Arte, 22.10 (VPS 22.09) Hafen im Nebel (Frankreich 1938, Regie: Marcel Carné)
Drehbuch: Jacques Prévert
LV: Pierre Mac Orlan (geboren als Pierre Dumarchais): Quai des brumes, 1938 (Hafen im Nebel)
In Le Havre wartet der Deserteur auf sein Schiff in die Freiheit. Da verliebt er sich in die schöne Nelly, die allerdings auch von einem Gauner und ihrem Vormund begehrt wird.
Ein auch heute noch absolut sehenwerter Filmklassiker, ein Welterfolg des „poetischen Realismus“ und manchmal wird „Hafen im Nebel“ auch in den Noir-Kanon aufgenommen. Ratet mal warum.
Mit Jean Gabin, Michèle Morgan, Michel Simon, Pierre Brasseur Wiederholung: Samstag, 28. Januar, 10.50 Uhr Hinweise Arte über „Hafen im Nebel“ Rotten Tomatoes über „Hafen im Nebel“
Wikipedia über „Hafen im Nebel“ (deutsch,englisch)
Wie in den vergangenen Jahren hat eine 24-köpfige Jury (davon sieben Frauen) aus Krimi-Kritikern, Literaturwissenschaftlern und Krimi-Buchhändlern, den inzwischen 33. Deutschen Krimipreis (kurz DKP) ohne großes Tamtam in zwei Kategorien vergeben:
Wie immer: einen herzlichen Glückwunsch an die vier Gewinner und die zwei Gewinnerinnen.
Wer in den letzten Monaten die KrimiZeit-Bestenliste und die Besprechungen verfolgte, dürfte nicht überrascht sein. Auch wenn einige alte Lieblinge (wie Friedrich Ani, Ken Bruen, James Lee Burke, Joe R. Lansdale, Philip Kerr, Lee Child, Don Winslow [okay, sein letzter neuer Roman war auch nicht preiswürdig] und Horst Eckert [der bei den Krimi-Kritikern eh einen seltsam schweren Stand hat]), trotz neuer Romane, nicht erwähnt werden.
LV: Scott Phillips: The Ice Harvest, 2000 (Alles in einer Nacht)
Heiligabend in Wichita, Kansas: Anwalt Charlie Arglist hat mit seinem Kumpel Vic einen Mafiaboss um zwei Millionen Dollar erleichtert. Bevor er Wichita verlassen kann, muss er noch den Weihnachtsabend überleben. Denn anscheinend wollen die Verwandtschaft, Kleingangster, eine Femme Fatale, ein Killer, sein nicht vertrauenswürdiger Mitverbrecher und der titelgebende Eissturm seinen Plan durchkreuzen.
Hochkarätig besetzte schwarze Komödie, die bei uns leider nur auf DVD veröffentlicht wurde.
Scott Phillips‘ Debütroman war für den Edgar und Hammett Preis nominiert. Das Drehbuch war auch für einen Edgar nominiert.
Mit John Cusack, Billy Bob Thornton, Connie Nielsen, Randy Quaid, Oliver Platt, Ned Bellamy
Seit dem Tod seiner sechsjährigen Tochter durch eine unheilbare Krankheit beschäftigt sich Howard (Will Smith), der Chef einer großen New Yorker Werbefirma, nur noch mit dem Aufbau riesiger Gebilde aus Dominosteinen, die er dann zum Einsturz bringt. Gespräche verweigert er. Einbahnstraßen benutzt er mit seinem Fahrrad in die falsche Richtung. Und dass die Firma durch sein erratisches Verhalten kurz vor dem Konkurs steht, kümmert ihn nicht. Aber seine Kollegen Whit (Edward Norton), Claire (Kate Winslet) und Simon (Michael Peña), die alle auch eigene Probleme haben, schon seit Jahren mit Howard zusammen arbeiten und auch mit ihm befreundet sind, wollen ihm helfen. Wenn sie Howard nicht aus seiner Trauer reißen können, wollen sie wenigstens die Firma retten. Dafür müssten sie ihn für unzurechnungsfähig erklären.
