Neu im Kino/Filmkritik – und Buchtipp: Können „The Marvels“ das Universum retten?

November 8, 2023

Da isser: der 33. MCU-Film und der dritte Film der fünften Phase, die auch Multiverse Saga heißt. Wobei das Multiverse in „The Marvels“, abgesehen von der Szene im Abspann, keine Rolle spielt. Das ist, angesichts der bislang weitgehend vergurkten Ausflüge ins Multiverse gut so. Die Länge ist mit insgesamt 105 Minuten sympathisch kurz. Es ist sogar der kürzeste MCU-Film. Allerdings ist so eine Länge bei einem Blockbuster immer auch ein Hinweis auf Probleme während der Produktion.

In „The Marvels“ öffnet Dar-Benn (Zawe Ashton), eine außerirdische Kree-Wissenschaftlerin, mehrere Portale. Durch diese Wurmlöcher kann in Sekundenbruchteilen durch das Universum gereist oder Gegenstände transportiert werden. Um ihre finsteren Pläne zu verwirklichen, braucht Dar-Benn einen zweiten Armreif. Auf ihrer Suche danach könnte sie so viele Portale öffnen, dass das gesamte Universum instabil wird.

Als ‚Captain Marvel‘ Carol Danvers (Brie Larson), ‚Ms. Marvel‘ Kamala Khan (Iman Vellani) und S.A.B.E.R.-Astronautin Captain Monica Rambeau (Teyonah Parris) zufällig, an verschiedenen Orten, so ein Portal berühren, gehen ihre Lichtkräfte eine ungeplante Verbindung ein. Wenn sie jetzt ihre Kräfte benutzen, tauschen sie ihre Position. Also Danvers ist dann an dem Ort, an dem vorher Khan war; Khan ist an dem Ort, an dem Danvers war und Rambeau hat möglicherweise ebenfalls ihren Ort mit Danvers oder Khan getauscht. Das sorgt anfangs, wenn sie gleichzeitig an verschiedenen Orten im Weltall gegen Bösewichter kämpfen und nach jedem Schlag an einem anderen Kampfschauplatz sind, für etwas Amüsement. Schnell wird dieses Wechselspiel zu einem ermüdend-sinnfreiem, keiner offensichtlichen Regel gehorchendem Gimmick.

Um das Universum zu retten, schließen sich Danvers, Khan (die den zweiten Armreif als Schmuck trägt) und Rambeau zusammen, nennen sich „The Marvels“ und kämpfen gegen die scheinbar unbesiegbare Dar-Benn.

Die Story ist letztendlich ein banaler Gut-gegen-Böse-Kampf ohne irgendeine Überraschung. Präsentiert wird sie als eine endlose Klopperei, die in der Mitte unterbrochen wird von etwas Comedy im Raumschiff von Carol Danvers und einem Besuch auf dem Planeten Aladna, auf dem ständig gesungen wird und Danvers so etwas wie die allseits beliebte und verehrte Gattin des Herrschers ist (Fragt nicht, genauer wird es im Film nicht erklärt). Keiner Figur wird ein großer Auftritt zugebilligt. Keine Figur hat eine Geschichte. Die Flashbacks zum ersten „Captain Marvel“-Film sind so kurz, dass sie nur für die Menschen verständlich sind, die sich noch sehr gut an diesen Film erinnern. Weitere für „The Marvels“ wichtige Hintergrundgeschichten wurden in verschiedenen Streamingserien abgehandelt. Für „The Marvels“ gehen die Macher davon aus, dass „Ms. Marvel“, „WandaVision“ (für Monica Rambeaus Geschichte) und „Secret Invasion“ (Samuel L. Jackson ist wieder als Nick Fury dabei) gesehen wurden. Neben dem Spielfilm „Captain Marvel“ und den sich daran anschließenden Kurzauftritten von Carol Danvers in anderen Marvel-Filmen. Immerhin, und das ist dann wohl die gute Nachricht, müssen die andere Filme der fünften Phase für diesen Superheldenfilm nicht nachgeholt werden.

Keine Figur hat eine Entwicklung. Welche Figur welche Superkräfte hat, dürfte auch nach dem Film niemand wissen. Im Zweifelsfall können sie alle gut zuschlagen und ein gut platzierter Kinnhaken setzt den Gegner außer Gefecht. Das Tauschen der Orte beim Einsatz ihrer Kräfte erfolgt absolut willkürlich und beliebig. Immerhin bemühen die Macher sich auch nicht, uns das alles zu erklären.

Die Beziehungen der Figuren untereinander sind nicht existent. Nie entsteht bei den Marvels das Gemeinschaftsgefühl, das wir bei den Avengers oder den Guardians of the Galaxy hatten. Nämlich dass in dem Film eine Gruppe sich gegenseitig ergänzender und sich gut untereinander verstehender Figuren gemeinsam gegen einen Bösewicht kämpft. Es waren Kumpels, mit denen man gerne einen Kinoabend verbrachte. In „The Marvels“ sind es nur drei Frauen in einer Zwangsgemeinschaft, die lieber gestern als heute wieder getrennte Wege gehen würden.

Unabhängig von den kolportierten Problemen während der Produktion hatte ich nie den Eindruck, dass hier ein kohärentes Drehbuch verfilmt wurde. „The Marvels“ wirkt eher wie ein panisches Zusammenschneiden der irgendwie verwertbaren Teile von den Dreharbeiten, die mit viel sinnfreier Action und Katzen auf Spielfilmlänge gestreckt wurde.

Insofern reiht „The Marvels“ sich nahtlos in die vorherigen MCU-Filme ein.

