Melodrama über eine polnische Einwanderin, die 1921 in New York, mangels Alternativen, als Prostituierte ihr Geld verdienen muss und von zwei Männern, ihrem Zuhälter und einem Magier, geliebt wird.
„In Sepiatönen gedrehtes Einwanderer-Melodram, das in der Leidensgeschichte seiner fantastisch gespielten Hauptfigur an die Stummfilmzeit anknüpft. Stilbewusst hält der Film die Waage zwischen Realismus und bewusst eingesetzter Emotionalität“ schreibt das Lexikon des internationalen Films über James Grays neuesten Film, der, wieder einmal, glänzend besetzt ist, wieder einmal von der Kritik abgefeiert wurde und wieder einmal bei uns nicht im Kino lief. Heute ist die TV-Premiere. Immerhin zu einer gescheiten Uhrzeit.
mit Marion Cotillard, Joaquin Phoenix, Jeremy Renner, Dagmar Dominczyk, Jicky Schnee
ZDFkultur, 20.15 Biester (Frankreich/Deutschland 1995, Regie: Claude Chabrol)
Drehbuch: Claude Chabrol, Caroline Eliacheff
LV: Ruth Rendell: A Judgment in Stone, 1977 (Urteil in Stein)
Die wohlhabenden Lelièvres schätzen Sophie als Hausmädchen. Dabei wissen sie nichts über ihre Perle. Ganz im Gegensatz zur Postbeamtin Jeanne.
Chabrols ruhiger Thriller blickt einmal mehr hinter die Kulissen der Provinz-Bourgeoisie. Der Ausgang seines „marxistischen Thrillers“ (Chabrol über Biester) ist letal. „Der sozialen Hinrichtung der Repräsentanten der Unterschicht folgt die körperliche Hinrichtung der Bourgeoisie. Das ist der totale Krieg zwischen den Klassen. Und Chabrol setzt ihn unverhüllt in Szene.“ (Fischer Film Almanach 1996)
Mit Isabelle Huppert, Sandrine Bonnaire, Jean-Pierre Cassel, Jacqueline Bisset
Planet der Stürme (UdSSR 1962, Regie: Pawel Klushanzew)
Drehbuch: Alexander Kasanzew, Pawel Klushanzew (nach einem Roman von Alexander Kasanzew)
Das ist, wenn sich meine TV-Zeitung nicht irrt, heute die TV-Premiere von „Planet der Stürme“, einem Science-Fiction-Film aus der UdSSR, produziert vom Studio für populärwissenschaftliche Filme, und allein das ist schon ein Grund, sich das Werk über die Abenteuer sowjetischer Kosmonauten auf der Venus anzusehen.
Auch wenn das Lexikon des internationalen Films urteilt: „Mäßig unterhaltsamer, anspruchsloser Science-Fiction-Film, der seine Geschichte mit unglaublicher Naivität erzählt.“
Der Monthly Film Bulletin meinte: „Verglichen mit einer amerikanischen Durchschnittsproduktion ist diese russische Space Opera vernünftiger und widerspiegelt mehr echte SF, als dies normalerweise der Fall ist.“
Und „Die Science Fiction Filmenzyklopädie“ wird noch euphorischer: „’Planet der Stürme‘ [ist] der einzige gut gemachte und visuell aufregende russische Film über die Raumfahrt, der im Zeitraum zwischen ‚Aelita – Der Flug zum Mars‘ (1924) und ‚Solaris‘ (1971) entstanden ist. (…) eine temporeich inszenierte Abenteuergeschichte, die mit beträchtlichem Humor erzählt wird, mit Vulkanausbrüchen, riesigen Tieren und feindlichen Pflanzen. Die Entwürfe der Sets überwältigen durch die außergewöhnlichen Farbkombinationen, mit denen die beunruhigende Fremdheit der Venuslandschaft dargestellt wird, wie auch die die spektakulären Aspekte des Raumfluges selbst. Das Auftauchen eines Venusianers erfolgt in weiser Zurückhaltung erst am Ende des Films, und sogar dann wird auch nur angedeutet, dass er ’so wie wir‘ sei. (…) Das Ergebnis ist der beste, weil gradlinige und unprätentiöseste Science-Fiction-Film über eine Raumreise, der bislang in der UdSSR gedreht wurde.“
Roger Corman peppte mit der Hilfe von Curtis Harrington und Peter Bogdanovich den Film zweimal für den US-Markt auf.
The Wild Bunch – Sie kannten kein Gesetz (USA 1969, Regie: Sam Peckinpah)
Drehbuch: Walon Green, Sam Peckinpah
Texas 1913: nach einem missglückten Überfall auf die Kasse der Eisenbahngesellschaft flüchten Pike Bishop und seine Revolvermänner nach Mexiko und geraten in die dortigen Revolutionswirren.
Auf ihrer Flucht verfolgt Pikes ehemaliger Kumpel Deke Thornton sie gnadenlos. Er arbeitet inzwischen für die Eisenbahngesellschaft.
Peckinpah-Klassiker, der ist einer der besten Western und für zahlreiche Filmfans auch einer der besten Filme überhaupt: „Sam Peckinpahs definitiver Film über die verlorenen Helden des späten Westens und über die Gewalttätigkeit in Amerika.“ (Joe Hembus: Das Western-Lexikon)
Für George P. Pelecanos ist „The Wild Bunch“ einer der sieben besten Western: „Peckinpah’s stunner was a parable for Vietnam that turned peace-loving audiences on with its cathartic violence, in the process burning down the genre itself. Concludes with the Battle of Bloody Porch, perhaps the most visceral, mindblowing action sequence ever committed to film. Oddly enough, it’s the quiet moments that stick with you.”
