfach Japanisch (von zwei deutschen Künstlern, die in ihrem Sachcomic die Neugier auf die japanische Sprache wecken wollen)
Jeronimo Cejudo: Ripper
Yuki Shiwasu: Echt jetzt, Tamon?!
Shinnosuke Kanazawa: Secret Life of Corprate Flowers
manus: Severed (ein schweizer Künstler)
Kohei Horikoshi: My Hero Academia
Hiroto Wada: Stitch und der Samurai (ja, Disneys blauer Alien, der vor einigen Tagen durch die Kinosäle stürmte)
Paru Itagaki: Sanda
Sui Ishida: Tokyo Ghoul Gigantik
Kumiko Saiki: Kageki Shojo!! Ouvertüre
Sekka Iwata & Yu Aoki; Magilumiere Inc.
Shinoa: There is no love wishing on a star
Kenta Shinohara: Witch Watch
Kent: Gaea-Tima
Yuki Suenada & Takamasa Moue: Akane-banashi
Samuel Sattin & Gurihiru: Unico erwacht
Fujimaki Tadatoshi: Kuroko’s Basketball
Shinya Umemura, Takumi Fukui & Azychica: Record of Ragnarok
1979 kam es im Kino zur ersten Begegnung zwischen einer unterbezahlten Mannschaft eines Frachtschiffs und einer außeridischen Lebensform, die furchteinflößend aussah und die Besatzungsmitglieder nacheinander dezimierte, bis Ellen Ripley den Alien in den luftleeren Weltraum und den damit verbundenen sicheren Tod beförderte.
„Alien“ hieß der Science-Fiction-Horrorfilm, der, so eine Hollywood-Legende, gegenüber den Produzenten mit dem Satz „’Der weiße Hai‘ im Weltraum“ gepitcht wurde. Der Film war ein Kassenhit und ist schon seit Ewigkeiten ein stilbildender Klassiker. Er beförderte mehrere Karrieren und war, wie wir heute wissen, die Initialzündung für ein immer noch expandierendes Franchise mit weiteren Kinofilmen, seit einigen Tagen auch einer Streaming-Serie, Videospielen, Hörspielen, Romanen und Comics
Zuletzt erschienen die Comics „Alien: Schwarz, Weiß & Blut“ und „What if…? Aliens“. Ersterer enthält mehrere eigenständige Geschichten von Begegnungen zwischen Xenomorphen, Facehuggern und Menschen; letzterer ist eine „Was wäre wenn…?“-Geschichte. In diesem Fall stellen sich Paul Reiser, Leon Reiser, Adam F. Goldberg, Hans Rodionoff und Brian Volk-Weiss die Frage, was wäre mit Carter Burke geschehen, wenn er in James Camerons „Aliens“ nicht gestorben wäre.
Burke (im Film gespielt von Paul Reiser) ist ein von dem Konzern Weyland-Yutani angestellter skrupelloser Mitarbeiter, der in „Aliens“ für den Konzern ein Alien beschaffen soll und von einem Xenomorph getötet wird. In dem Comic „What if…? Aliens“ überlebt er die Begegnung, schließt für sich und seine Familie einen lebenslangen Vertrag mit Weyland-Yutani, erledigt noch einen kleinen Auftrag für den Konzern und schmuggelt ein Xenomorphen-Ei auf die Erde.
35 Jahre später lebt er auf einem abgelegenem Asteroiden und organisiert aus einem Büro heraus den Abbau von Trimonit. Er hasst sein Leben und seinen Job. Seine Tochter baut in den Minen Trimonit ab und hasst ihn. Seine Frau liegt tot in einem Nebenzimmer. Aber er hat eine Idee, wie er sie wieder zum Leben erwecken kann. Das Ei eines Xenomorphen hat etwas damit zu tun.
Zwischen Bürosatire, Vater-Tochter-Drama und für Menschen normalerweise tödlich endenden Alien-Begegnungen schwankend findet „What if…? Aliens“ nie eine eigene Identität. Immerhin bestätigt Burke seinen Ruf als gewissenloser Opportunist, der hemmungslos jeden betrügt und den Preis als „Vater des Jahres“ nur bekommt, wenn er ihn für sich stiftet.