Nachdem sie einige Briefe von Howard abgefangen haben, die er, mangels Glauben an einen Gott, an die Liebe, die Zeit und den Tod geschrieben hat, verfallen Whit, Claire und Simon auf einen gewagten Plan. Sie engagieren, wenige Tage vor Weihnachten, eine Gruppe abgebrannter Schauspieler, die gerade ein Stück an einem Off-Theater (eigentlich Off-Off-Theater mit bedeutungsschwangerem Namen) proben. Brigitte (Helen Mirren), die den Tod spielen soll, Amy (Keira Knightley), die die Liebe spielen soll, und Raffi (Jacob Latimore), der den Tod spielen soll, sind nach einem kurzen Zögern einverstanden. Sie konfrontieren Howard auf offener Straße mit den in seinen Briefen erhobenen Anklagen. Sie sollen ihn aus seiner Lethargie reißen.
Die hochkarätige Besetzung – Will Smith, Edward Norton, Kate Winslet, Keira Knightley, Michael Peña, Helen Mirren (die einige bizarre Akzente setzen kann) und Naomie Harris – kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass „Verborgene Schönheit“ zu den vorweihnachtlichen Erbauungsfilmen gehört, die die Qualität einer schlechten Heiligabendpredigt haben. Entsprechend einfach ist die Moral, entsprechend deutlich sind die während des gesamten Films eingestreuten Anspielungen und Zeichen und entsprechend sauber geht am Ende alles auf. Da gibt es keinen losen Faden mehr und alles wird harmonisch miteinander verknüpft. Ob das dann nicht etwas zu viel des Guten ist, ob damit nicht der gesamte vorherige Film desavouiert wird, ist den Machern egal. Immerhin muss in „Verborgene Schönheit“ mit vielen pseudotiefsinnigen Ratschlägen etwas bewiesen werden. Unter dem Einsatz vieler Taschentücher.
Das wissen auch alle. Die Zuschauer, die sich genau für diesen Film eine Kinokarte kaufen (obwohl sie Zeit und Geld besser in „Manchester by the Sea“ investieren sollten). Die Macher und die erstaunlich engagiert spielenden Schauspieler ebenso. Wobei die Ansammlung von Stars bei diesem Schmalzfilm, der keine Preise gewinnen wird, schon überrascht.
Sie machen das banale Kitschfest ansehbar. Mehr aber auch nicht.
Verborgene Schönheit (Collateral Beauty, USA 2016)
Regie: David Frankel
Drehbuch: Allan Loeb
mit Will Smith, Edward Norton, Kate Winslet, Keira Knightley, Michael Peña, Helen Mirren, Naomie Harris, Jacob Latimore, Ann Dowd
Taxifahrerin Özge Dogruol (Violetta Schurawlow) beobachtet im gegenüberliegenden Haus des Hinterhofes einen bestialischen Mord an einer Prostituierten. Der Mörder hat sie gesehen und wir, als langjährige Krimifans wissen, dass sie ab jetzt in Lebensgefahr schwebt. Der ermittelnde Kommissar Christian Steiner (Tobias Moretti), ein Kieberer wie er im Buch steht, zeigt einen gegen Null tendierenden Arbeitseifer. Viel lieber beleidigt der Chauvi sie mit rassistischen und frauenfeindlichen Sprüchen.
Özge ist auf sich allein gestellt, was eigentlich kein großes Problem ist. Denn die Taxifahrerin kann sich als Thai-Boxerin gut selbst verteidigen. Sie wird uns in den ersten Minuten als die Ösi-Schwester von Chuck Norris präsentiert.
Aber anstatt jetzt den Thrillerplot unerbittlich voranzutreiben, kredenzen Stefan Ruzowitzky und Drehbuchautor Martin Ambrosch („Das finstere Tal“, die TV-Spielfilmserie „Spuren des Bösen“) in „Die Hölle – Inferno“ erst einmal eine mehr als halbgare Sozial-, Milieu- und Familienstudie von Özge, in der alles enthalten ist, was zu einem sozialkritischen Film mit den Themen der Zeit gehört: Ausländerhass, Alltagsrassismus, Kleinkriminalität, Kindesmissbrauch und, später, religiöser Fanatismus. Wir erfahren dann mehr über ihr Leben, als wir jemals wissen wollten. Auch weil es den Plot nicht voranbringt und in einer oberflächlichen Mischung aus „TV-Film der Woche“ und Halbstarken-Milieustudie, immer mit viel Wiener Schmäh und Prolligkeiten, gezeigt wird.