Mit William Holden, Ernest Borgnine, Robert Ryan, Edmond O´Brien, Warren Oates, Ben Johnson, L. Q. Jones, Bo Hopkins
Eins Festival, 20.15 The Fountain – Quell des Lebens(USA 2006, Regie: Darren Aronofsky)
Drehbuch: Darren Aronofsky
Nach „Pi“ und „Requiem for a Dream“ war das ambitionierte, auf drei Zeitebenen spielende Fantasydrama „The Fountain – Quell des Lebens“ über die Suche nach dem Sinn des Lebens eine herbe Enttäuschung.
In der Gegenwart sucht ein Krebsforscher ein Heilmittel für seine kranke Frau. In der Vergangenheit sucht ein Konquistador den Baum des Lebens. In der Zukunft reist ein Astronaut zu einem Sternennebel und dem Baum des Lebens, um seiner Geliebten ein zweites Leben zu schenken.
Das war dann doch in erster Linie schön bebilderter getretener Quark. Auch wenn das Lexikon des internationalen Films“ meint: „Ein komplexer, bildstarker Versuch, das menscheitsbewegende Thema [vom Sinn des Lebens und der Fortexistenz nach dem Tod] durch die Allegorien und Symmetrien der ineinander verwobenen drei Geschichten auf sehr individuelle Weise für ein an Fantasy-Filmen geschultes Publikum aufzubereiten.“
Mit den Dramen „The Wrestler“ und „Black Swan“ versöhnte er dann wieder seine mit den Filmen beträchtlich gewachsene Fangemeinde.
Sein neuester Film, die Bibelverfilmng „Noah“ mit Russel Crowe in der Hauptrolle, war sein katastrophales 3D-Big-Budget-Projekt.
Mit Hugh Jackman, Rachel Weisz, Ellen Burstyn, Mark Margolis, Stephen McHattie Hinweise Rotten Tomatoes über „The Fountain“ Metacritic über „The Fountain“
Wikipedia über „The Fountain“ (deutsch, englisch)
Lange bevor der Film in die US-Kinos kam, hatten sich im Netz die ‚Hater‘ schon ihre Meinung gebildet: der Film kann nur Scheiße sein, weil in dem neuen „Ghostbusters“-Film nicht die originalen Ghostbusters-Schauspieler wieder die Hauptrollen spielen, sondern die Ghostbusters von anderen Schauspielern gespielt werden (was schon schlimm ist) und diese auch noch von Frauen, Ja Frauen!!!, gespielt werden (was noch viel schlimmer ist).
Es gab dann zum Filmstart noch eine besonders unappetitliche Kampagne gegen Leslie Jones. Eine Afroamerikanerin; – muss ich noch mehr sagen?
Diesen Idioten kann ich nur empfehlen, sich in ihrer Wohnung einfach noch einmal die zwei alten „Ghostbusters“-Filme anzusehen. Es gibt sie noch. Sie wurden nicht verändert und sie stehen in eurer Filmsammlung. Den neuen Film könnt ihr ja getrost ignorieren.
In Hollywood war ein neuer „Ghostbusters“-Film seit Ewigkeiten im Gespräch. Immerhin waren die ersten beiden Filme von 1984 und 1989 mit Bill Murray (wieder dabei in einer gänzlich anderen Mini-Rolle), Dan Aykroyd (wieder dabei in einer gänzlich anderen Mini-Rolle), Ernie Hudson (wieder dabei in einer gänzlich anderen Mini-Rolle) und Harold Ramis (2014 verstorben) enorm erfolgreich. Entsprechend naheliegend sind da in der Hollywood-Logik Pläne für einen weiteren Film, der wieder die Kasse klingeln lässt,
Für den neuen „Ghostbusters“-Film übernahm jetzt Paul Feig die Regie und er machte eigentlich alles richtig. Er und seine Mit-Drehbuchautorin Katie Dippold (sie schrieb auch das Drehbuch für Feigs „Taffe Mädels“ [The Heat, USA 2013]) versuchten sich nicht an einem Reboot, der die alte Geschichte mehr oder weniger neu schreibt, mehr oder weniger düster ist und letztendlich nur ein Remake das Originals ist. Nur schlechter. Sie nahmen sich den alten „Ghostbusters“-Film vor, der ja nicht so genial ist, wie heute manchmal behauptet wird, entstaubten ihn liebevoll und verfilmten ihn wieder mit eigenen Akzenten, wie es von einem Song mehrere Versionen geben kann, die gleichberechtigt nebeneinander stehen.
Dabei ist auf der erzählerischen Ebene der genialste Schachzug der Macher, dass sie einerseits vieles aus dem alten Film verwenden (was für den Wiedererkennungswert gut ist und das Herz des Fans erfreut oder, siehe oben, auch nicht), aber es andererseits die New York erschütternden Ereignisse aus den alten „Ghostbusters“-Filmen nicht gab und es daher auch keine Ghostbusters gab. Sogar das allseits bekannte Logo wird neu erfunden. In der U-Bahn von einem Sprayer.
Der zweite Geniestreich ist die Besetzung – und dass das im Film nicht weiter thematisiert wird.
In der aktuellen „Ghostbusters“-Version, die im heutigen New York spielt, das allerdings in jedem Bild ein heimeliges Retro-Gefühl verströmt, gründen Abby Yates (Melissa McCarthy), Erin Gilbert (Kristen Wiig) und Julian Holtzmann (Kate McKinnon) die Ghostbusters. Kurz darauf stößt Patty Tolan (Leslie Jones) zu ihnen. Sie arbeitet in der U-Bahn, hat dort eine Begegnung mit einem Geist und hält eine Arbeit bei den Ghostbusters für aufregender als ihre derzeitige Arbeit. Außerdem organisiert sie das Ghostbusters-Mobil, ein 1981-83 Cadillac-Leichenwagen. Als Telefonistin stellen sie Kevin (Chris Hemsworth) ein. Er ist zwar komplett ungeeignet für den Job, aber gutmütig und gutaussehend ist. Vor allem Erin verliebt sich sofort in das propere Mannsbild.
Sie glauben, dass es Geister gibt und ihr Glaube wird durch Schleim spuckende Geister bestätigt, die sich in alten Häusern und U-Bahnen herumtreiben und am Ende sogar die ganze Stadt vernichten wollen.
