Neu im Kino/Filmkritik: Steven Soderbergh öffnet seine „Black Bag – Doppeltes Spiel“ für die Agenten

Mai 14, 2025

Um Geheimagenten und ihre Spiele geht es in Steven Soderberghs neuem Film „Black Bag – Doppeltes Spiel“.

Der britische Geheimagent George Woodhouse (Michael Fassbender, bieder mit Michael-Caine/Harry-Palmer-Brille) soll innerhalb einer Woche einen Verräter in den eigenen Reihen finden, der das streng geheime und gefährliche Schadprogramms „Severus“ gestohlen hat. Pikant wird der Auftrag, weil auch seine Frau Kathryn St. Jean (Cate Blanchett) zu dem Kreis der Verdächtigen gehört und er sie möglicherweise töten muss. Als sein Chef ihn fragt, ob er ein Problem damit habe, verneint Woodhouse. Ob er lügt, wissen wir nach schlanken neunzig Minuten Filmzeit.

Woodhouse kennt auch die anderen vier Verdächtigen. Teils sind er und St. Jean mit ihnen befreundet. Er lädt sie zu einem ersten Abendessen bei ihnen ein.

Die Gäste sind Freddie Smalls (Tom Burke), ein ehemaliges hoffnungsvolles Nachwuchstalent mit chaotischem Privatleben, die junge, sexuellen Abenteuern gegenüber sehr aufgeschlossene Kollegin Clarissa Dubose (Marisa Abela), Dr. Zoe Vaughan (Naomie Harris), die Psychiaterin der Belegschaft, die Kraft ihrer Arbeit alle Geheimnisse kennen sollte, und ihr Liebhaber Colonel James Stokes (Regé-Jean Page). Nicht bei dem Abendessen, aber natürlich auch potentiell verdächtig, ist ihr Vorgesetzter Arthur Stieglitz (Pierce Brosnan).

Und schon beginnt das Spiel, in dem jeder jeden betrügt, jeder mindestens fünf Backup-Pläne hat und munter so viele falsche Spuren ausgelegt werden, dass selbst der geneigte Zuschauer sich irgendwann fragt, ob wenigstens der Drehbuchautor – in diesem Fall Blockbuster-Profi David Koepp („Jurassic Park“, „Mission: Impossible“, „Spider-Man“) – den Überblick behalten hat. Das ist in anderen Agententhriller, wie John le Carrés mehrfach verfilmten Agentenroman „Dame, König, As, Spion“, ähnlich schwierig nachzuverfolgen, und führt, kompetent gemacht, zu zwei gelungenen Kinostunden. Wenn es schlecht gemacht ist, ist der Film ein verwirrender, schnell vergessener Langweiler.

Die Möglichkeit, dass „Black Bag – Doppeltes Spiel“ ein Langweiler wird, ist denkbar gering, weil Langweiler sich nicht im Portfolio von David Koepp und Steven Soderbergh befinden. Einige Fehlschlage, erinnert sei an die letzten beiden „Indiana Jones“-Film für die Koepp die Bücher schrieb (einmal allein, einmal mit anderen Autoren), und missglückte Experimente und überflüssige Filme, wie Soderberghs letzten „Magic Mike“-Film, schon.

Black Bag“ ist jetzt, nach „Kimi“ und „Presence“, in schneller Folge die dritte Zusammenarbeit von Koepp und Soderbergh.

David Koepp schrieb eine verschachtelte Geschichte, in der es nicht auf Schauwerte und Action, sondern auf die Dialoge und das Spiel der Schauspieler ankommt. Die erste Inspiration für „Black Bag“ hatte Koepp in den neunziger Jahren bei seinen Recherchen für „Mission: Impossible“. Als er mit Spionen über ihre Arbeit sprach, erfuhr er auch, wie schwierig für sie ein normales Leben ist: „All der Spionagekram war für sich genommen schon sehr cool. Noch dazu habe ich aber mehr über die Menschen erfahren, als ich je erwartet hätte. Eine Frau hat mir zum Beispiel erzählt, dass ihre Arbeit es ihr unmöglich macht, eine Beziehung zu führen. Eine Zeile im Film geht auf meine Gespräche mit ihr zurück: ‚Wenn man bei allem lügt – wie soll man dann bei irgendetwas die Wahrheit sagen?‘ Denken Sie mal darüber nach. Wenn man zum Beispiel eine heimliche Affäre beginnen möchte, dann könnte das gar nicht einfacher sein. Man sagt ganz einfach: ‚Ich bin jetzt mal für drei Tage weg. Du darfst mich aber nicht fragen, wo ich hingehe, du hast nämlich keine Befugnis dazu.‘“