The Marvels (The Marvels, USA 2023)

Regie: Nia DaCosta

Drehbuch: Megan McDonnell, Nia DaCosta, Elissa Karasik, Zeb Wells

mit Brie Larson, Teyonah Parris, Iman Vellani, Samuel L. Jackson, Zawe Ashton, Gary Lewis, Seo-Jun Park, Zenobia Shroff, Mohan Kapur, Saagar Shaikh

Länge: 105 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Lektürehinweis

Wie schon bei einigen anderen DC- und Marvel-Superheldenfilmen veröffentlicht Panini Comics pünktlich zum Filmstart eine Anthologie über die Ursprünge und Veränderungen des in dem Buch porträtierten Helden oder, wie in diesem Fall, ‚Gruppe‘. Die Marvels sind in dem Buch ‚Captain Marvel‘ Carol Danvers, ‚Ms. Marvel‘ Kamala Khan und ‚Photon‘ Monica Rambeau. Ihren ersten Auftritt hatte ‚Captain Marvel‘ Carol Danvers 1968. Rambeau hatte 1982 in „Amazing Spider-Man Annual 16“ ihr Debüt als ‚Captain Marvel‘. Später und meisten hieß sie ‚Photon‘. Kamala Khan ist ein Fan von Captain America. Deshalb nennt sie sich ‚Ms. Marvel‘. Ihr erster Auftritt war 2013 in einem „Captain Marvel“-Comic. 2014 startete eine eigene Comicserie mit ihr.

Wie und welche Irrungen und Wirrungen sie seit 1968 in den Comics erlebten und wie verschiedene Autoren und Zeichner die Frauen immer wieder an den Zeitgeist anpassten, kann in „The Marvels: Durch alle Zeiten – Die Marvels-Anthologie“ mit kundigen Einführungen zu den jeweiligen Geschichten und den ausgewählten Geschichten nachgelesen werden. Der neueste Nachdruck ist ein „Captain Marvel“-Comic von 2019.

Auch dieser Sammelband ist, wie die in den vergangenen Jahren erschienenen Anthologie-Bänden, eine äußerst lesenswerte, kurzweilige und informative Einführung in die Geschichte der porträtierten Figur.

The Marvels: Durch alle Zeiten – Die Marvels-Anthologie

Panini Comics, 2023

320 Seiten

35 Euro

Hinweise

Moviepilot über „The Marvels“

Metacritic über „The Marvels“

Rotten Tomatoes über „The Marvels“

Wikipedia über „The Marvels“ (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von Nia DaCostas „Candyman“ (Candyman, USA 2021)

Meine Besprechung von Anna Boden/Ryan Flecks „Captain Marvel“ (Captain Marvel, USA 2019)


TV-Tipp für den 8. November: All is lost – Überleben ist alles

November 7, 2023

Arte, 20.15

All is lost – Überleben ist alles (All is lost, USA 2013)

Regie: J. C. Chandor

Drehbuch: J. C. Chandor

Großartiger Quasi-Stummfilm mit Robert Redford als Segler, dessen Schiff im Ozean von einem Container gerammt wird und unerbittlich sinkt.

Mehr in meiner ausführlichen Besprechung (mit vielen Videoclips).

mit Robert Redford

Wiederholung: Montag, 13. November, 14.15 Uhr

Hinweise

Moviepilot über „All is lost“

Metacritic über „All is lost“

Rotten Tomatoes über „All is lost“

Wikipedia über „All is lost“ (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von J. C. Chandors „All is lost“ (All is lost, USA 2013)

Meine Besprechung von J. C. Chandors „A most violent Year“ (A most violent Year, USA 2014)


Cover der Woche

November 7, 2023


TV-Tipp für den 7. November: Jean Seberg – Against all Enemies

November 6, 2023

Servus TV, 20.15

Jean Seberg – Against all Enemies (Seberg, USA 2019)

Regie: Benedict Andrews

Drehbuch: Joe Shrapnel, Anna Waterhouse

1968 trifft die Schauspielerin Jean Seberg („Außer Atem“) den Black-Panther-Aktivisten Hakim Jamal. Sie verlieben sich. Sie werden vom FBI beobachtet, das eine Rufmordkampagne gegen sie startet.

Biopic mit einer gewohnt überzeugenden Kristen Stewart in der Hauptrolle, das ziemlich schnell zu einem mutlosen Film über die Gewissenskonflikte eines fiktiven FBI-Agenten wird. Da wäre mehr möglich gewesen.

Mehr in meiner ausführlichen Besprechung.

mit Kristen Stewart, Jack O’Connell, Margaret Qualley, Zazie Beetz, Yvan Attal, Stephen Root, Colm Meaney, Anthony Mackie, Vince Vaughn

Wiederholung: Mittwoch, 8. November, 00.45 Uhr (Taggenau!)

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

Moviepilot über „Jean Seberg – Against all Enemies“

Metacritic über „Jean Seberg – Against all Enemies“

Rotten Tomatoes über „Jean Seberg – Against all Enemies“

Wikipedia über „Jean Seberg – Against all Enemies“ (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von Benedict Andrews‘ „Jean Seberg – Against all Enemies“ (Seberg, USA 2019)


TV-Tipp für den 6. November: Vogelfrei

November 5, 2023

Arte, 22.05

Vogelfrei (Sans toit ni loi, Frankreich 1985)

Regie: Agnès Varda

Drehbuch: Agnès Varda

Ein Arbeiter findet an einem Wintermorgen im Straßengraben die Leiche einer jungen Landstreicherin. Aus den Aussagen der Menschen, die sie in den letzten Tagen trafen, zeichnet Agnès Varda Mona Bergerons Leben nach.

Sandrine Bonnaire, die für ihre Rolle als Mona ihren zweiten César erhielt, war danach international bekannt. Sie ist immer noch eine feste Größe im französischen Kino.

„Vogelfrei“ erhielt in Venedig den Goldenen Löwen.

„In ihrem vielleicht besten Film gelingt Agnès Varda ein erneuernder Ansatz des Autorenkinos, auf den sich offensichtlich auch das ‚große‘ Publikum einzulassen bereit ist.“ (Fischer Film Almanach 1987)

„regt die Frage nach dem Sinn des menschlichen Daseins unter gegenwärtigen zivilisatorischen und natürlichen Lebensbedingungen nachhaltig an.“ (Lexikon des internationalen Films)

Ein selten gezeigter Film.

Anschließend, um 23.45 Uhr, zeigt Arte die neue Dokumentation „Agnès Varda – Filmkunst gegen den Strom“ (Frankreich 2023) und um 00.50 Uhr Agnès Vardas keine-Ahnung-wann-der-zuletzt-im-Fernsehen-lief-Spielfilm „Die eine singt, die andere nicht“ (Frankreich 1976).