Bis dahin gibt es eine schöne Kameradie zwischen den Geisterjägerinnen, einen eher zum schmunzeln einladenden Humor, etwas jugendfreien Klamauk und ein schönes Retro-Feeling. Schon der 1984er „Ghostbusters“-Film war ja eine Liebeserklärung an die klassischen Fünfziger-Jahre-Horrorfilme und auch der 2016er „Ghostbusters“-Film scheint eher in einem Fünfziger-Jahre-New-York zu spielen, was nicht nur an den historischen Gebäuden, den betont unhippen, aber praktischen Kleidern und den ebenso unhippen, aber praktischen Waffen zum Fangen und Vernichten von Geistern, sondern auch, im Finale, an der Rekonstruktion des Times Square im Stil der siebziger Jahre liegt.
Nur die ziemlich retro aussehenden Geister wurden mit modernster Tricktechnik in Szene gesetzt.
„Ghostbusters“ ist eine launige Sommerkomödie mit vier Frauen, die ihren Mann stehen, und einem Mann, der als Blondinenwitz hundertfünfzigprozentig überzeugt, einer ordentlichen Portion Retro-Feeling und einem Humor, der einen lächelnd und wohlgestimmt aus dem Kinosaal entlässt.
Bis man dem ersten schleimspuckendem Geist begegnet.
Ghostbusters (Ghostbuster, USA 2016)
Regie: Paul Feig
Drehbuch: Paul Feig, Katie Dippold
mit Melissa McCarthy, Kristen Wiig, Kate McKinnon, Leslie Jones, Chris Hemsworth, Charles Dance, Michael Kenneth Williams, Matt Walsh, Ed Begley Jr., Andy Garcia, Bill Murray, Dan Aykroyd, Ernie Hudson, Annie Potts, Ozzy Osbourne, Sigourney Weaver
Eigentlich ist Maggie eine furchtbare Person. Die Anfang Dreißigjährige, allein lebende New Yorkerin wünscht sich ein Kind und sie hat dafür, inclusive Samenspender, schon alles durchgeplant. Da lernt sie John, einen angenehmen, verständnisvollen und interessierten Gesprächspartner, kennen. Er ist Dozent an der Universität, an der sie ebenfalls ohne große Karriereambitionen arbeitet. Aber er will sich verändern Er sieht sich als Romancier. Er gibt der literaturbegeisterten Maggie sein Manuskript zum Lesen und sie ist begeistert. Er könnte der perfekte Mann sein, wenn er nicht verheiratet wäre und Kinder hätte.
Drei Jahre später fasst Maggie einen neuen Plan. Denn das mit den Kindern hat zwar geklappt. Sie darf sogar auf Johns Kinder aus erster Ehe aufpassen. Aber ihr Traummann, der immer noch an seinem autobiographisch inspiriertem Roman arbeitet, ist der typische Feierabend-Daddy, der sich überhaupt nicht um die Kinder kümmert und die Karriere seiner Frau sabotiert. Nicht aus Bösartigkeit, sondern aus purer Ignoranz. Im Bett klappt es auch nicht mehr.
Weil für Maggie ein normales Beziehungsende zu profan ist, soll John sich wieder in seine Ex-Frau Georgette, eine egozentrische und ehrgeizige Akademikerin, verlieben. Die, so denkt Maggie sich, passen auch besser zusammen. Nur wie bringt man die beiden wieder zusammen?
Ein Plan muss her, der, wie alle Pläne, perfekt ist, bis er auf die Wirklichkeit trifft.
Maggie wird von Greta Gerwig gespielt und allein schon deshalb ist Maggie eine liebenswert-verpeilte Person, die auch gut in einem Woody-Allen-Film ausgehoben wäre. Immerhin spielt Rebecca Millers Screwball-Comedy in diesem New Yorker Intellektuellenmilieu und es geht um deren Liebeswirren und mehr oder weniger intellektuelle Arbeit.
Georgette wird von Julianne Moore gespielt und, auch wenn in der deutschen Fassung ihr dänischer Akzent, wahrscheinlich nicht mehr vorhanden ist (ich habe mich durch die Originalfassung gelacht), sagen ihre Kleider und ihre sich gegen Himmel türmende Frisur alles über diesen Charakter. Auch als kleinste Person dominiert sie den Raum.
Zwischen den beiden Frauen versucht John sein Glück. Ethan Hawke spielt ihn und schon deshalb erinnert sein Möchtegern-Schriftsteller an Jesse aus Richard Linklaters „Before Sunset“/“Before Sunset“/“Before Midnight“. Mit weniger Verantwortungsbewusstsein. Dafür hat er ja zwei Frauen, die sein Schicksal planen.
Bei all den Liebeswirren der in „Maggies Plan“ gezeigten Thirty-Somethings und älter fällt irgendwann auf, dass Maggie und ihr Umfeld Liebe, Ehe und Partnerschaft immer nur in der konservativen Variante von Mann-Frau-Kind buchstabieren. Auch wenn Georgette (mehr) und Maggie (weniger) berufstätig sind.
Maggies Plan (Maggie’s Plan, USA 2015)
Regie: Rebecca Miller
Drehbuch: Rebecca Miller (nach einer Geschichte von Karen Rinaldi)
mit Greta Gerwig, Ethan Hawke, Julianne Moore, Bill Hader, Maya Rudolph, Travis Fimmel, Ida Rohatyn, Wallace Shawn
Gesetz der Straße – Brooklyn’s Finest (USA 2009, Regie: Antoine Fuqua)
Drehbuch: Michael C. Martin
Hochkarätig besetzter Ensemblefilm über drei Polizisten, die versuchen in Brooklyn ihren Weg zu gehen: der eine wartet nur noch auf seine Pensionierung, der andere will einen Undercover-Einsatz beenden und muss dafür einen Freund verraten, der dritte will Geld für seine Familie besorgen und geht dafür über Leichen.