„Schwarz, Weiß & Blut“ ist da schon ein anderes Kaliber. Der großformatige Comic enthält den vierteiligen Comic „Utopia“ und acht kürzere Comics (geschrieben von Stephanie Phillips, Ryan Cady, Paul Jenkins, Stephanie Williams, Cody Ziglar, Steve Foxe, Bryan Hill und Pornsak Pichetshote, gezeichnet von Pete Pantazis, Devmalya Pramanik, Luigi Teruel, Jethro Morales, Claire Roe, Tommaso Bianchi, Chriscross und Partha Pratim). Alle Geschichten kommen mit den drei titelgebenden Farben und, manchmal, mit einer vierten Farbe (Grün) aus. Die Geschichten folgen alle (bei der Titelgeschichte mit einer interressanten Variation) dem gleichen Muster: auf einer einsam gelegenen Station taucht ein Xenomorph auf und tötet die Menschen. Auf die Dauer langweilt diese Formel, die endlos wiederholt werden kann. Weyland-Yutani bleibt der gesichtslose Konzern, der seine Mitarbeiter skrupellos sterben lässt. Mehr ist über die Welt, in der die „Alien“-Geschichten spielen, nicht bekannt. Und natürlich stellt sich irgendwann die Frage, wie oft Xenomorphe Menschen töten müssen, ehe die Menschheit beginnt, etwas dagegen zu unternehmen. Diese Frage stellte man sich in den ersten vier „Alien“-Filmen (mit „Ripley“ Sigourney Weaver) nicht. Aber nach der Vernichtung von mehreren Raumstationen, Raumschiffen, Forschungsstationen und Kolonien über einen längeren Zeitraum dann doch. Vor allem wenn sich mal wieder ein Mensch neugierig über ein Alien-Ei beugt.
Und so stellt sich, wie schon in den „Alien“-Kinofilmen (wobei „Alien: Romulus“ neugierig auf den nächsten „Alien“-Film machte), auch bei den Comics ein leichtes Gefühl von Ennui ein. Wir wissen einfach zu genau, was passieren wird und die erzählerischen Möglichkeit sind innerhalb dieses Formats arg begrenzt.
Die vierteilige Titelgeschichte „Utopia“ von Collin Kelly und Jackson Lanzig (Text) und Michael Dowling (Zeichnungen) ist insofern anders, weil hier ein sozialistisches Kollektiv in einem großen Schiff durch den Weltraum fliegt. In dem Schiff wollen sie eine andere Art des Zusammenlebens ausprobieren. Nach der Begegnung mit dem Xenomorph hat sich diese Utopie erledigt. Aber es ist noch nicht das Ende der Geschichte.
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Paul Reiser/Leon Reiser/Adam F. Goldberg/Hans Rodionoff/Brian Volk-Weiss/Guiu Vilanova: What if…? Aliens
Nach dem Auswärtsspiel einer College-Basketballmannschaft verschwindet eine der Spielerinnen. Und V. I. Warshawski, die die Mannschaft aus ihrem heimischen Chicago ins ländliche Kansas begleitete, hat ihren nächsten Fall. In Lawrence, Kansas, soll sie Sabrina Granev suchen. Überraschend schnell findet sie sie in einem einsam gelegenem Haus, das schon seit längeren der Ort für Drogenpartys ist.
Als Vic am nächsten Tag das Haus wieder betritt, findet sie im Keller die Leiche von Clarina Coffin – und schon ist sie mitten im Schlamassel. Denn die örtliche Polizei und ein FBI-Agent haben nichts besseres zu tun, als sie zur Verdächtigen an dem Leid der beiden Frauen zu machen.