Mit Sandrine Bonnaire, Macha Méril, Yolande Moreau, Stéphane Freis, Martha Jarnias, Joel Fosse, Patrick Lepczynski

Hinweise

Arte über „Vogelfrei“ (dort findet ihr auch die Links zu weiteren Filmen von und über Agnès Varda, die in der Arte-Mediathek sind)

Rotten Tomatoes über „Vogelfrei“

Wikipedia über „Vogelfrei“ (deutsch, englisch, französisch)


Die Krimibestenliste November 2023

November 5, 2023

Die Leselampenzeiten werden länger. Nicht, weil mehr gelesen wird, sondern weil es um 16.00 Uhr in der eigenen Hütte schon zu dunkel ist, um die Hand vor Augen zu sehen. Die in der aktuellen, von Deutschlandfunk Kultur präsentierten Krimibestenliste empfohlenen Bücher werden gefühlt nicht länger. Nur ein Buch hat über fünfhundert, drei haben über vierhundert Seiten. D. h. es sind etliche Bücher dabei, die bequem an ein, zwei langen Abenden gelesen werden können. Während einer Zugfahrt geht’s ja nicht mehr, weil der ICE mehr wackelt als eine Pferdekutsche.

Auf der Novemberliste der Krimibestenliste stehen:

1 (–) Andreas Pflüger: Wie Sterben geht

Suhrkamp, 448 Seiten, 25 Euro

2 (1) Jordan Harper: Alles schweigt

(Aus dem Englischen von Conny Lösch)

Ullstein, 377 Seiten, 22,99 Euro

3 (2) Frank Göhre: Harter Fall

CulturBooks, 163 Seiten, 17 Euro

4 (9) Gianrico Carofiglio: Groll

(Aus dem Italienischen von Verena von Koskull)

Folio, 239 Seiten, 25 Euro

5 (–) Zoë Beck: Memoria

Suhrkamp, 281 Seiten, 16,95 Euro

6 (3) Paula Rodríguez: Dringliche Angelegenheiten

(Aus dem Spanischen von Peter Kultzen)

Unionsverlag, 216 Seiten, 24 Euro

7 (7) Monika Geier: Antoniusfeuer

Ariadne/Argument, 432 Seiten, 24 Euro

8 (5) Laurent Mauvignier: Geschichten der Nacht

(Aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer)

Matthes & Seitz, 511 Seiten, 28 Euro

9 (–) Regina Nössler: Kellerassel

Konkursbuch, 344 Seiten, 12,90 Euro

10 (–) Karin Smirnoff: Verderben

(Aus dem Schwedischen von Leena Flegler)

Heyne, 463 Seiten, 24 Euro

In ( ) ist die Platzierung vom Vormonat.

Und jetzt muss ich meine Besprechung von Andreas Pflügers „Wie Sterben geht“ fertig schreiben. Das Buch habe ich schon so vor zwei, drei Wochen gelesen.

Aktuell lese ich Leigh Bracketts „Das lange Morgen“ (Carcosa Verlag, 288 Seiten [!]). Kein Krimi, sondern ein Science-Fiction-Roman und eine Neuübersetzung.

Ach, und mit Richard Osman habe ich mich letzte Woche unterhalten. Sein neuer Roman „Der Donnerstagsmordclub oder Ein Teufel stirbt immer zuletzt“ (List Verlag) erscheint Ende November. Mein Videointerview geht dann online.


TV-Tipp für den 5. November: Zielfahnder – Flucht in die Karpaten

November 4, 2023

3sat, 23.30

Zielfahnder – Flucht in die Karpaten (Deutschland 2016)

Regie: Dominik Graf

Drehbuch: Rolf Basedow

Die beiden LKA-Zielfahnder Hanna Landauer und Sven Schröder verfolgen den flüchtigen Gewaltverbrecher Liviu Caramitru bis nach Rumänien.

Mit gut zwei Stunden Laufzeit sprengt Dominik Graf dieses Mal locker das übliche Neunzig-Minuten-TV-Korsett. Mit seinem hohen Erzähltempo verlangt er den aufmerksamen Zuschauer, der sich aus ein, zwei Andeutungen eine ganze Geschichte zusammenreimen muss. Und mit dem ungewöhnlichen Schauplatz zeigt er uns eine fremde Welt, in der die Gesetze des „Tatort“ nicht mehr gelten.

Hochspannender, grandioser Thriller

mit Ulrike C. Tscharre, Ronald Zehrfeld, Arved Birnbaum, Axel Moustache, Dragos Bucur, Radu Binzaru, Anna Schäfer

Hinweise

Meine Besprechung von Dominik Grafs „Schläft ein Lied in allen Dingen“

Meine Besprechung der von Dominik Graf inszenierten TV-Serie  „Im Angesicht des Verbrechens“

Meine Besprechung von Johannes F. Sieverts Interviewbuch „Dominik Graf – Im Angesicht des Verbrechens: Fernseharbeit am Beispiel einer Serie“

Meine Besprechung von Chris Wahl/Jesko Jockenhövel/Marco Abel/Michael Wedel (Hrsg.) “Im Angesicht des Fernsehens – Der Filmemacher Dominik Graf”

Meine Besprechung von Dominik Grafs “Die geliebten Schwestern” (Deutschland/Österreich 2013/2014)

Meine Besprechung von Dominik Grafs Erich-Kästner-Verfilmung „Fabian oder Der Gang vor die Hunde“ (Deutschland 2021)

Meine Besprechung von Domink Graf/Felix von Boehms (Co-Regie) „Jeder schreibt für sich allein“ (Deutschland 2023)

Dominik Graf in der Kriminalakte


Neu im Kino/Filmkritik: Unfall, Suizid oder Mord? Machen wir die „Anatomie eines Falls“

November 4, 2023

Ein Whodunit ist „Anatomie eines Falls“ (schön doppeldeutiger Titel) nicht. Dafür steht, jedenfalls für die Polizei, die Täterin viel zu schnell fest. Es war die Ehefrau.Es gibt auch keine Spur zu einem anderen möglichen Täter, der Samuel Maleski aus dem Fenster des einsam gelegenen Hauses gestoßen haben könnte. Einen Suizid hält seine Frau Sandra Voyter für unwahrscheinlich. Sie ist eine erfolgreiche Schriftstellerin, die in ihren Werken Wahrheit und Fiktion miteinander verschmilzt. Seit zwei Jahren lebt sie zurückgezogen mit ihrem Mann und ihrem elfjährigem, stark sehbehinderten Sohn Daniel in der Nähe von Grenoble in den Bergen in einem Haus.