Die Geschichten mögen etwas zu sehr die bekannten Cop-Film-Klischees bedienen, aber insgesamt ist „Brooklyn’s Finest“ ein sehenswerter, vor Ort gedrehter Cop-Film und damit auch eine Bestandsaufnahme der Gesellschaft.
mit Richard Gere, Don Cheadle, Ethan Hawke, Wesley Snipes, Vincent D’Onofrio, Will Patton, Lili Taylor, Ellen Barkin, Brían F. O’Byrne, Michael K. Williams
Nachdem „Fliegende Liebende“ eine Entspannungsübung war, ist Pedro Almodóvar mit seinem zwanzigsten Spielfilm wieder zurück in gewohnt dramatischen Gefilden und die Welt der Kritiker ist wieder in Ordnung. Außerdem stellt Almodóvar, wie schon der Titel „Julieta“ verrät, wieder eine Frau in den Mittelpunkt seines gewohnt stilvoll erzählten Dramas.
Im heutigen Madrid trifft die fünfzigjährige Julieta (Emma Suárez) zufällig Beatriz, eine alte Freundin ihrer Tochter. Beatriz erzählt ihr, dass sie Antia mit ihren drei Kindern vor kurzem am Comer See gesehen habe.
Für Julieta ist diese Begegnung der Grund, ihre Umzugspläne mit ihrem neuen Freund nach Portugal über den Haufen zu werfen. Denn vor zwölf Jahren hat Antia sie ohne ein Abschiedswort verlassen. Seitdem hat Julieta nichts mehr von ihr gehört.
Julieta zieht wieder zurück in die Wohnung, in der sie zuletzt mit ihrer Tochter lebte und beginnt einen langen Brief an sie zu schreiben. Ein Brief, in dem sie ihre Sicht der Dinge erklären will. Auch wenn ihre Tochter den Brief vielleicht niemals lesen wird.
Ihr Brief beginnt Mitte der Achtziger. Während einer Zugfahrt begegnet die Aushilfslehrerin für Klassische Literatur (jetzt gespielt von Adriana Ugarte) Xoan (Daniel Grao), einem Fischer aus Galizien, dessen Frau im Koma liegt. Sie haben Sex, verlieben sich ineinander und Antia ist ihre Tochter.
Diese Beichte, die auf den Erzählungen „Entscheidung“, „Bald“ und „Schweigen“ von Literaturnobelpreisträgerin Alice Munro basiert, ist dann eine Mischung aus Selbstrechtfertigung und Selbstanklage, die genau deshalb kunstvoll die Balance zwischen Leichtigkeit und Düsternis hält. Denn Julietas Leben ist auf der einen Seite eine von Toten geprägte Verlustgeschichte einer Mutter, der es noch nicht einmal gelingt, Kontakt zu ihrer Tochter zu halten. Im Gegenteil: ihre Tochter, die wir als Erwachsene nie sehen, will so wenig von ihr wissen, dass sie ihrer Mutter noch nicht einmal sagt, wo sie jetzt lebt. Was muss eine Mutter getan haben, um so eine Reaktion zu provozieren?
Auf der anderen Seite ist es die Selbstbehauptungsgeschichte einer passiven, introvertierten Frau, der es gelingt, im katholischen Spanien mit seinen engen Familienbindungen ihr Leben zu leben und, weil es die klassische Biographie nicht mehr gibt, immer wieder, teilweise radikal neu anzufangen. Wobei ein Neuanfang immer auch einen Ortswechsel bedeutet.
Zwischen diesen beiden Polen, sein Leben zu betrachten (immerhin sehen wir die Vergangenheit aus Julietas Sicht), fragt Almodóvars Film, ob Julieta die richtigen Entscheidungen getroffen hat oder ob ihr Leben, wenn sie sich an einem Punkt anders entschieden hätte, nicht ganz anders verlaufen wäre. Almodóvar formuliert diese Frage so, dass sie vollkommen in der Geschichte aufgeht, die gerade durch ihre südländische Reichhaltigkeit und die elegant zurückgenommene Inszenierung beeindruckt. Er liefert in jeder Beziehung und durchgehend stärkere Bilder als Alice Munro in ihren drei Erzählungen, die die Vorlage für „Julieta“ sind. Dabei folgt Almodóvar erstaunlich genau den Vorlagen. Eigentlich brachte er im Drehbuch nur die Ereignisse in eine chronologische Reihenfolge und verlegte die Geschichte nach Spanien.
Bei Munro spricht die Frage, ob man ein anderes Leben hätte leben können, eher den Intellekt an. Ihre Charaktere sind skizzierte Figuren auf einem Spielbrett, das nie seine Konstruktion verleugnen kann. Das liegt auch daran, dass Munro ihre Figuren nicht näher beschreibt. Ein Name, eine dürftige Ortsangabe (manchmal auch nicht), eine ebenso dürftige Zeitangabe (falls überhaupt) müssen genügen, bevor sie in ihren Erzählungen zwischen Gegenwart und Vergangenheit hin und her springt. Dabei, jedenfalls in den acht Erzählungen von „Tricks“, in denen auch die lose miteinander verbundenen „Julieta“-Geschichten sind, wechselt sie oft auch die grammatische Zeit. Das behindert den Lesefluss und hält einen so zusätzlich auf Distanz zu den Figuren.
Diese Distanz ist bei Almodóvar, der „Julieta“ bescheiden eine Hommage an Munro nennt, nicht vorhanden. Seine Julieta ist eine Frau in einer klar erkennbaren Welt mit Freunden und Bekannten, die ebenso klare Eigenschaften haben.
Und er hat, wieder einmal, Rossy de Palma, die als Xoans strenge Haushälterin wirklich furchteinflößend sein kann.