Also nimmt Vic den Kampf gegen die Polizei, das FBI und die gut vernetzten örtlichen Verbrecher und Honoratioren auf. Sie glaubt, dass Coffin ermordet wurde. Ob das Motiv für den Mord an der alle nervenden Hobbyhistorikerin mit unklarer Vergangenheit in der Vergangenheit oder in der Gegenwart liegt, ist unklar. Also ob Coffin bei ihren Forschungen über die Zeit des Bürgerkriegs über etwas stolperte, das heute noch ein Grund für einen Mord sein könnte, oder ob sie vor jemand flüchtete und in Lancaster unter falschem Namen untertauchte oder ob es bei einem geplanten Bauprojekt mit einem verdächtig hohem geplanten Energiebedarf unsauber zugeht, weiß Vic in dem Moment noch nicht.
Aber Fans von Vic Warshawski wissen, dass sie, wie Jack Reacher, in dem Provinzort für Unruhe und die gerechte Bestrafung einiger Bösewichter sorgen wird.
„Wunder Punkt“ ist der 22. Warshawski-Kriminalroman und es ist ein typischer Warshawski-Hardboiled-Privatdetektivroman. Nur dass Vic dieses Mal, nachdem ihr vorheriger Fall in einer Katastrophe endete, an ihren Fähgikeiten als Ermittlerin zweifelt. Sie findet zwar sehr schnell die spurlos verschwundene Spielerin und, kurz darauf, eine Ermordete. Die Suche nach dem Mörder und den Hintergründen gestaltet sich dann als ein zähes Stochern im Nebel. Es gibt viele mehr oder weniger vielversprechende Ermittlungsansätze und Verdachtsmomente, aber keine wirklich heiße Spur.
Durch Vics Herumfragen und Herumstolpern auf verschiedenen Privatgrundstücken werden die durchgehend diffus bleibenden Bösewichter nervös und sie wollen Vic aus dem Weg schaffen. Auch die anderen Figuren bleiben weitgehend blass. Vic verfolgt viele Spuren, aber bis wenige Seiten vor dem Ende ist weigehend unklar, wer Coffin warum ermordete.
Das macht „Wunder Punkt“ zu einem schwächeren Warshawski-Fall.
Ihren ersten Auftritt hatte Vic Warshawski 1982 in „Indemnity Only“ (Schadenersatz).
Paretsyks Romane stehen in der Hardboiled-Tradition. Allerdings ist der von ihr erfundene Privatdetektiv eine Frau. Das war damals neu. Die nette Miss Marple und andere englische Ermittlerinnen in den gemütlichen Rätselkrimis lassen wir mal weg. Denn Vic ist das komplette Gegenteil. Sie ist genauso tough wie ihre männlichen Kollegen, wenn sie durch die dunklen Ecken von Chicago streift und sich immer wieder mit mächtigen Wirtschaftskriminellen anlegt, die jede Gesetztslücke schamlos gegenüber anderen Menschen, vor allem wenn sie über weniger Geld verfügen, und der vollkommen wehrlosen Umwelt ausnutzen. Seitdem folgten ihr und Kinsey Milhone, der von Sue Grafton erfundenen ebenso toughen Privatdetektivin, die fast zeitgleich ihren ersten Fall löste, zahlreiche weitere bei der Kritik und dem Publikum beliebte Ermittlerinnen.
1986 gründete Sara Paretsky mit anderen Autorinnen die Sisters of Crime. Ziel der Mörderischen Schwestern (so der Name der deutschen Sektion) ist es, auf Krimiautorinnen und ihre Werke aufmerksam zu machen, sie zu fördern und sich gegenseitig zu unterstützen.
Für ihre Romane und ihr Werk erhielt Paretsky in den vergangenen über vierzig Jahren zahlreiche Preise. Wichtig, um nicht eine lange Liste von Nominierungen und erhaltenen Preisen aufzuzählen, sind der 2011 auf der Bouchercon World Mystery Convention verliehene Anthony Lifetime Achievement Award. Ebenfalls seit 2011 ist sie Grand Master der Mystery Writers of Amerika und Vic Warshawski erhielt von der Private Eye Writers of America (PWA) den nur einige Male verliehenen Hammer für die beste Darstellung eines Privatdetektivs als Serienhelden.