Ausgehend von Koepps damals gewecktem Interesse an dem Privatleben der Agenten, nehmen die Beziehungen und damit verbundene Beziehungsprobleme einen großen Raum in der Geschichte ein. Ihr Privatleben, Sex und Beziehungen machen sie potentiell erpressbar. Weil sie nur mit ihren Kollegen über ihre Arbeit sprechen können, sind im Geheimdienst Beziehungen zu Kollegen erwünscht, die natürlich wiederum ausgenutzt werden können. Das trifft auf alle Dinnergäste und die beiden Einlader zu.

Soderbergh inszeniert Koepps Geschichte als elegantes Schauspielerkino mit Starbesetzung. Auf den Humor früherer Filme, wie zuletzt in dem Noir-Gangsterkrimi „No Sudden Move“ (mit dem auch für diesen Film passendem Plakat-Untertitel „Vertrauen ist eine Falle“) oder seine zunehmend spaßigen Ocean’s-Filme, vierzichtet er hier. „Black Bag“ ist ein intellektuelles Spiel mir reduziert spielenden Schauspielern, unterkühlt inszeniert in, für mein Gefühl, durchgängig zu dunklen Bildern.

Black Bag – Doppeltes Spiel (Black Bag, USA 2025)

Regie: Steven Soderbergh

Drehbuch: David Koepp

mit Michael Fassbender, Cate Blanchett, Tom Burke, Marisa Abela, Regé-Jean Page, Naomie Harris, Kae Alexander, Ambika Mod, Gustaf Skarsgard, Pierce Brosnan

Länge: 94 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Moviepilot über „Black Bag“

Metacritic über „Black Bag“

Rotten Tomatoes über „Black Bag“

Wikipedia über „Black Bag“ (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von Steven Soderberghs “Girlfriend Experience – Aus dem Leben eines Luxus-Callgirls” (The Girlfriend Experience, USA 2009)

Meine Besprechung von Steven Soderberghs „Contagion“ (Contagion, USA 2011)

Meine Besprechung von Steven Soderberghs „Haywire” (Haywire, USA 2011)

Meine Besprechung von Steven Soderberghs “Magic Mike” (Magic Mike, USA 2012)

Meine Besprechung von Steven Soderberghs „Side Effects – Tödliche Nebenwirkungen“ (Side Effects, USA 2013)

Meine Besprechung von Steven Soderberghs “Liberace – Zu viel des Guten ist wundervoll (Behind the Candelabra, USA 2013)

Meine Besprechung von Steven Soderberghs „Logan Lucky“ (Logan Lucky, USA 2017) und der DVD

Meine Besprechung von Steven Soderberghs „Unsane: Ausgeliefert“ (Unsane, USA 2018)

Meine Besprechung von Steven Soderberghs „No sudden move“ (No sudden move, USA 2021)

Meine Besprechung von Steven Soderberghs „Magic Mike: The Last Dance“ (Magic Mike’s Last Dance, USA 2023)

Steven Soderbergh in der Kriminalakte

Meine Besprechung von David Koepps „Mortdecai – Der Teilzeitgauner“ (Mortdecai, USA 2015)

Meine Besprechung von David Koepps „Cold Storage – Es tötet“ (Cold Storage, 2019)


Neu im Kino/Filmkritik: George Miller erzählt „Furiosa: A Mad Max Saga“

Mai 23, 2024

Es heißt, „Furiosa: A Mad Max Saga“ erzähle die Vorgeschichte zu dem vorherigen „Mad Max“-Film „Fury Road“ und der damals von Charlize Theron gespielten einarmigen Kriegerin Imperator Furiosa. In „Furiosa“ wird sie von Anya Taylor-Joy gespielt und das ist schon auf den ersten Blick verständlich. Denn dieses Mal steht eine deutlich jüngere Furiosa im Mittelpunkt des Films, der kein Biopic ist und die Vorgeschichte, verstanden als eine zusammenhängende Abfolge von Ereignisse, bestenfalls höchst kryptisch erzählt. „Furiosa“ ist, mit einem Zeitsprung von fünfzehn Jahren gegen Ende des Films, eine Zusammenstellung mehrerer kurzer Geschichten, von denen nur einige für ihre Entwicklung vom Kind zur Kriegerin mehr oder weniger wichtig sind.