Julieta (Julieta, Spanien 2016)
Regie: Pedro Almodóvar
Drehbuch: Pedro Almodóvar
LV: Alice Munro: Runaway, 2004 (Tricks)
mit Emma Suárez, Adriana Ugarte, Daniel Grao, Inma Cuesta, Darío Grandinetti, Rossy de Palma, Michelle Jenner, Pilar Castro
Nachdem vor einigen Jahren Horror ja nur aus Torture-Porn, Wackelkamera und Found Footage bestand und Horrorfilmfans sich die sehenswerten Filme an den Fingern einer abgehackten Hand abzählten, gibt es seit einiger Zeit wieder eine durchaus angenehme Rückbesinnung auf die Vergangenheit, als ein nerviger Hausgeist genügte und Schrecken durch einen gelungenen Spannungsaufbau, meist mit Jumpscares und lauten Geräuschen, erzeugt wurde.
Etliche dieser Horrorfilme, die vor einigen Jahren bei uns höchstens als DVD veröffentlicht worden wären, laufen auch im Kino. Wie jetzt „Lights out“, der Debütfilm von David F. Sandberg, der dafür seinen gleichnamigen, ziemlich gruseligen Kurzfilm gelungen zum Spielfilm ausbaute und der damit eine der erfreulichen Überraschungen des Jahres lieferte. Jedenfalls für Horrorfilmfans.
Im Mittelpunkt steht Rebecca (Teresa Palmer). Als Kind hatte sie Angst vor einem Geist, den sie nur im Dunkeln sehen konnte. Wenn sie das Licht anmachte, war er weg. Er war auch der beste Freund ihrer psychisch kranken Mutter Sophie (Maria Bello).
Inzwischen lebt sie in der Stadt in einem kleinem Apartment. Als ihr jüngerer Bruder Martin Gabriel Bateman) ebenfalls von dem Geist verfolgt wird und der Geist nicht mehr an das elterliche Haus gebunden ist, entschließt sie sich, ihn zu bekämpfen.
Natürlich erfindet „Lights out“ das Genre nicht neu und natürlich liefert er das, was man von einem Geisterfilm erwartet. Inclusive der Szenen und Geräusche, die zu einem Geisterfilm dazu gehören. Aber David F. Sandberg erzählt die Geschichte straff in unter achtzig Minuten. Da bleibt keine Zeit für ablenkende Subplots, weshalb Maria Bello als psychisch kranke Mutter, die sich mit dem Geist, den sie Diana nennt, unterhält, nur eine Nebenrolle hat. Es ist, immerhin richtet sich der Film an jugendliches Publikum, das noch nicht Myriaden Horrorfilme gesehen hat, Rebeccas Geschichte und Teresa Palmer („Warm Bodies“, „The Choice“, „Triple 9“) überzeugt als Sympathieträgerin, die ihren kleinen Bruder beschützen will und sich dafür ihren Kinderängsten vor dem in der Dunkelheit auftauchendem Monster stellen muss.
Sogar die knappe Erklärung für Dianas Erscheinen in dunklen Räumen und ihre Taten ist durchaus logisch. Jedenfalls logischer als wir es aus anderen Geisterfilmen kennen, wenn der böse Geist alles und nichts sein kann und, je nach Film, zu viel oder zu wenig erklärt wird.
Das kann man Sandberg, der mit einfachen Mitteln und einem Lichtschalter Schrecken erzeugt, nicht vorwerfen.
Sein nächster Film ist „Annabelle 2“, ebenfalls produziert von James Wan und, ausgehend von „Lights out“, könnte in diesem Fall die Fortsetzung besser als der erste Film sein.
Lights Out(Lights out, USA 2016)
Regie: David F. Sandberg
Drehbuch: Eric Heisserer (nach dem Kurzfilm von David F. Sandberg)
mit Teresa Palmer, Gabriel Bateman, Alexander DiPersia, Billy Burke, Maria Bello, Alicia Vela-Bailey, Lotta Losten, Andi Osho
Erstaunlich ist die Besetzung. Bemerkenswert die Drehorte. Denn „Collide“ wurde in und um Köln gedreht und der Film ist ein Actionthriller, wie wir ihn eigentlich aus den USA gewöhnt sind. Aber die Filmförderung ermöglicht einiges.
US-Amerikaner Casey Stein (Nicholas Hoult) verliebt sich in einer Kölner Disco in Juliette Marne (Felicity Jones) und er schwört ihr, ab jetzt keine kriminellen Geschäfte mehr zu machen. Als er erfährt, dass sie dringend eine Nierentransplantation braucht, beschließt er, für den Dealer Geran (Ben Kingsley) noch einmal einen gut bezahlten Auftrag zu übernehmen. Er soll von Gerans Intimfeind Hagen Kahl (Anthony Hopkins) einen gut gefüllten Drogenlaster klauen.
Gesagt. Getan.
Nach dem Überfall geht einiges schief und Casey donnert bei dem Versuch, seine Freundin aus den erpresserischen Klauen eines skrupellosen Gangsters zu befreien, mit einem Tempo über die Autobahn, das nur in Deutschland erlaubt ist und er verursacht dabei Blechschäden, die einen nach der berühmt-berüchtigten Autobahnpolizei Cobra 11 rufen lassen. Die kommt nicht, weil es, erstens, so im Drehbuch steht, und sie, zweitens, schon lange da ist. Neben „Lethal Weapon“ Joel Silver gehört Hermann Joha zu den Produzenten von „Collide“. Mit seiner Firma „action concept“ produziert Joha auch „Alarm für Cobra 11“, hat für die Stunts etliche Preise gewonnen und Johas Handschrift ist, im Guten wie im Schlechten, im ganzen Film zu spüren.
Die Crashs auf der Autobahn und in den verwinkelten Gassen von Monschau überzeugen mit ihrer handgemachten Authentizität. Es gibt noch mehr Action, die zeigt, dass Deutschland sich hier nicht hinter den USA verstecken muss. Die Action ist auch deutlich nachvollziehbarer als in den aktuellen Luc-Besson-Produktionen, in denen Schnitte und Wackelkamera jede Orientierung verunmöglichen. Die äußerst zäh beginnende und durchgehend vorhersehbare Filmgeschichte hält die Action mühsam zusammen. Die Geschichte ist auch nichts für Realitätsfanatiker, aber sie ist doch bodenständiger und damit weniger Over the Top als die trashigen Besson-Plots.