Nach einem Spaziergang mit seinem Hund entdeckt Daniel im Schnee die Leiche seines Vaters. In der Stunde vor der Entdeckung der Leiche war Sandra allein mit Samuel. Davor sie stritten sich; – vor einer Studentin, die Sandra für ihre Doktorarbeit interviewte. Anschließend verhinderte er mit lauter und extrem nerviger Musik das Interview.

Alle Beweise sprechen, so stellt auch Sandras Anwalt und Freund Vincent Renzi fest, gegen sie. Das wird auch bei der ungefähr zwei Drittel des Films einnehmenden, im Detail beschriebene Gerichtsverhandlung deutlich. Zeugen sprechen über Sandra, Samuel, die Beziehung von Sandra und Samuel, ihre Beziehung zu ihrem Sohn und wie sich alles in den vergangenen Jahren veränderte. Sandra, die nicht möchte, dass diese intimen Details vor Gericht und damit in der Öffentlichkeit verhandelt werden, steht vor der Frage, welche weiteren Details sie über ihr Leben preisgeben soll.

Als Justine Triets Film dieses Jahr in Cannes die Goldene Palme erhielt, klang es fast so, als habe „Anatomie eines Falls“ nur einen Trostpreis erhalten. Denn Sandra Hüller, die Sandra Voyter spielt, begeisterte in Cannes die Kritik noch in einem weiteren Wettbewerbsfilm. Nämlich Jonathan Glazers Martin-Amis-Verfilmung „The Zone of Interest“. Für die Kritik wurde sie die Schauspielerin des Festivals. Und Sandra Hüller ist auch gewohnt gut als Schrifstellerin, Mutter und Ehefrau, die versucht ihr Privatleben und das ihrer Familie zu schützen. Sie spielt hier, nicht wie in den vergangen Jahren öfters, eine überspannte Frau am Rande des Nervenzusammebruchs, sondern eine normale Frau, die ihre Intimsphäre wahren und ihre Familie beschützen möchte.

Der Film selbst konzentriert sich auf den Kriminalfall. Er zeigt in teils quälender Länge die einzelnen Schritte eines Kriminalfalls vom Anfang bis zum Ende. Also von der Tat über die polizeilichen Ermittlungen, die Besprechungen der Verdächtigen mit dem Anwalt, die einzelnen Verfahrenschritte (wozu hier die Frage, wie die Tatverdächtige, die Mutter, mit dem einzigen Zeugen, der zugleich ihr Sohn ist, zusammenleben kann, ohne dessen Aussage zu beeinflussen) und dem Gerichtsverfahren bis hin zum Urteilsspruch.

Dabei ist dieses Gerichtsverfahren im Vergleich zu den uns aus US-Filmen bekannten Gerichtsverfahren und auch aus anderen französischen Filmen bekannten Gerichtsverfahren erstaunlich wenig formalisiert. Eher schon wirkt es wie ein Kneipenstreit. Das steigert die Spannung und geht auf Kosten der Glaubwürdigkeit.

Gleichzeitig wird deutlich, wie komplex so ein kleiner Fall sein kann. Und wie sehr vergangene Ereignisse in die eine oder in die andere Richtung interpretiert werden können. Auch weil die Zuhörenden nie die ganze Geschichte kennen. Sie fragen sich in dem Moment, ob der Streit unter Eheleuten das Vorspiel für einen Mord war. Oder nur ein lautstarker Streit, der einen Tag später vergessen war.

Diese Konzentration auf einen Fall und das Gerichtsverfahren macht „Anatomie eines Falls“ zu einem Kriminalfilm, der seine Spannung über zweieinhalb Stunden halten kann. 

Anatomie eines Falls (Anatomie d’une chute, Frankreich 2023)

Regie: Justine Triet

Drehbuch: Justine Triet, Arthur Harari

mit Sandra Hüller, Swann Arlaud, Milo Machado Graner, Antoine Reinartz, Samuel Theis, Jehnny Beth

Länge: 151 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

 

Moviepilot über „Anatomie eines Falls“

AlloCiné über „Anatomie eines Falls“

Metacritic über „Anatomie eines Falls“

Rotten Tomatoes über „Anatomie eines Falls“

Wikipedia über „Anatomie eines Falls“ (deutsch, englisch, französisch)


TV-Tipp für den 4. November: Fair Game – Nichts ist gefährlicher als die Wahrheit

November 3, 2023

ServusTV, 20.15

Fair Game (Fair Game, USA 2010)

Regie: Doug Liman

Drehbuch: Jez Butterworth, John Henry Butterworth

LV: Joseph Wilson: The Politics of Truth: : A Diplomat’s Memoir – Inside the Lies That Led to War and Betrayed My Wife’s CIA Identity; Valerie Plame: Fair Game: My Life as a Spy, My Betrayal by the White House, 2007

Valerie Plame war CIA-Agentin. Ihr Mann, der Exbotschafter und Bill-Clinton-Berater Joseph Wilson, wurde von George W. Bush beauftragt, in Niger die Beweise für den Irak-Krieg zu liefern. Er fand keine. Die Regierung behauptete das Gegenteil. Wilson ging an die Öffentlichkeit – und die Regierung Bush startete eine Schmutzkampagne gegen Wilson und seine Frau, die dabei als CIA-Agentin enttarnt wurde.

Ein weiterer Polit-Thriller, der mit der Regierung Bush und dem „war on terror“ abrechnet. Doch während der unterschätzte „Green Zone“ (inszeniert von Paul Greengrass, der zwei „Bourne“-Film inszenierte), basierend auf einem Sachbuch, eine Geschichte erfand, nahm „Bourne“-Regisseur Liman als Grundlage für seinen international abgefeierten Film eine Interpretation der wahren Ereignisse, die auch „Plamegate“ (nach „Watergate“) genannt wurde . Die deutschen Kritiker sind dagegen negativer.