Nachdem Paretsky früher bei Piper, Goldmann und Dumont verlegt wurde und einige ihrer Bücher nicht übersetzt wurden, hat sie seit 2018 im Ariadne Verlag ein neues Zuhause gefunden. „Wunder Punkt“ ist der sechste dort erschienene Warshawski-Roman.
Vielleicht werden in naher Zukunft ihre drei noch nicht übersetzten Warshawski-Krimis und der Einzelroman „Bleeding Kansas“ übersetzt und ihre älteren, nicht mehr erhältlichen Krimis neu aufgelegt. Bis dahin hilft nur der Gang in das nächste Antiquariat.
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Sara Paretsky: Wunder Punkt
(übersetzt von Else Laudan)
Ariadne/Argument Verlag, 2025
500 Seiten
25 Euro
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Originalausgabe
Pay Dirt
William Morrow/HarperCollins, 2024
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Die Lesetour mit Sara Paretsky und Else Laudan:
Mittwoch, 10. Sept. in Hamburg: Herbstlese Blankenese, Blankeneser Segelclub
(Buchhandlung Wassermann, Tickets hier & im Laden)
Donnerstag, 11. Sept. in Hamburg-Eimsbüttel
Buchladen Osterstraße (Tickets im Laden)
Freitag, 12. Sept. in Kassel-Wilhelmshöhe
Brencher Buchhandlung Wilhelmshöhe (Tickets im Laden)
Samstag, 13. Sept. in Berlin
im silent green Kulturquartier (Tickets hier)
Dienstag, 16. Sept. in München
Amerikahaus, veranstaltet von Kriminalbuchhandlung glatteis & Krimifestival München (Tickets hier)
Auch wer kein einziges Abenteuer von Arsène Lupin gelesen hat oder keinen der Filme mit ihm als Helden, wie aktuell die Netflix-Serie “Lupin” mit Omar Sy als Lupin, gesehen hat, kennt Arsène Lupin und weiß, was er tut. Er ist ein Einbrecher, ein Dieb, der mit seinen Helfern spektakuläre Coups durchführt. Oft kündigt er seine Raubzüge vorher an – und führt sie, trotz Überwachung, zum angekündigten Zeitpunkt durch. Er genießt das Leben. Er taucht unter verschiedenen Namen, Masken und Verkleidungen auf. Das war zu seinen Lebzeiten – die erste Lupin-Geschichte „L’Arrestation d’Arsène Lupin“ erschien am 15. Juli 1905 im Magazin „Je sais tout“ – deutlich einfacher als heute. Damals konnte mit einfachen Verkleidungen, wie einem falschen Bart, einer anderen Frisur oder anderer Kleidung, die eigene Identität gut verschleiert werden. Schließlich gab es vor hundertzwanzig Jahren vor allem höchst unzuverlässige Beschreibungen und Zeichnungen von Personen. Die Fotografie steckte noch in ihren Kinderschuhen.
Die ersten neun Lupin-Geschichten erschienen ursprünglich zwischen Juli 1905 und Mai 1907 in „Je sais tout“. Schon im Juni 1907 wurden sie in dem Sammelband „Arsène Lupin, der Gentleman-Gauner“ veröffentlicht. Die erste deutsche Übersetzung des Buches erschien 1913. Weil die Lupin-Geschichten beim Lesepublikum gut ankommen, schreibt Maurice Leblanc bis zu seinem Tod 1941 vor allem Lupin-Geschichten. Diese sind – erstaunlicherweise – immer noch nicht vollständig ins Deutsche übersetzt.
Neben den etwas früher erschienenen, bei uns unbekannteren Geschichten von E. W. Hornung über den Einbrecher A. J. Raffles ist Arsène Lupin der erste Profieinbrecher als Held mehrerer Geschichten. Er war nicht der letzte beim Publikum beliegte Gentleman-Gauner.
Die in „Arsène Lupin, der Gentleman-Gauner“ versammelten Kurzgeschichten hängen sehr locker miteinander zusammen und können als eigenständige Episoden einer TV-Serie gesehen werden. In der ersten Geschichte wird Lupin, nach einer aufregenden Überfahrt in einem Transatlantikdampfer, im Hafen von New York durch Oberinspektor Ganimard verhaftet.