Regisseur und „Mad Max“-Erfinder George Miller unterteilt seinen neuesten Film in fünf Kapitel, die ohne große Mühen als fünf ungefähr gleich lange Kurzfilme gesehen werden können. Nur die letzten beiden Kapitel sind etwas stärker miteinander verknüpft. Das Ergebnis ist eine zweieinhalbstündige Kompilation, in der eine Kämpferin, über die wir ziemlich wenig erfahren, im Mittelpunkt steht.

Die besseren Teile des Films konzentrieren sich auf die ohne lange Erklärungen verständliche Action. Ein Laster mit einer wertvollen Fracht wird angegriffen. Eine Ölraffinerie wird angegriffen. Furiosa greift ihre Peiniger an, flüchtet, tötet sie. Die Welt, in der diese Geschichten spielen, ist aus den vorherigen „Mad Max“-Filmen bekannt: es ist eine Wüstenlandschaft, in der sich Stämme und Clans bekämpfen. Es gilt das Recht des Stärkeren. Essen ist knapp. Noch knapper ist Benzin. Das wird trotzdem von den von ihren kostümierten Fahrern in Handarbeit umgestalteten Autos und Motorrädern in rauen Mengen verplempert.

Einige wichtige Handlungsorte, Figuren und Fahrzeuge sind bereits aus „Fury Road“ bekannt. Das war in den ersten drei „Mad Max“-Filmen mit Mel Gibson in der Titelrolle nicht so. Sie kümmern sich nicht weiter um so etwas wie Kontinuität. Da steht jeder Film für sich.

Der erste „Mad Max“-Film, der einfach „Mad Max“ heißt, spielt in einer dystopischen Zukunft, die sich kaum von der damaligen Realität unterscheidet. Erst in dem zweiten „Mad Max“-Film „Mad Max 2 – Der Vollstrecker“ entwirft George Miller eine postapokalyptische Welt, in der die Gesellschaft, wie wir sie kennen, zerstört ist Benzin ist Mangelware. Das einzige Gesetz, das akzeptiert wird, ist das Recht des Stärkeren. Ein darüber hinausgehendes World Building fand nicht statt. Für die Action, die geboten wurde, war es auch nicht nötig. et

In „Furiosa“ ist das etwas anders und gerade dieses World Building ist der Schwachpunkt des Films. Denn je mehr Miller versucht, die von ihm entworfene Welt zu erklären, umso unsinniger wird sie. Die wenigen Modernisierungen, die Miller am Filmanfang vornimmt, sind, weil es dann kein „Mad Max“-Film wäre, schnell vergessen. In diesen Minuten zeigt er Furiosa als Kind in ihrer Welt. Der Grüne Ort der vielen Mütter ist eine grüne Oase unbekannter Größe mit Windrädern und Solaranlagen. Die Menschen scheinen dort, jedenfalls soweit diese Welt gezeigt wird, friedlich zusammen zu leben. Als eine brutale Bikerbande aus dem Wasteland (aka Ödland aka Wüste) diese Welt betritt, entdecken sie Furiosa, entführen sie und der restliche Film spielt in der in den achtziger Jahren etablierten „Mad Max“-Welt, die für diesen Film recycelt wird. Die damalige Technik und die Ängste der siebziger und frühen achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts bestimmen das Bild. Computer gibt es noch nicht. Die Ölkrise, der Kalte Krieg, die Angst vor einem Atomkrieg und die katastrophalen Auswirkungen der Klimakrise und eine No-Future-Haltung bestimmten das Denken. Da war Mad Max der Mann der Stunde. Heute ist das alles ziemich anachronistisch.

Aber die Action in der Wüste ist schon ziemlich spektakulär und immer dann gut, wenn nichts erklärt wird. Das passiert ziemlich oft. Dass die rudimentären Plots bekannt sind, stört nicht weiter. Es geht, wie in einem Western vor allem um die Variation bekannter Versatzstücke. Nur dass dieses Mal eine Frau die Protagonistin ist. Sie kämpft gegen den Bösewicht Dementus (Chris Hemsworth), dessen Männer sie aus dem Paradies ihrer Kindheit entführten. Sie fährt mit „Mad Max“-Ersatz Praetorian Jack (Tom Burke) einen LKW durch die Wüste und kämpft gegen die Männer, die sie auf abenteuerlich umgebauten Motorrädern und anderen Fahrzeugen angreifen und dabei höchst fotogen sterben. Sie kämpfen in einer Ölraffinerie gegen eine Überzahl Angreifer und demolieren sie mit vereinten Kräften.