Jedenfalls ist es schön, dass der Polit-Thriller der siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts eine so gelungene Renaissance erlebt.

mit Sean Penn, Naomi Watts, Sam Shepard, Noah Emmerich, Michael Kelly, Bruce McGill

Wiederholung: Sonntag, 5. November, 00.20 Uhr (Taggenau!)

Hinweise+++++

Rotten Tomatoes über “Fair Game”

Wikipedia über „Fair Game“ (deutsch, englisch)

The Blurb: “Fair Game – The Story behind the Film”

I am rogue: Interview mit Doug Liman über “Fair Game” (4. November 2010)

Meine Besprechung von Doug Limans „Edge of Tomorrow“ (Edge of Tomorrow, USA 2014) und der DVD

Meine Besprechung von Doug Limans „Barry Seal – Only in America“ (American Made, USA 2017)

Meine Besprechung von Doug Limans “Chaos Walking“ (Chaos Walking, USA 2021)

 


Neu im Kino/Filmkritik: Über den gar nicht so skandalösen US-Kinohit „Sound of Freedom“

November 3, 2023

In den USA war Alejandro Monteverdes Thriller „Sound of Freedom“ im Sommer der umstrittene Blockbuster. Dort spielte er über 180 Millionen US-Dollar ein. Aktuell ist er der zehnterfolgreichste Film des Jahres. „Indiana Jones und das Rad des Schicksals“ steht auf dem elften Platz.

Umstritten ist der Film über den Kampf eines tapferen Polizsten gegen schmierige Pädophile weniger wegen seines Inhalts, sondern vielmehr wegen allem anderen. Also wegen den Machern, dem Verleih und seinen Fans. QAnon-Anhänger und die Faith-based-Zuschauergemeinschaft feierten den Film in höchsten Tönen ab und wiesen jede Kritik an dem Film mit dem Hinweis auf den wichtigen Inhalt ab.

Jetzt läuft der Film in unseren Kinos und wir können prüfen, ob der desaströse Ruf des Films als Fan-Fiction für verschwörungstheoretische und religiöse Spinner gerechtfertigt ist. Dabei muss zwischen dem Film und seinem Umfeld unterschieden werden; – soweit das möglich ist.

Beginnen wir mit dem Film. Er erzählt die mehr oder weniger wahre Geschichte von Tim Ballard (Jim Caviezel), einem Spezialagent der Homeland Security. Seit Jahren jagt er Pädophile. Er hat schon viele Täter geschnappt. Aber noch keine Opfer gerettet. Sie sind nicht in den USA und damit außerhalb von seinem Zuständigkeitsbereich. Das will der mehrfache Familienvater jetzt ändern. Er kündigt und beginnt in Südamerika von Kinderhändlern entführte Kinder zu suchen.

Alejandro Monteverde erzählt das als TV-Film mit Kinoambitionen und, angesichts des geringen Budgets von 14,5 Millionen US-Dollar, erstaunlich vielen Vor-Ort-Drehs und einem großen Ensemble. Während die Bilder eindeutig für eine große Kinoleinwand komponiert wurden, sind die Story und die Dialoge durchgehend auf TV-Niveau. Die Story ist eine klassische White-Savior-Geschichte, in der ein weißer Held (mit einigen Helfern) gegen meist weiße Bösewichter vorgeht. Dabei rettet er Kinder vor ihren schändlichen Treiben. Die Bösen sind böse, die Guten gut; – auch wenn einige der Guten eine durchaus verbrecherische oder sündige Vergangenheit haben. Jetzt helfen sie dem Helden und büßen so für ihre Sünden und ihren liederlichen Lebenswandel.

Angenehm ist bei dieser Jagd auf Kinderhändler und -schänder, dass Ballard fast immer auf Gewalt verzichtet. Er stellt den Übeltätern Fallen, überführt und verhaftet sie. Oder lässt sie verhaften.

Gedreht wurde der Thriller bereits im Sommer 2018. Und wäre er danach veröffentlicht worden, wäre er im Kino ziemlich sang- und klanglos untergegangen. Bei uns wäre er, immerhin ist Caviezel ein bekannter Schauspieler und das Thema ist wichtig, sicher irgendwann auf DVD veröffentlicht worden. Es hätte einige Besprechungen gegeben und am Ende hätte der Film einen kleinen Gewinn abgeworfen.

Aber es kam anders. Der Start wurde verschoben. Während der Coronavirus-Pandemie waren die Kinos monatelang geschlossen. Alle Kinostarts wurden verschoben. Viele Filme, die im Kino einen satten Gewinn erzielt hätten, wurden ohne eine Kinoauswertung gestreamt. Die Verleihrechte für „Sound of Freedom“ wanderten von Studio zu Studio. Die Produzenten waren nicht immer mit den ihnen gewährten Konditionen einverstanden. Das ist in der Häufung sicher eine seltene Verkettung unglücklicher Umstände, aber es passiert auch in normalen Zeiten immer wieder. Letztendlich erwarb Angel Studios die weltweiten Vertriebsrechte. Am 4. Juli 2023 lief der Film in den USA an und wurde, dank der Werbekampagne des Vertriebs, ein Erfolg.

Und damit kämen wir zum Umfeld. In fünf Jahren kann einiges passieren. Hauptdarsteller Jim Caviezel ist schon seit Jahren für seine, höflich formuliert, grenzwertigen religiösen und politischen Ansichten bekannt. Er unterstützte mehrfach Kandidaten der Republikaner, wie den christlich-fundamentalistischen Rick Santorum. Und er fiel, auch während der Dreharbeiten für „Sound of Freedom“, mit bizarren Äußerungen auf. Inzwischen ist er Mitglied von QAnon – und damit weitab von jedem vernünftigem Diskurs.

Auch Regisseur Alejandro Monteverde ist gläubig. Und, wenn man genau guckt, findet man einige religiöse Referenzen im Film. Diese unterscheiden sich allerdings kaum von der Verwendung christlicher Symbole und Musik in anderen Filmen. Einiges ist genre-immanent. Und einiges, wie der Satz, dass Gottes Kinder nicht verkäuflich seien, einfach nur peinlich. Aber ein Faith-based-Movie ist „Sound of Freedom“ nicht.