Die Charaktere sind Klischees. Sir Ben Kingsley mutiert zu einem chargierenden türkischen Ghettoganster, den wir so ähnlich schon in einigen grenzdebilen TV-Krimis ertragen mussten. Sir Anthony Hopkins zieht sich als sein Gegenspieler höflich aus der Affäre, indem er den gesitteten Gangster im Anzug spielt. Die deutschen Schauspieler haben nur kurze Auftritte und Felicity Jones ist halt die Damsel in Distress, die von Nicholas Hoult gerettet wird. Der durfte schon in „Mad Max: Fury Road“ Benzin schnuppern. Da überrascht nichts. Auch nicht die Schlusspointe.
Wer allerdings sehen will, wie ziemlich CGI-freie Action (ohne CGI geht ja nichts mehr) in Köln und Monschau und der Autobahn dazwischen aussieht, sollte sich „Collide“ ansehen.
Das Schweigen der Lämmer (USA 1991, Regie: Jonathan Demme)
Drehbuch: Ted Tally
LV: Thomas Harris: The Silence of the Lambs, 1988 (Das Schweigen der Lämmer)
FBI-Agentin Starling verfolgt einen Serienkiller und verliebt sich in den inhaftierten Hannibal Lecter.
Inzwischen schon ein Klassiker, der – zu Recht – etliche Oscars erhielt (Bester Film, Regie, Drehbuch, Hauptrolle). Beim wiederholten Sehen fällt auf, wie wenig von den schockierenden Ereignissen wirklich zu sehen ist – und wie konservativ die Kameraführung ist. Achten sie auf die erste Begegnung von Jodie Foster und Anthony Hopkins. Da ist keine Bewegung überflüssig, kein Schnitt zu viel und es wird sich in jeder Sekunde auf das Drehbuch und die Schauspieler verlassen.
Hitchcock hätte der Film gefallen.
Mit Jodie Foster, Anthony Hopkins, Scott Glenn, Ted Levine
Paris, frühe dreißiger Jahre: junge Frauen suchen bei Tanzveranstaltungen Männer für eine Nacht oder für das Leben. Auch Agathe lässt keinen Abend in einem Tanzlokal aus. Ihre Schwester Blanche ist dagegen der ruhige Typ, der sich aus so profanen Vergnügen nichts macht. Außerdem beunruhigt sie eine Mordserie an jungen Frauen, vor allem Prostituierten.
Als ihre Schwester nach einem ähnlichen Modus Operandi ermordet wird, beschließt sie, ihren Mörder zu suchen. Ihre Spur führt sie in das Nobelbordell Pompadour, wo sie als junge Frau gleich eine Stelle erhält. Weil sie als Jungfrau vehement jeden Geschlechtsverkehr ablehnt, wird sie zum titelgebenden „Fräulein Rühr-mich-nicht-an“, die mit einer Peitsche gegen gutes Geld die Kundschaft erzieht. Wenn sie nicht gerade als peitschenschwingende Furie arbeitet, versucht sie herauszufinden, wer der Frauenmörder ist. Und sie schlägt sich mit ihren Arbeitskolleginnen, die, wie sie, im Bordell schlafen, herum. Das erinnert dann, auch mit ihren Zickigkeiten und den strengen Aufseherinnen, an ein Mädcheninternat.
Die jetzt erschienene „Fräulein Rühr-mich-nicht-an“-Gesamtausgabe besteht aus den vier Comicalben, die in Frankreich zwischen 2006 und 2009 und danach auch bei uns als Einzelbände erschienen, und einem 14-seitigem Anhang mit Skizzen. Dabei gibt es zwischen den ersten beiden Comics „Die Jungfrau im Freudenhaus“ und „Blut an den Händen“ und den letzten Beiden, „Der Märchenprinz“ und „Bis dass der Tod uns scheidet“, keinen größeren Zusammenhang und das Ende der Geschichte ist so offen, dass eine weitere Geschichte mit Blanche nicht ausgeschlossen, sondern erwünscht ist. Bis jetzt haben Hubert (Szenario) und Kerrascoët (Zeichnungen), von denen auch die Geschichte „Schönheit“ (ebenfalls bei Reprodukt erschienen) ist, sie noch nicht erzählt.
Nachdem nach der Hälfte des Sammelbandes Agathes Mörder und das Mordkomplott arg hastig aufgeklärt sind, beginnt mit „Der Märchenprinz“ eine neue Geschichte, in der die vorherigen Ereignisse seltsamerweise nicht erwähnt werden.
Blanche, die immer noch Jungfrau ist, trifft bei ihrer Arbeit auf Antoine. Ihr neuer Kunde ist ein seltsamer Vogel. Denn im Gegensatz zu allen anderen Männern will er sich nicht auspeitschen lassen, sondern nur mit ihr reden. Blanche findet ihn sympathisch, geht mit ihm aus und lernt auch seine Mutter kennen. Nur: welches Geheimnis hat ihr vermögender Märchenprinz?
Bei der Geschichte von „Fräulein Rühr-mich-nicht-an“ gefällt vor allem der schräge Humor, der spitze Blick auf das Leben im Paris der dreißiger Jahre und das daraus entstehende reichhaltige Sittengemälde. Dabei geht es in den ersten beiden Bänden, die auch spannender sind, in Richtung Kriminalgeschichte und in den letzten beiden Bänden in Richtung Liebesgeschichte.
LV: David Brin: The Postman, 1985 (Gordons Berufung, Postman)
USA, nach der Apokalypse: nur wenige Menschen, die ohne Kommunikation in voneinander getrennten Festungen leben, haben überlebt. Ein selbsternannter Postbote verschafft ihnen, indem er Briefe (aka Nachrichten) befördert, zu neuer Hoffnung. Auch im Kampf gegen einen örtliche Warlords.