Und Max Rockatansky, besser bekannt als Mad Max, ist auch dabei. Gespielt wird er dieses Mal nicht von Mel Gibson oder Tom Hardy, sondern von Jacob Tomuri.

Furiosa: A Mad Max Saga (Furiosa: A Mad Max Saga, Australien/USA 2024)

Regie: George Miller

Drehbuch: George Miller, Nico Lathouris

mit Anya Taylor-Joy, Chris Hemsworth, Tom Burke, Alyla Browne, Lachy Hulme, Nathan Jones, Charlee Fraser, Elsa Pataky, Jacob Tomuri

Länge: 149 Minuten

FSK: ab 16 Jahre

Hinweise

Moviepilot über „Furiosa: A Mad Max Saga“

Metacritic über „Furiosa: A Mad Max Saga“

Rotten Tomatoes über „Furiosa: A Mad Max Saga“

Wikipedia über „Furiosa: A Mad Max Saga“ (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von George Millers „Mad Max: Fury Road“ (Mad Max: Fury Road, Australien/USA 2015)

Meine Besprechung von George Millers „Three Thousand Years of Longing“ (Three Thousand Years of Longing, USA/Australien 2022)

Meine Besprechung von George Miller/Mark Sexton/Nico Lathaoris/Tristan Jones/Riccardo Burchiellis „Mad Max: Fury Road“ (Mad Max: Fury Road – Max 1 – 2; Mad Max: Fury Road – Furiosa 1; Mad Max: Fury Road – Nux & Immortan Joe 1, 2015) (Comic-Vorgeschichte zum Film)


Neu im Kino/Filmkritik: „Living – Einmal wirklich leben“, aber wie geht das? Und was ist das?

Mai 20, 2023

Mr. Williams ist, auch wenn er von seinen Untergebenen geachtet und auch gefürchtet wird, im Nachkriegslondon ein unbedeutender Beamter in der für die Vergabe öffentlicher Bauaufträge zuständigen Abteilung. Sein Leben scheint er der Erfüllung von Paragraphen, die er in- und auswendig kennt, gewidmet zu haben. Als sein Arzt ihm sagt, dass er tödlich erkrankt ist und in wenigen Wochen tot ist, bricht er erstmals aus der Routine aus. Er kommt nicht zur Arbeit und fragt sich, was der Sinn seines Lebens sein soll.

Living – Einmal wirklich leben“ von Regisseur Oliver Hermanus und Autor Kazuo Ishiguro (der bekannteste Roman des Nobelpreisträgers ist „Was vom Tage übrigblieb“) ist eine Neuinterpretation von Akira Kurosawas „Einmal wirklich leben“ (Ikiru, 1952). Unter Cineasten gilt „Ikiru“ als einer von Kurosawas wichtigsten Filmen. Beim breiten Publikum ist der Film fast unbekannt. Ishiguro und Hermanus verlegen die Handlung von Japan nach England und erzählen sie in knapp über hundert Minuten. Kurosawa erzählte die Geschichte des Beamten in 143 Minuten. Die deutsche Kinofassung wurde auf 120 Minuten gekürzt.

Ishiguro schrieb, nach einem zufälligem Gespräch mit Produzent Stephen Woolley und Bill Nighy, das Drehbuch als ein Starvehikel für Bill Nighy, der die perfekte Verkörperung des steifen britischen Beamten ist.

Hermanus inszenierte die Geschichte als angenehm altmodisches Schauspielerkino, das gleichzeitig eine milde Satire auf das Beamtentum und eine Liebeserklärung an dieses ist.

Der verdiente Lohn waren viel Kritikerlob, Preise und Nominierungen. So waren Ishiguro für sein Drehbuch und Nighy für sein Spiel für jeweils einen Oscar nominiert.