Als der Film gedreht wurde, war Tim Ballard CEO der von ihm 2013 gegründeten Organisation „Operation Underground Railroad“ (OUR). Nach mehreren Vorwürfen wegen sexuellem Fehlverhalten verließ er sie 2023. Bis zu seiner danach erfolgten Exkommunikation war er über Jahrzehnte ein aktives Mitglied der zu den Mormonen gehörenden The Church of Jesus Christ of Latter-day Saints. Ihm wurde die Verbreitung von QAnon-Verschwörungstheorien vorgeworfen.

Bei seinen OUR-Rettungsmissionen verschwimmt die Grenze zwischen Fakten und Fiktion. So behauptete er 2023 in einem Interview, er habe in Westafrika Kinder aus einer Babyfabrik befreit. Dort seien sie als Organspender und Opfergaben satanischer Rituale gefangen gehalten worden. Das klingt nach dem perfekten Stoff für die nächste Strandkorblektüre.

Außerdem war er CEO der von dem ultrarechten Moderator Glenn Beck gegründeten christliche Organisation The Nazarne Fund. Dieser Glenn Beck war auch der Hauptgeldgeber für Ballards im Film gezeigte Missionen und er gab den Anstoss für Filme mit und über Ballard.

Produziert wurde „Sound of Freedom“ von Eduardo Verástegui. Der rechtsextreme Mexikaner und Abtreibungsgegner bewirbt sich als unabhäniger Kandidat für die nächsten mexikanischen Präsidentschaftswahlen.

Der Verleih Angel Studios ist ein 2021 von den Mormonen Neal und Jeff Harmon gegründetes Medienunternehmen, das mittels Crowdfunding religiöse Filme und TV-Serien produziert. Für „Sound of Freedom“ setzten sie die bei ihren Faith-based-Filmen erprobten Mittel ein. Dazu gehört auch ein bedenklich verschwörungstheoretisch schwurbelnder Aufruf von Jim Caviezel am Filmende, Karten für Menschen zu kaufen, die sich das Eintrittsgeld für den Film nicht leisten können.

Verschwörungstheoretiker, Ultrakonservative, Mormonen und Trump-Anhänger waren an zentralen Stellen in die Herstellung involviert und Anhänger dieser Gemeinschaften zählten dann in den USA zu den größten Fans des Films. Sie kaperten den Film und sahen ihn, auch wenn die Zusammenhänge sehr weit hergeholt sind, als eine Bestätigung ihrer Weltsicht. Daran ändern auch Distanzierungsbemühungen von Alejandro Monteverde nichts.

Der Film selbst ist, wie gesagt, ein banaler Thriller.

Sound of Freedom (Sound of Freedom, USA 2023)

Regie: Alejandro Monteverde

Drehbuch: Rod Barr, Alejandro Monteverde

mit Jim Caviezel, Mira Sorvino, Bill Camp, Kurt Fuller, Gary Basaraba, José Zúñiga, Gerardo Taracena, Scott Haze, Eduardo Verástegui

Länge: 135 Minuten

FSK: –

Kinostart: 8. November 2023 (Ich glaube, da hat Gott mich in die falsche Woche geschickt.)

Hinweise

Moviepilot über „Sound of Freedom“

Metacritic über „Sound of Freedom“

Rotten Tomatoes über „Sound of Freedom“

Wikipedia über „Sound of Freedom“ (deutsch, englisch)

History vs Hollywood prüft den Wahrheitsgehalt


TV-Tipp für den 3. November: Zeugin der Anklage

November 2, 2023

Bayern, 22.45

Zeugin der Anklage (Witness for the Prosecution, USA 1957)

Regie: Billy Wilder

Drehbuch: Larry Marcus, Billy Wilder, Harry Kurnitz

LV: Agatha Christie: The Witness for the Prosecution, 1925 (Kurzgeschichte, erschien ursprünglich als „Traitor’s Hands“ in Flynn’s, 31. Januar 1925, später unter dem heute bekannten Titel in der Kurzgeschichtensammlung „The Hound of Death and Other Stories, 1933; deutscher Titel: Zeugin der Anklage)

Hat Leonard Vole eine reiche Witwe erschlagen? Für Staranwalt Sir Wilfried hängt alles von der Aussage von Voles Frau Christine ab.

Prototyp aller Gerichtsfilme und immer noch weitaus spannender als die jüngeren Gerichtsthriller (obwohl die Pointe bekannt sein dürfte), mit – in glänzender Spiellaune – Marlene Dietrich, Charles Laughton, Tyrone Power

Das Drehbuch war für einen Edgar nominiert. „Die zwölf Geschworenen“ gewann ihn. Agatha Christie gefiel die Verfilmung sehr gut.

Anschließend, um 00.35 Uhr, zeigt der der BR den Billy-Wilder-Film „Eins, zwei, drei“.

Hinweise

Rotten Tomatoes über „Zeugin der Anklage“

Wikipedia über „Zeugin der Anklage“ (deutsch, englisch)

Homepage von Agatha Christie

Krimi-Couch über Agatha Christie

Meine Besprechung von Agatha Christies „Mord im Orientexpress“ (Murder on the Orient Express, 1934)

Meine Besprechung von John Guillermins Agatha-Christie-Verfilmung “Tod auf dem Nil” (Death on the Nile, Großbritannien 1978)

Meine Besprechung von Michael Winners Agatha-Christie-Verfilmung „Rendezvous mit einer Leiche“ (Appointment with Death, USA 1988)

Meine Besprechung von Kenneth Branaghs Agatha-Christie-Verfilmung „Mord im Orientexpress“ (Murder on the Orient Express, USA 2017)

Meine Besprechung von Gilles Paquet-Brenner Agatha-Christie-Verfilmung „Das krumme Haus“ (Crooked House, USA 2017) (und Buchbesprechung)

Meine Besprechung von Kenneth Branaghs Agatha-Christie-Verfilmung „Tod auf dem Nil“ (Death on the Nile, USA/Großbritannien 2022) (und Buchbesprechung)

Meine Besprechung von Kenneth Branaghs Agatha-Christie-Verfilmung „A Haunting in Venice“ (A Haunting in Venice, USA 2023) (und Buchbesprechung)


Neu im Kino/Filmkritik: „Dumb Money – Schnelles Geld “ für die GameStop-Aktienkäufer

November 2, 2023

In den USA tummeln sich schon seit Ewigkeiten Kleinanleger auf dem Aktienmarkt. Normalerweise werden sie von den Profis ignoriert. Falls sie nicht gerade von ihnen hemmungslos über den Tisch gezogen werden.