Die Jagd nach dem Mörder, der selbstverständlich ein weltweit mordender Serienmörder mit religiöser Klatsche ist, entwickelt sich dagegen zäh und unglaubwürdig, bis hin zum Einzug von Özge samt der Tochter ihrer von dem Serienmörder ermordeten Schwester (er hielt sie für Özge) bei Kommissar Steiner, der liebevoll seinen dementen Vater (Friedrich von Thun) pflegt. Denn unter der ultraharten Schale des Kommissars ist ein sehr weicher Kern.
Dazwischen gibt es einige Actionszenen, die im Rahmen der Geschichte, nicht besonders glaubwürdig sind. So zieht sich der erste Kampf im Taxi zwischen Özge und dem Mörder ewig hin und die Thai-Boxerin leidet unter einer akuten Schlag- und Selbstverteidigungshemmung. Dabei hat sie vorher beim Probetraining einen nervigen Gegner krankenhausreif geprügelt.
Das Finale bietet zwar an mehreren Orten reichlich Action. Aber es gehorcht einer absurden, zunehmend lächerlichen Stop-and-go-Logik, die nur damit begründet werden kann, dass „Die Hölle – Inferno“ neunzig Minuten dauern muss.
Die Hölle – Inferno (Österreich/Deutschland 2016)
Regie: Stefan Ruzowitzky
Drehbuch: Martin Ambrosch
mit Violetta Schurawlow, Tobias Moretti, Sammy Sheik, Friedrich von Thun, Robert Palfrader, Stefan Pohl, Verena Altenberger, Elif Nisa Uyar, Nursel Köse
One, 23.55 Tatort: Rot – rot – tot (Deutschland 1978, Regie: Theo Mezger)
Drehbuch: Karl Heinz Willschrei
Kommissar Lutz sucht einen Serientäter, der im Stuttgarter Villenviertel Rothaarige erdrosselt. Als Julia Pfandler erdrosselt wird, glaubt Lutz, dass ihr Ehemann Dr. Konrad Pfandler (Curd Jürgens), ein hochintelligenter Versicherungsmathematiker, seine ihn betrügende Frau tötete und auch die anderen Morde begangen hat, um so von seiner Tat abzulenken.
Curd Jürgens, der heute immer noch (und vor allem?) als Bösewicht aus dem James-Bond-Film „Der Spion, der mich liebte“ bekannt ist, spielt auch hier einen Bösewicht mit guten Manieren.
„Rot – rot – tot“ ist ein spannender „Tatort“, der sich, wie damals üblich, auf den Fall, den Täter (der oft bekannt war) und das Motiv konzentriert, während das Privatleben des Kommissars privat bleibt. Dafür gibt es ein schönes Psychoduell zwischen Kommissar und Täter.
„Ehemann tötet Ehefrau aus Eifersucht – das ist die simple Quintessenz der Geschichte, und gerade auf der Grundlage dieser Banalität entfaltet sich die dramaturgische Raffinesse, die diesen ‚Tatort‘, ebenfalls kein Whodunit, (…) sehenswert macht.“ (Hans Krah: Sex & Crime, in Eike Wenzel, Herausgeber: Ermittlungen in Sachen ‚Tatort‘, 2000)
Ach ja, wenn heute mal wieder von „Tatort“-Zuschauerrekorden gesprochen wird. Bei der Erstausstrahlung sahen 26,57 Millionen Zuschauer „Rot – rot – tot“.
mit Werner Schumacher, Frank Strecker, Curd Jürgens, Renate Schroeter, Christian Berkel (dürfte sein Filmdebüt gewesen sein) Hinweise Tatort-Fundus über Kommissar Lutz Wikipedia über „Tatort: Rot – rot – tot“
Mit seinem neuen Film „Personal Shopper“ hat Olivier Assayas seine 2016 in Cannes mit dem Regiepreis ausgezeichnete Version eines Geisterfilms gedreht. Die Hauptrolle übernahm Kristen Stewart, die bereits in seinem vorherigen Film „Die Wolken von Sils Maria“ eine der Hauptrollen hatte. In seinem neuesten Film spielt sie Maureen, ein Medium, das in Paris auf ein Zeichen von ihrem vor drei Monaten verstorbenem Zwillingsbruder Lewis wartet.