Living – Einmal wirklich leben (Living, Großbritannien 2022)

Regie: Oliver Hermanus

Drehbuch: Kazuo Ishiguro (nach dem Drehbuch „Ikiru“ von Akira Kurosawa, Shinobu Hashimoto und Hideo Oguni)

mit Bill Nighy, Aimee Lou Wood, Alex Sharp, Tom Burke, Adrian Rawlins, Hubert Burton, Oliver Chris, Michael Cochrane

Länge: 103 Minuten

FSK: ab 6 Jahre

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

Moviepilot über „Living“

Metacritic über „Living“

Rotten Tomatoes über „Living“

Wikipedia über „Living“ (deutsch, englisch)


Neu im Kino/Filmkritik: Charles Dickens und „The Invisible Woman“

April 24, 2014

Erst wenn man die historischen Daten studiert, fällt auf, wie sehr Regisseur Ralph Fiennes sich in seinem zweiten Spielfilm „The Invisible Woman“ um eine genaue Datierung der Ereignisse herummogelt oder sie als so bekannt voraussetzt, dass er sie nicht explizit erwähnen muss. Jedenfalls erweckt er bei einem unbedarftem Publikum den Eindruck, dass die Geschichte der titelgebenden unsichtbaren Frau sich innerhalb eines ziemlich kurzen Zeitraums abspielt.
Der Film beginnt 1885 am Strand der englischen Küstenstadt Margate. Eine Frau läuft, gehetzt von unsichtbaren Dämonen, am Strand entlang. Es ist Mrs. George Wharton Robinson, gebürtige Ellen ‚Nelly‘ Ternan (Felicity Jones), die mit Jugendlichen das von Charles Dickens und Wilkie Collins geschriebene Theaterstück „No Thoroughfare“ inszeniert. Die respektierte Gelehrtengattin, die mit ihrem Mann eine Jungenschule leitet, ist eine große Dickens-Bewunderin, die den Dichter sogar persönlich kannte. Als Kind behauptet sie.
Eine Rückblende in das Jahr 1857 zeigt sie als achtzehnjährige Schauspielerin, die in Manchester in dem Collins/Dickens-Theaterstück „The Frozen Deep“ mitspielen soll. Inszeniert wird die Aufführung von Charles Dickens (Ralph Fiennes) höchstpersönlich, der auch die Hauptrolle übernimmt. Der verheiratete 45-jähriger Mann verliebt sich in die Schauspielerin.
In den folgenden dreizehn Jahren, bis zu Dickens Tod 1870, sind sie ein Liebespaar, bei dem Nelly die titelgebende unsichtbare Frau ist. Denn in der Öffentlichkeit gehen sie getrennte Wege und Dickens versucht alles, damit niemand von der Beziehung erfährt.
Und genauso diskret, wie Dickens und Ternan vorgingen, erzählt Ralph Fiennes, nach einem Drehbuch von Abi Morgan („Shame“, „Die eiserne Lady“), diese auf Fakten basierende Geschichte. Denn anstatt die Konflikte direkt anzusprechen, umkreist er sie und deutet sie in Halbsätzen und Gesten an. Und die lange Zeit, die vergeht, ignoriert er, weil die Schauspieler immer ungefähr gleich alt aussehen.
Außerdem werden die Konflikte zugunsten einer gediegenen Inszenierung vernachlässigt. Letztendlich ist „The Invisible Woman“ ein Kostümdrama für das gebildete, schon etwas ältere Publikum, das sich an einer ästhetischen, das Nervenkostüm schonenden Inszenierung ergötzt, während das Denkmal von Charles Dickens kaum angekratzt wird und seine Liebe zu der jungen Schauspielerin fast wie allseit akzeptierte eine Zweckehe wirkt.
Die starren gesellschaftlichen Konventionen und auch die Belastungen und Nachteile, die Nelly Ternan aufgrund ihrer Liebe zu einem älteren, verheirateten, von der Öffentlichkeit vergötterten, sich absolut egoistisch verhaltenden Mann, hatte, werden kaum angesprochen. Denn es war auch eine Liebe, für die sie als Konkubine ihr Leben aufgab und über die sie schweigen musste. Auch nach ihrem Tod wurde von Dickens‘ Nachkommen diese Beziehung soweit möglich verschwiegen.
So bleibt der Film hinter den Möglichkeiten zurück, die die wahren Geschichte von Nelly Ternan geboten hätte.