Einer von diesen Kleinanlegern ist Keith Gill (Paul Dano). Auf den ersten Blick ist er ein typischer Nerd, der wahrscheinlich seit seiner Konfirmation keinen Anzug mehr angezogen hat. Als Roaring Kitty redet er aus dem Keller seines Hauses auf seinem YouTube-Kanal über Aktien und wie er sein Geld investiert. Trotz der grassierenden Coronavirus-Pandemie hält er die GameStop-Aktie für hoffnungslos unterbewertet. GameStop ist eine Ladenkette für Videospiele, die in Einkaufzentren ihre Filialen hat. Gill kauft die Aktie und fordert seine Fans auf, sie ebenfalls zu kaufen. Das war im Januar 2021. Und, wie es so ist, wenn plötzlich viele Menschen eine Aktie kaufen, steigt der Kurs.

Dummerweise bringt Gill damit einige Hedgefonds-Manager, die auf einen niedrigen Kurs der Aktie spekulierten, in Bedrängnis. Und irgendwann interessiert sich auch der Kongress dafür.

Diese wahre Geschichte über den plötzlichen enormen Wertzuwachs einer Aktie und wie es dazu kam, verfilmte Craig Gillespie („I, Tonya“) jetzt mit erstaunlich vielen bekannten Schauspielern (die teilweise nur wenige Drehtage hatten) und einer ordentlichen Portion Humor als süffige David-gegen-Goliath-Geschichte. Die Sympathien sind klar verteilt und die Kritik am Finanzsystem ist bestenfalls sehr milde.

Denn, auch wenn hier die Kleinanleger gewinnen, erzählt „Dumb Money“ letztendlich nur eine Geschichte von Zockern, die gegeneinander kämpfen. Am System wollen sie nichts ändern. Sie wollen nur ihr Stück vom Kuchen. Außerdem erkannten die GameStop-Anleger, so Gillespie, „dass sie GameStop nutzen konnten, um der Wall Street den Mittelfinger zu zeigen“.

Diese Rache des kleinen Anlegers erzählt er anhand der Geschichte von Gill, einiger der von ihm inspirierten Anleger, wozu ein kleiner GameStop-Verkäufer, eine Krankenschwester und zwei Studentinnen gehören, und der Hedgefonds-Manager Manager, die wegen ihm innerhalb kurzer Zeit viel Geld verlieren.

Die kurzweilig erzählte Schnurre hat nie das satirische oder aufklärerische Potential von Filmen wie „The Big Short“ oder „The Wolf of Wall Street“.

Dumb Money – Schnelles Geld (Dumb Money, USA 2023)

Regie: Craig Gillespie

Drehbuch: Lauren Schuker Blum, Rebecca Angelo

LV: Ben Mezrich: The Antisocial Network, 2021

mit Paul Dano, Pete Davidson, America Ferrara, Vincent D’Onofrio, Sebastian Stan, Shailene Woodley, Dane DeHaan, Seth Rogen, Nick Offerman, Anthony Ramos, Clancy Brown

Länge: 105 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Deutsche Homepage zum Film

Moviepilot über „Dumb Money“

Metacritic über „Dumb Money“

Rotten Tomatoes über „Dumb Money“

Wikipedia über „Dumb Money“ (deutsch, englisch)

History vs. Hollywood checkt die Fakten

Meine Besprechung von Craig Gillespies „Fright Night“ (Fright Night, USA 2011)

Meine Besprechung von Craig Gillespies „I, Tonya“ (I, Tonya, USA 2017)


TV-Tipp für den 2. November: Blade Runner

November 1, 2023

Arte, 22.45

Blade Runner: Final Cut (Blade Runner, USA 1982)

Regie: Ridley Scott

Drehbuch: Hampton Fancher, David Peoples

LV: Philip K. Dick: Do Androids dream of Electric Sheep?; Blade Runner, 1968 (Träumen Roboter von elektrischen Schafen; Blade Runner)

LA, 2019: Rick Deckard soll vier Replikanten finden.

Damals kam er bei der Kritik solala an und im Kino lief er auch nicht so toll. Aber seitdem entwickelte „Blade Runner“ sich zu einem der stilbildenden Science-Fiction-Filme und Lieblingsobjekte von Wissenschaftlern für Interpretationen.

„Der Final Cut“ ist die von Ridley Scott ursprünglich geplante Version, die sich nur in Details von früheren Versionen (Off-Sprecher, Ende, einige Effekte und minimal andere Schnittfolgen) unterscheidet.

Eine zeitgenössische Kritik: „’Blade Runner’ ist ein Film des Dekors (…) Technische Phantasie und die Story, soweit sie erkennbar wird, liegen weit über dem Standard heutiger Science-fiction-Filme. Dennoch ist auch ‘Blade Runner’ ein eher unerfreulicher Film: Er kokettiert nicht nur mit der Gewalt, er schlachtet sie genussvoll aus, menschliche Werte behauptet er nur zu retten, tatsächlich aber versenkt er sie in einem Meer von Zynismus.“ (Fischer Film Almanach 1983)

Ähnlich Ronald M. Hahn/Volker Jansen in „Lexikon des Science Fiction Films“ (1983): „Mehr jedoch als die zum großen Teil unbekannten Schauspieler sind die Trickspezialisten die wahren Stars dieses Films.“

Schon vor Jahren hat sich diese Einschätzung geändert: „Der Film, der auf der Handlungsebene einem eher einfachen und klar strukturierten Muster folgt (…), eröffnet bei genauerer Betrachtung vielschichtige Bedeutungsebenen, die vor allem zahlreiche Reflexionen über die neuzeitliche Realitätsauffassung und den damit verbundenen Humanitätsbegriff zulassen.“ (Fabienne Will in Thomas Koebner, Hrsg.: Filmgenres Science Fiction, 2003)