Das erste Mal – und Assayas etabliert in diesen ersten Filmminuten die traumwandlerische Stimmung des Films – begegnen wir ihr in der Abenddämmerung. Wir wissen in dem Moment nichts über sie und auch nicht, warum sie die Nacht allein in der großen, etwas abgelegen liegenden, leerstehenden Villa verbringen will.
Am nächsten Tag sagt die Amerikanerin den Kaufinteressenten, dass sie in der Villa eine starke Entität gespürt habe. Ob freundlich oder unfreundlich könne sie noch nicht sagen. Dass ihr Bruder Lewis vorher in dem Haus wohnte und sie in Paris ist, weil sie auf ein Zeichen von ihm wartet, verrät sie nicht.
Tagsüber geistert sie durch die Boutiquen der Stadt. Für Kyra (Nora von Waldstätten), eine ständig herumreisende Prominente mit unklarem Beruf, besorgt sie Kleider, Schuhe und Schmuck. Mit ihr kommuniziert sie fast nur schriftlich. Und als Kyra doch einmal in ihrem Apartment ist, telefoniert sie endlos, während Maureen sich mit Kyras Freund Ingo (Lars Eidinger), einem verheiratetem Journalisten, unterhält und ihm dabei erzählt, warum sie in Paris ist.
Ihren Freund sieht sie nur über Skype. Denn er arbeitet gerade im Nahen Osten an einem Softwareprojekt, dessen Abschluss unklar ist.
Eines Nachts hört Maureen in der Villa Klopfzeichen, die ein Zeichen von ihrem Bruder sein könnten, und sieht einen Geist. Das könnten die erhofften Signale aus dem Jenseits sein.
Aber sie hätte gerne ein deutlicheres Signal von Lewis. Vielleicht sogar ein Gespräch.
Kurz darauf meldet sich auf ihrem Smartphone ein unbekannter Anrufer mit einer Textnachricht. Sie beginnt sich mit dem Geist zu unterhalten, der sie zu Grenzüberschreitungen animiert.
„Personal Shopper“ besticht vor allem durch seine Atmosphäre, die ein ständiges Schweben zwischen Realität und Scheinwelten ist. Entsprechend irrlichternd und tastend entwickelt sich der Film, der Genres, Stile und Stimmungen bruchlos wechselt. Er interresiert sich mehr für Maureen, die auf ein Zeichen wartet, ihre Gefühle und Stimmungen als für eine stringent erzählte Horrorgeschichte. Sowieso ignoriert Assayas die Konventionen des Horrorfilms ziemlich vollständig. Bei ihm gibt es Geister, aber keinen übernatürlichen Horror.
In langen, oft stummen Einstellungen, verfolgt Assayas Kristen Stewart, wenn sie sich durch die Villa, durch Paris, durch Kyras Apartment und einmal nach London bewegt. Auch die teils langen Gespräche mit ihrem Unbekannten Anrufer sind stumm. Wer also (in der OmU-Fassung) nicht lesen kann, ist eindeutig benachteiligt bei diesem sehr europäischen Selbstfindungstrip mit Hinweisen auf Victor Hugo und Hilma af Klint, die im Film erklärt werden.
Personal Shopper (Personal Shopper, Frankreich/Deutschland 2016)
Regie: Olivier Assayas
Drehbuch: Olivier Assayas
mit Kristen Stewart, Lars Eidinger, Sigrid Bouaziz, Anders Danielsen Lie, Nora von Waldstätten, Benjamin Biolay
Seitdem ich den Film gesehen habe, empfehle ich weiter. Dabei erzählt Kenneth Lonergan in seinem dritten Spielfilm – bekannter ist der Theaterautor als Drehbuchautor von „Reine Nervensache“ und „Gangs of New York“ – eine ganz einfache und sehr alltägliche Geschichte.
Lee Chandler (Golden-Globe-Gewinner Casey Affleck) arbeitet als Hausmeisterangestellter in einem Wohnblock in Boston. Er ist ein introvertierter Einzelgänger, der, wenn er in eine Kneipe geht, Ärger sucht. Er lebt in einem 1-Zimmer-Kellerapartment in selbstgewählter Isolation und büßt damit eine Schuld ab, die er vor längerer Zeit in seinem Heimatort Manchester by the Sea auf sich geladen hat.