Kein Meisterwerk, aber so schlecht, wie der Film damals gemacht wurde („tagelang dauernde Stilisierungsfeier“ [Fischer Film Almanach 1999], „über die Maßen langweiliger Inszenierungsversuch von Kevin Costner“ [Zoom 2/98]), inclusive fünf gewonnener Razzies und dem Razzie als schlechtester Film des Jahrzehnts, ist der epische, an das Gute appellierende, zu lang geratene, postapokalyptische Science-Fiction-Film nicht.
Eric Roth schrieb eine frühe Drehbuchversion. Brian Helgeland die verfilmte Fassung, die sich wieder am Roman orientierte.
David Brins Roman erhielt den John W. Campbell Award und den Locus Award als bester Science-Fiction-Roman, außerdem wer er für den Hugo und Nebula Award nominiert.
Mit „Nachruf auf einen Spion“ geht die Reihe der uneingeschränkt lobenswerten Eric-Ambler-Wiederveröffentlichungen bei Atlantik weiter. „Nachruf auf einen Spion“ ist ein weiteres Werk aus seiner ersten Schreibphase, als er in den Dreißigern mehrere Polit-Thriller, heute allesamt Klassiker, schrieb, die als Zeitdiagnose und als Thriller funktionieren und in denen die Ambler-Formel von dem unschuldigen Normalbürger, der sich plötzlich als Spielball in einer ihm fremden Welt wiederfindet, mustergültig ausgeführt wird.
Josef Vadassy, der zweiundreißigjährige Ich-Erzähler von „Nachruf auf einen Spion“, wird von der Polizei verhaftet, weil er in Südfrankreich Bilder von geheimen Militäranlagen und Waffen machte; – und hier muss ich wohl für die Jüngeren eine kleine Erklärung einschieben. Früher wurden Bilder mit Fotoapparaten auf einen Film gemacht. Dieser Rollfilm ist in der Kamera, lichtempfindlich und kann nicht manipuliert werden. Ein Bild folgt auf das nächste. Wie die Glieder einer Kette. Weil Vadassy vor der Polizei zugibt, dass er die sich auf dem Film befindlichen Fotos von Eidechsen gemacht hat, muss er auch die anderen Bilder gemacht haben.
Ein klarer Fall, wenn Kommissar Beghin nicht bemerkt hätte, dass Vadassys Kamera vertauscht wurde. Der echte Spion muss also noch in dem Hotel sein und er hat die gleiche Kamera.
Beghin erpresst den staatenlosen Sprachlehrer, zurück in das an der Riviera liegende Hotel de la Réserve zu gehen und den Besitzer der anderen Kamera zu finden. Aber wie soll ein Normalbürger einen Spion überführen?
„Nachruf auf einen Spion“ folgt formal der Struktur eines Rätselkrimis, was jetzt nicht so thrillend ist. Und Vadassy stellt sich als Amateurdetektiv oft nicht besonders geschickt an, was ihn sympathisch macht. Denn auch wenn wir in unserer Fantasie gerne James Bond wären, sind wir es in der Realität nicht.
Die von Eric Ambler gewählten Hotelgäste aus Frankreich, Deutschland, der Schweiz, England und Amerika bieten einen schönen Überblick über damalige Schicksale, inclusive dem aus Nazi-Deutschland geflüchtetem Widerstandskämpfer, der all Dinge erzählt, die die anderen Deutsche jahrzehntelang nicht wissen wollten. Auch die anderen Gäste haben einige Geheimnisse.
Insgesamt ist „Nachruf auf einen Spion“ ein gelungener Roman, der überraschend wenig Patina angesetzt hat, und eine viertel Geschichtsstunde über die „gute alte Zeit“ zwischen den beiden Weltkriegen ist.
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Eric Ambler: Nachruf auf einen Spion
(übersetzt von Matthias Fienbork)
Atlantik, 2016
336 Seiten
12 Euro
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Deutsche Erstausgabe
Die Stunde des Spions
(übersetzt von Peter Fischer)
Fischer Verlag, 1963
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1979 publizierte Diogenes den Roman als „Nachruf auf einen Spion“.
Dort erschient auch 2002 die Neuübersetzung von Matthias Fienbork.
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Originalausgabe
Epitaph for a Spy
Hodder & Stoughton, London, 1938
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Verfilmung
Hotel Reserve(USA/Großbritannien 1944)
Regie: Lance Comfort, Max Greene (eigentlich Mutz Greenbaum), Victor Hanbury
Drehbuch: John Davenport
mit James Mason, Lucie Mannheim, Raymond Lovell, Julien Mitchell, Herbert Lom, Martin Miller, Clare Hamilton, Frederick Valk, Patricia Medina
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1953 und 1963 entstanden TV-Mehrteiler, die als verschollen gelten.
TATORT: Wohnheim Westendstraße (Deutschland 1976, Regie: Alex Corti)
Drehbuch: Herbert Rosendorfer
Ein italienischer Bauarbeiter wird tot auf dem Gelände der Bundesbahn gefunden. Alles sieht nach einem Unfall aus, bis Kommissar Veigl und seine Jungs Ungereimtheiten feststellen.
Als Krimi und als Milieustudie gelungener Tatort mit Münchner Charme.