The Invisible Woman - Plakat

The Invisible Woman (The Invisible Woman, Großbritannien 2013)
Regie: Ralph Fiennes
Drehbuch: Abi Morgan
LV: Claire Tomalin: The Invisible Woman: The Story of Nelly Ternan and Charles Dickens, 1991
mit Ralph Fiennes, Felicity Jones, Kristin Scott Thomas, Tom Hollander, Joanna Scanlan, Perdita Weeks, Amanda Hale, Tom Burke, John Kavanagh
Länge: 111 Minuten
FSK: ab 0 Jahre

Hinweise
Englische Homepage zum Film
Deutsche Homepage zum Film
Film-Zeit über „The Invisible Woman“
Moviepilot über „The Invisible Woman“
Metacritic über „The Invisible Woman“
Rotten Tomatoes über „The Invisible Woman“
Wikipedia über „The Invisible Woman“

Die TIFF-Pressekonferenz

Die NYFF-Pressekonferenz

Die Screen-Actors-Guild-Conversation


Neu im Kino/Filmkritik: „Only God Forgives“ – – – na immerhin einer

Juli 18, 2013

Das Team der grandiosen James-Sallis-Neo-Noir-Verfilmung „Drive“ – Regisseur Nicolas Winding Refn, Hauptdarsteller Ryan Gosling und Musiker Cliff Martinez – ist wieder zusammen und dieses Mal ist auch Kristin Scott Thomas dabei. Als Blondine und kaum erkennbar.

Kaum erkennbar ist auch die Geschichte. Sie kryptisch zu nennen, ist fast schon eine unverschämte Überhöhung. In Bangkok verdienen die Brüder Julian (Ryan Gosling) und Billy (Tom Burke) mit wahrscheinlich schmutzigen Geschäften ihr Geld – und stehen dabei noch unter der Fittiche ihrer Mutter Crystal (Kristin Scott Thomas als Cartoon-Sexy-Böse-Mutter), die aber erst zur Beerdigung von ihrem über alles geliebtem Sohn Billy nach Bangkok kommt. Billy hatte eine Prostituierte ermordet. Chang (Vithaya Pansringarm), ein im Film namenloser Polizist, stiftet den Vater und (oder?) Zuhälter der Toten an, Billy zu ermorden.

Danach entspinnt sich ein langatmiger Kampf zwischen Chang, der scheinbar jeden, der ihn stört, ermordet, und Julian, der seinen Bruder auf Befehl seiner Mutter, die ihn ständig herabsetzt, rächen soll.

Die meiste Zeit starren die Charaktere in Nicolas Winding Refns Film, der zu sehr die Antithese zu „Drive“ sein will, in gekonnt ausgeleuchteten Räumen nämlich Luftlöcher. Schnell wird deutlich, dass „Only God Forgives“ ungefähr so faszinierend wie das minutenlange, bewegungslose Anstarren von sich bedeutungsschwer gebenden, schön komponierten und schön anzusehenden Standbildern, unterlegt mit meditativ-einschläfernder Musik, ist.

Der Neunzigminüter ist eine Versuchsanordnung ohne irgendeine Dynamik, aber mit vielen Posen, die besser in einem Bildband oder einer Modefotostrecke zum Ausdruck kommen und „Only God Forgives“ zu einen der großen Enttäuschungen des Kinojahres macht.

Denn so ehrenwert und auf den ersten Blick erfreulich (Das war vor dem Filmgenuss.) es auch ist, dass das Team von „Drive“ nicht einfach die Erfolgsformel, dieses Mal mit etwas fernöstlicher Philosophie und Kampfkunst, wiederholt, so sehr muss man auch konstatieren, dass „Only God Forgives“ nur prätentiöser Quark mit einem Übermaß an Gewalt (die man meistens nicht sieht) ist, der verärgert und schnell tödlich langweilt.

Only God Forgives - Plakat

Only God Forgives (Only God Forgives, Frankreich/Dänemark 2013)

Regie: Nicolas Winding Refn

Drehbuch: Nicolas Winding Refn

mit Ryan Gosling, Kristin Scott Thomas, Vithaya Pansringarm, Tom Burke, Rhatha Phongam, Byron Gibson, Gordon Brown, Sahajak Boonthanakit, Joe Cummings

Länge: 90 Minuten

FSK: ab 16 Jahre

Hinweise

Film-Zeit über „Only God Forgives“

Metacritic über „Only God Forgives“

Rotten Tomatoes über „Only God Forgives“

Wikipedia über „Only God Forgives“

Meine Besprechung von Nicolas Winding Refns „Fear X“ (Fear X, USA 2003)

Meine Besprechung von Nicolas Winding Refns „Drive“ (Drive, USA 2011)