Da erhält er einen Anruf: sein Bruder Joe (Kyle Chandler) liegt im Krankenhaus.
Als Lee kurz darauf in Manchester by the Sea eintrifft, ist Joe tot und Lee soll sich um Joes sechzehnjährigen Sohn Patrick (Lucas Hedges) kümmern. Joe hat das alles durchgerechnet und in seinem Testament festgelegt.
Lee will nicht. Er will, aufgrund der damaligen Ereignisse, auch nicht länger als unbedingt nötig in Manchester by the Sea bleiben. Er will auch nicht Patricks Vormund werden. Eigentlich will er nur möglichst schnell wieder zurück nach Boston.
In über zwei Stunden erzählt Lonergan langsam, immer wieder von witzigen Szenen unterbrochen, wie Lee mit der ihm aufgebürdeten Verantwortung umgeht. In Rückblenden, die bruchlos in die aktuelle Geschichte eingefügt werden, erfahren wir mehr über Lees Vergangenheit: seiner Beziehung zu seiner Frau Randy (Michelle Williams), zu seinem Bruder, seinem Neffen, den gemeinsamen Ausflügen mit dem Boot, und warum aus dem lebenslustigen jungen Mann ein Einzelgänger wurde.
Das ist eine kleine Geschichte über ganz normale Menschen und Ereignisse, die jedem von uns zustoßen können.
Erst durch Lonergans souveräne Regie, seinem genauen Blick für Details, die in jeder Sekunde vorhandene Wahrhaftigkeit und das feinfühlige Spiel der Schauspieler wird aus „Manchester by the Sea“ ein Meisterwerk, das, wieder einmal, zeigt, was für ein vorzüglicher Schauspieler Casey Affleck ist. Es ist sein Film.
„Manchester by the Sea“ ist einer der ersten Höhepunkt des Kinojahres. Ein Film, den man vielleicht nicht unbedingt zweimal sehen möchte, aber unbedingt einmal sehen muss.
Dass ich mit meiner Meinung nicht allein bin, zeigt nicht nur ein Blick zu Rotten Tomatoes (Frischegrad 96 %), sondern auch auf die Preisliste. Aktuell erhielt „Manchester by the Sea“, laut IMBD, 93 Preise (unter anderem den schon erwähnten Golden Globe) und 195 Nominierungen. Und die Oscar-Nominierungen sind da noch nicht eingerechnet.
Manchester by the Sea (Manchester by the Sea, USA 2016)
Regie: Kenneth Lonergan
Drehbuch: Kenneth Lonergan
mit Casey Affleck, Michelle Williams, Kyle Chandler, Lucas Hedges, Gretchen Mol, C. J. Williams
Erinnert ihr euch noch an „xXx – Triple X“? Das war vor fünfzehn Jahren ein rabaukiger Actionfilm, die Vulgär-Version eines James-Bond-Films mit viel „The Fast and the Furious“-Gefühl, aber ohne das ganze Familien- und Kameradschaftsgedöns. Bei den Actionszenen kam dann, zu Land, zu Wasser, in der Luft und dazwischen, alles zum Einsatz, was das Herz des Actionfans erfreut. Vin Diesel verkörperte den muskelbepackten Helden Xander Cage, genannt „Triple xXx“ wegen seiner xXx-Tätowierung im Nacken, förmlich. Etwaige Bedenken hinsichtlich seiner schauspielerischen Fähigkeiten fegte er mit einem breiten Grinsen weg. Er war xXx. Damals hatte er mit Dominic Toretto in „The Fast and the Furious“ (2001) und dem blinden Weltraumkrieger Riddick in „Pitch Black“ (2000) seinen Durchbruch an der Kinokasse.
Er war ein Star und wollte auch andere Rollen spielen.
Beim zweiten „Fast & Furious“-Film spielte er nicht mit. Inzwischen ist er schon lange wieder zu dem kommerziell sehr einträglichem Actionfranchise zurückgekehrt. Mit Riddick gab es weitere Filme, die kommerziell und künstlerisch nicht besonders überzeugend ausfielen.