Mit Gustl Bayrhammer, Helmut Fischer, Willy Harlander, Hans Baur, Renzo Martini, Piero Gerlini, Veronik Fitz, Jörg Hube
Vor Sherlock Holmes gab es Jack Whicher. Er ermittelte im viktorianischen England der 1860er und 1870er Jahre und – das kommt jetzt für einige Holmesianer vielleicht als Schock – Jack Whicher ist eine reale Gestalt, die eine Inspiration für Charles Dickens‘ Inspector Bucket in „Bleak House“ war. Er war Scotland-Yard-Inspector und einer seiner bekanntesten Fälle war der Mord von Road Hill House 1860, der 2008 von Kate Summerscale in dem Sachbuch „The Suspicions of Mr Whicher or The Murder at Road Hill House“ verarbeitet wurde. Das Buch war dann die Vorlage für den gleichnamigen Film, der den Auftakt zu einer kleinen, betulich erzählten Filmreihe bildete. Insgesamt entstanden zwischen 2011 und 2014 vier spielfilmlange Filme mit Paddy Considine als Jack Whicher. Dabei ist er nur in „Der Mord von Road Hill House“ Polizist. In „Der Mord in Angel Lane“, „Mein Fleisch und Blut“ und „Der Schein trügt“ arbeitet er als Privatdetektiv.
In „Der Mord von Road Hill House“ versucht er den Mord an einem dreijährigem Kind aufzuklären. Der Mörder muss, weil es keine Einbruchspuren gibt, jemand aus der Familie oder des Personals sein. Der wahre Fall ist ein echter Rätselkrimi, ein Locked-Room-Mystery, das damals von der Öffentlichkeit interessiert verfolgt wurde und in der Literatur seine Spuren hinterließ, wie in Wilkie Collins‘ „Der Monddiamant“.
In „Der Mord in der Angel Lane“ arbeitet Jack Whicher nicht mehr als Polizist. Er wird von Lady Susan Spencer gebeten, ihre schwangere Nichte Mary Spencer, die in London spurlos verschwunden ist, zu suchen. Da wird ihre Leihe gefunden. Whicher sucht ihr verschwundenes Kind und ihren Mörder.
In „Mein Fleisch und Blut“ bittet Sir Edward Shore Whicher ihn um Hilfe. Sein Sohn, der einige Zeit in Indien lebte, wird in London von einem Inder verfolgt. Anscheinend will der Inder Charles Shore umbringen, weil dieser in Indien etwas getan hat.
In „Der Schein trügt“ beschattet Whicher die Frau von Sir Henry Coverly. Es gelingt ihm, Beweise für ihre Untreue zu beschaffen. Als ihr Liebhaber ermordet wird, beginnt Whicher den Täter zu suchen.
Wer von „Der Verdacht des Mr. Whicher“ eine Variante von Sherlock Holmes, vor allem in seinen neuen Inkarnationen, erwartet, – immerhin wird die Serie mit dem Spruch „Im viktorianischen England beruht die Gerechtigkeit auf dem Verdacht des Mr. Whicher.“ beworben -, und es gerne etwas stylisch in Richtung „Peaky Blinders“ oder „Ripper Street“ hätte, dürfte enttäuscht sein. Mr. Whicher ist doch ein ziemlich normaler Mann. Er ist kein Exzentriker oder Genie, sondern eher ein Kommissar Maigret oder ein notorisch schlecht gelaunter Inspector Barnaby. Seine Ermittlungen stützen sich weniger auf Spuren, als auf Befragungen von Menschen, die mehr oder weniger viel zu verbergen haben und mehr oder weniger schamlos lügen. Dabei ist er mit Fällen und Motiven konfrontiert, die jederzeit spielen könnten. Gesellschaftliche Zwänge und Regeln werden nicht, wie in anderen in der Vergangenheit spielenden Krimis, als wichtiger Teil der Ermittlung angesprochen.
Aber das Zeitkolorit ist mit den Gebäuden, den Kutschen und den Kleidern gut getroffen, Paddy Considine ist immer ein Gewinn, die anderen Schauspieler sind auch gut und allzuviele historische Kriminalfilme gibt es nicht.
Als Bonusmaterial gibt es ein informatives kurzes „Behind the Scenes“ zum ersten Whicher-Film „Der Mord von Road Hill House“.
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Der Verdacht des Mr. Whicher: Der Mord von Road Hill House (The Suspicions of Mr Whicher: The Murder at Road Hill House, Großbritannien 2011)
Regie: James Hawes
Drehbuch: Neil McKay
LV: Kate Summerscale: The Suspicions of Mr Whicher or The Murder at Road Hill House, 2008 (Der Verdacht des Mr Whicher oder Der Mord von Road Hill House)
mit Paddy Considine, Peter Capaldi, Tom Georgeson, William Beck, Emma Fielding, Tim Pigott-Smit, Kathe O’Flynn
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Der Verdacht des Mr. Whicher: Der Mord in der Angel Lane(The Suspicions of Mr Whicher: The Murder in Angel Lane, Großbritannien 2013)
Regie: Christopher Menaul
Drehbuch: Neil McKay
mit Paddy Considine, Olivia Colman, William Beck, Shaun Dingwall
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Der Verdacht des Mr. Whicher: Mein Fleisch und Blut (The Suspicions of Mr Whicher: Beyond the Pale, Großbritannien 2014)
Regie: David Blair
Drehbuch: Helen Edmundson
mit Paddy Considine, Nancy Carroll, John Hefferman, Adrian Quinton, Laura Frances-Morgan, Raphael Brandman, Tyler Bennett, Nicholas Jones, Ellora Torchia, Tim Pigott-Smith
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Der Verdacht des Mr. Whicher: Der Schein trügt (The Suspicions of Mr Whicher: The Ties that bind, Großbritannien 2014)
Regie: Geoffrey Sax
Drehbuch: Helen Edmundson
mit Paddy Considine, Helen Bradbury, Nancy Caroll, Ristead Cooper, Joanna Horton, James Northcote, Luke Thompson
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Die DVDs
Der Verdacht des Mr. Whicher: Der Mord von Road Hill House/Der Mord in der Angel Lane
Polyband
Bild 1,78:1 (16:9)
Ton: Deutsch, Englisch (Dolby Digital 5.1)
Untertitel: Deutsch
Bonusmaterial: Behind the Scenes
Länge: 180 Minuten (2 x 90 Minuten)
FSK: ab 12 Jahre
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Der Verdacht des Mr. Whicher: Mein Fleisch und Blut/Der Schein trügt