In den folgenden Geschichten erzählt Leblanc, wie Lupin aus dem Gefängnis ausbricht (wobe er schon während seiner Haft der Öffentlichkeit und den Wärtern den Eindruck vermittelt, dass er das Gefängnis jederzeit verlassen kann), wie er verschiedene, gerne auch vorher angekündigten Einbrüche in die Häuser vermögender Menschen durchführt und Herlock Sholmes begegnet. Leblanc wählte diesen Namen, weil Sir Arthur Conan Doyle nicht einverstanden mit einer Verwendung von Sherlock Holmes war. Weil in den Lupin-Geschichten der Meisterdetektiv von der Insel unmöglich gegen den charmanten Gentleman-Gauner gewinnen, ist das durchaus verständlich.
Wie Lupin seine Coups durchführt, ist aus heutiger Sicht und weil es sich immer um Kurzgeschichten handelt. meistens sehr offensichtlich. Aber der Franzose macht es mit Stil, Charme, gewaltfrei, einem Bewusstsein für die schönen Dinge des Lebens und immer mit dem Blick auf das Publikum, das unterhalten werden möchte, wenn er die Reichen ausraubt.
„Arsène Lupin, der Gentleman-Gauner“ besteht aus neun flott und vergnüglich zu lesenden Kurzgeschichten, die Erinnerungen an eine vergangene Zeit wecken.
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Maurice Leblanc: Arsène Lupin, der Gentleman-Gauner
(übersetzt von Felix Meyer)
Anaconda, 2025
256 Seiten
7,95 Euro
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Originalausgabe
Arsène Lupin – gentleman-cambrioleur
Verlag Pierre Lafitte et Cie, Paris 1907
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Bereits erschienen in anderen Übersetzungen bei anderen Verlagen.
Die Prämisse von Jonathan Coes neuestem Roman versteht man am besten als einen Versuch, mit einem Satz die Geschichte zu erfassen und so dem potentiellem Leser eine Idee von der Geschichte zu geben ohne dabei die Pointe (nein, nicht wer der Mörder ist) zu verraten. Also: in „Der Beweis meiner Unschuld“ wird der linke Journalist Christopher Swann in dem teilweise Anfang des 18. Jahrhunderts gebautem Luxushotel Wetherby Hall in den malerischen Cotswolds in einem verschlossenem Zimmer ermordet. Er besuchte eine British-TrueCon-Konferenz. Er wollte über diese von Extrem-Trumpisten unterstützte Versammlung Rechtskonservativer kritisch und analytisch die Hintergründe ausleuchtend, berichten. Die kurz vor ihrer Pensionierung stehende Detective Inspector Prudence Freeborne beginnt zu ermitteln. Schnell hat sie eine erkleckliche Liste Verdächtiger, die alle ein Motiv haben und den Mord hätten verübten können.
Das ist der Plot eines typischen Rätselkrimis.
Aber Jonathan Coe ist – erstens – kein Krimiautor, sondern ein Belletristikautor und Satiriker, und – zweitens – ist dieser Rätselkrimiplot nur eine Strukturierungshilfe für einen Roman, der ein schlaues Spiel mit verschiedenen Bedeutungsebenen und dem Befolgen und Ironisieren von Regeln und Konventionen innerhalb bestimmter Genres ist.
Der knapp vierhundertseitige Meta-Metaroman besteht aus einem Prolog, der eine groß angelegte Einführung in die Geschichte ist, drei Teilen, zu denen ich gleich kommen werde, und einem kurzen, die vorherigen Teile erklärenden und interpretierenden Epilog.
Der erste Teil – „Mord in Wetherby Pond – Ein Cosy-Krimi“ ist ein traditioneller Rätselkrimi, in dem das spätere Opfer am Konferenzort seinen potentiellen Mördern begegnet und eine Ermittlerin, die ganz traditionell ermittelt, indem sie die Verdächtigen befragt, Spuren auswertet und einen Geheimgang zum Tatort entdeckt.