„Twenty-five years after its first release Blade Runner is still the benchmark film in tech noir or future noir – a bleak fusion of sci-fi and noir.“ (Alexander Ballinger, Danny Graydon: The Rough Guide to Film Noir, 2007)

Mit Harrison Ford, Rutger Hauer, Sean Young, Edward James Olmos, M. Emmet Walsh, Daryl Hannah, Joanna Cassidy

Hinweise

Rotten Tomatoes über „Blade Runner“

Wikipedia über „Blade Runner“ (deutsch, englisch) und das Blade-Runner-Franchise

Schnittberichte: Vergleich Director’s Cut – Final Cut

Meine Besprechung von Ridley Scotts “Prometheus” (Prometheus, USA 2012)

Meine Besprechung von Ridley Scotts “Exodus – Götter und Könige (Exodus – Gods and Kings, USA 2014)

Meine Besprechung von Ridley Scotts „Der Marsianer – Rettet Mark Watney“ (The Martian, USA 2015)

Meine Besprechung von Ridley Scotts „Alien: Covenant“ (Alien: Covenant, USA 2017)

Meine Besprechung von Ridley Scotts „Alles Geld der Welt“ (All the Money in the World, USA 2017)

Meine Besprechung von Ridley Scotts „The Last Duel“ (The Last Duel, USA 2021)

Meine Besprechung von Ridley Scotts „House of Gucci“ (House of Gucci, USA 2021)

Meine Besprechung von Len Wisemans Philip-K.-Dick-Verfilmung „Total Recall“ (Total Recall, USA 2012)

Mein Hinweis auf die Neuauflage der Philip-K.-Dick-Romane „Marsianischer Zeitsturz“, „Ubik“ und „Der dunkle Schirm“

Meine Besprechung von Michael Green/Mike Johnson/Andrés Guinaldos „Blade Runner 2019: Los Angeles“ (Blade Runner 2019 # 1- 4, 2020)

Meine Besprechung von Michael Green/Mike Johnson/Andrés Guinaldos „Blade Runner 2019: Off-World – Jenseits der Erde (Band 2)“ (Blade Runner 2019 # 5 – 8, 2020)

Meine Besprechung von Mike Johnson/Andrés Guinaldos „Blade Runner 2029 – Alte Bekannte (Band 1)“ (Blade Runner 2029 # 1 – 4, 2020/2021)

 


DVD-Kritik: Der vorzügliche Italo-Cop-Thriller „Die letzte Nacht in Mailand“

November 1, 2023

Während einer kleinen Abschiedsfeier im Kreis von Familie und Freunden wird Franco Amore (Pierfrancesco Favino) von seinem Chef angerufen. Aber der Chef gratuliert ihm nicht zu seinem in wenigen Stunden beginnenden Ruhestand. Er schickt ihn zu einem Einsatz. In einer Unterführung gab es einen Schusswechsel und einen Autobrand bei dem mehrere Menschen starben. Auch Amores langjähriger Partner Dino gehört zu den Opfern. Er wurde erschossen.

In dem Moment springt die Geschichte zehn Tage zurück und Andrea Di Stefano erzählt über eine große Strecke des Films, wie es zu dem Massaker gekommen ist. Dabei erfahren wir auch mehr über Franco Amore. Er ist seit 35 Jahre Polizist. Keiner dieser großen filmreifen Kämpfer gegen das Verbrechen, sondern ein kleiner, braver, unauffälliger Staatsdiener. Während seiner Dienstzeit hat er keinen Menschen erschossen und das möchte er nicht ändern. Er ist ein guter Mann mit einigen durchaus dunklen Flecken in seiner Biographie. Denn, soviel kann verraten werden, Amore hat etwas mit dem Massaker zu tun. Jetzt, während seiner letzten Nacht als Polizist, versucht er mit heiler Haut aus dem Schlamassel zu kommen.

Mehr sollte hier nicht über die sich langsam, aus verschiedenen Perspektiven entfaltende Geschichte von „Die letzte Nacht in Mailand“ erzählt werden.

Di Stefanos überaus atmosphärischer Cop-Thriller suhlt sich nämlich in moralischen Grau-Schattierungen. In seinem Thriller ist niemand vollkommen unschuldig und niemand ist vollkommen böse. Er bezieht sich durchgehend und sehr gelungen auf das 70er-Jahre-Thrillerkino mit korrupten Cops, Verbrechersyndikaten und einer allumfassenden Atmosphäre von Misstrauen, Angst und Verrat. Entsprechend paranoid ist die Stimmung. Das Ergebnis ist ein zeitgemäßes Update dieses Kinos. Inszeniert mit Bildern für die große Kinoleinwand. Deshalb ist es schade, dass uns der in Italien an der Kinokasse sehr erfolgreiche Film nicht im Kino präsentiert wird.

Als Bonusmaterial gibt es knapp sechs Minuten Behind-the-Scenes-Material, garniert mit einigen Statements der Schauspieler.

Die letzte Nacht in Mailand (L’ultima notte di Amore, Italien 2023)

Regie: Andrea Di Stefano

Drehbuch: Andrea Di Stefano

mit Pierfrancesco Favino, Linda Caridi, Antonio Gerardi, Francesco Di Leva, Martin Francisco Montero Baez, Katia Mironova, Carlo Gallo, Mauro Negri

DVD

Square One Entertainment

Bild: 2,35:1 (16:9)

Ton: Deutsch, Italienisch (Dolby Digital 5.1)

Untertitel: Deutsch für Hörgeschädigte

Bonusmaterial: Behind the Scenes, Deutscher Trailer

Länge: 126 Minuten

FSK: ab 16 Jahre

Digital ab 26. Oktober, auf DVD und Blu-ray ab dem 3. November erhältlich.

Hinweise

Moviepilot über „Die letzte Nacht in Mailand“

Metacritic über „Die letzte Nacht in Mailand“

Rotten Tomatoes über „Die letzte Nacht in Mailand“

Wikipedia über „Die letzte Nacht in Mailand“ (deutsch, englisch, italienisch)

Berlinale über „Die letzte Nacht in Mailand“

Meine Besprechung von Andrea Di Stefanos „Escobar – Paradise Lost“ (Escobar: Paradise Lost, Frankreich/Spanien/Belgien/Panama 2014)