Der zweite Teil – „Die Schattenkammer – Eine Dark-Academia-Geschichte“ ist ein Universitätsroman, der sich zu einem breit angelegtem Verschwörungs- oder Okkult-Thriller entwickeln könnte. Dieser von Brian Collier erzählte, uh, autobiographische Roman spielt in Cambridge in den frühen achtziger Jahren. Dort begegnen sich Swann und die anderen Teilnehmer an der TrueCon-Konferenz. Sie waren damals von Margaret Thatcher begeisterte Studierende. Seitdem versuchten sie in verschiedenen Positionen die Politik zu beeinflussen. Die meisten wurden dabei von sehr konservativ zu ultra-konservativ.
Dieser Teil liefert einen möglichen Erklärungsansatz für den Mord an Christopher Swann. Schließlich begegneten sich das Opfer und die möglichen Täter während der Tagung in dem Luxushotel und, vierzig Jahre früher, an der Universität.
Der dritte Teil – „P./R. – Revival – Ein autofiktionaler Essay“ bedient dann das Genre der Autofiktion, die in diesem Fall offensichtlich schon beim Erzählen gebrochen wird, weil dieser autofiktionale Roman von Phyl und Rash, die wir aus dem Prolog kennen, erzählt wird. Manchmal erzählt Phyl, manchmal Rash und manchmal erzählen Beide von ihrer Suche nach dem Mörder. Phyl jobbt nach ihrem Universitätsstudium auf dem Flughafen in einer Fast-Food-Kette und lebt wieder bei ihren Eltern. Christopher Swanns gleichaltrige Tochter Rash (kurz für Rashida) besucht sie im Prolog. In dem Moment liest Phyl zunehmend interessiert Swanns politischen Essays und sie versteht sich gut mit Rash. In „P./R.“ erzählen sie auch von Ereignissen, bei denen sie nicht dabei waren. Sie erzählen sie dann so, als ob sie dabei gewesen wären.
Dieser dritte Teil führt dann die Ermittlungen aus einer anderen Perspektive fort. Schließlich haben Phyl und Rash bei ihren Ermittlungen kaum Berührungspunkt mit DI Freebornes Ermittlungen.
Das liest sich jetzt wahrscheinlich etwas chaotisch, aber die Geschichte bleibt immer verständlich. Und weil wir wissen wollen, wer der Mörder ist, bleibt es durchgehend spannend. Zugegeben, es ist nicht die Pageturner-Spannung, die einem eine schlaflose Nacht bereitet, weil man unbedingt wissen will, wer der Mörder ist. Es ist eher die gemütliche Agatha-Christie-Rätselkrimispannung, in der eine Mördersuche ein intellektuelles Puzzle ist – und wir wissen, dass jede Abschweifung nur ein weiteres Puzzlestück zur Enttarnung des Mörders ist.
Dieses Spiel erhält durch seine präzise Verortung in der nur wenige Tage währenden Regierung von Premierministerin Liz Truss, dem feuchten Traum der Britsh-TruCon-Teilnehmer, und dem Tod von Königin Elisabeth II eine weitere Bedeutungs- und Interpretationsebene. Ihr merkt schon: „Der Beweis meiner Unschuld“ ist ein Buch, das sich gut für ein Universitätsseminar eignet.
Nach der Lektüre ist klar, das das wirklich Interessante an Coes satirischem Kriminalroman nicht der gut kontruierte Kriminalfall, sondern die gesamte Konstruktion des Romans ist. Nacheinander bedient der 1961 geborene Cambridge-Absolvent Coe verschiedene literarische Formen, imitiert sie gelungen, macht sich (etwas) über sie lustig, rechnet mit der britischen konservativen Politik der vergangenen 40+ Jahre ab und trägt dabei, nachdem er im ersten Teil viele falsche Fährten auslegte, im zweiten und dritten Teil immer wieder Mosaiksteinchen zur Lösung des Falles zusammen. Das ist ein großes Vergnügen für den literarisch gebildeten und politisch interessierten Leser.
Aber auch wer einfach nur einen guten Rätselkrimi lesen will, wird sich bis zur überraschenden Auflösung gut amüsieren.