Auch beim zweiten „xXx“-Film war er nicht dabei. In dem Actionfilm hieß es, Xander Cage sei bei einem Anschlag gestorben. Ice Cube übernahm als Darius Stone die Rolle des Agenten. Der Film war bei der Kritik und dem Publikum ein Flop. Danach dachte man, dass das geplante Franchise tot sei.
Aus heutiger Perspektive ist der Film als Frühwerk von Drehbuchautor Simon Kinberg und damit als Vorschau auf die heutigen Superheldenfilme interessant. So ist der die Welt bedrohende Feind Teil der US-Administration. Also ein scheinbar Guter, der in Wirklichkeit ein Bösewicht ist. Der Held und seine Organisation sind existentiell bedroht, werden oft auch aufgelöst, und jeder Tod kann ein Täuschungsmanöver sein (vor allem wenn der Tote von einem bekannten Schauspieler gespielt wird). Kinberg war, teilweise als Autor, meist als Produzent, in die „X-Men“-Filme, „Fantastic Four“ und „Deadpool“ involviert.
Jetzt gibt es die höchstens von Vin-Diesel-Fans heiß erwartete Rückkehr des Xander Cage. Denn Vin Diesel, der neben dem „Fast & Furios“-Franchise gerne ein zweites lukratives Standbein hätte, spielt wieder den vulgär-großmäuligen, grundsympathischen Extremsportler, der sich wie ein kleines Kind freut, wenn um ihn herum ein veritables Kindergeburtstagschaos herrscht.
D. J. Caruso („Disturbia“, „Eagle Eye“) übernahm als reiner Regiehandwerker ohne irgendeine erkennbare künstlerische Vision die Aufgabe, den Star in ein möglichst gutes Licht zu setzen. Das wäre okay, wenn nicht gleichzeitig in jeder Szene der Star auf peinlichste Weise gehuldigt würde. Jeder kennt Xander Cage. Jeder mag ihn. Er ist in dem Geheimdienst eine Legende. Jeder will mit ihm zusammen arbeiten. Entsprechend groß und „Fast & Furious“-bunt ist dann das Team, das Xander Cage rekrutiert. Immerhin verzichtet Xander Cage auf die „Wir sind eine Familie“-Ansprachen von Dom Toretto.
Die Story folgt den Pfaden des heute so beliebten superkomplexen und verschachtelten und vor Überraschungen triefendem Actionfilm.
Cage soll „Pandoras Box“ wieder beschaffen. Es handelt sich um eine handliche Festplatte, auf der die Codes sind, mit denen man jeden militärischen Satelliten abstürzen lassen kann. In den falschen Händen kann mit der Festplatte also der nächste Weltkrieg ausgelöst werden. Sie wurde von einer vierköpfigen Gruppe extrem talentierter und extrem unbekannter Kampfsportler geklaut. In einer extrem ambitionierten Aktion aus einem höchst gesichertem Geheimdiensthochhaus.
Mit seinen Jungs und Mädels macht Cage sich im Auftrag von Gibbons-Nachfolgerin Jane Marke (Toni Collette, latent beleidigt aussehend, mit Betofrisur und Betongesicht) auf den Weg um den halben Globus. Das Finale ist dann, wenig exotisch, in den Hinterhöfen und Lagerhallen einer US-Großstadt.
Weil eine solche einfache Geschichte heute anscheinend nicht mehr abendfüllend ist, gibt es in Carusos Film einen Bösewicht hinter dem Bösewicht und Gute, die zu Bösewichtern werden und umgekehrt. Tote tauchen wieder auf (wie der eigentlich tote Xander Cage), Bösewichter, die früher einen großen Abgang hatten, sterben in einer Zehntelsekunde, während das Interesse an der Geschichte rapide sinkt. Denn der Hauptbösewicht hat kein Charisma mehr. Bis er enttarnt wird, kennt ihn niemand. Oder man hält ihn für einen Vertreter der Guten. Jedenfalls ist er nicht bedrohlich und damit auch keine Bedrohung für den Helden und, in diesem Fall, sein Team. Das ist dann kein Bond-Bösewicht mehr („Die Rückkehr des Xander Cage“ will auch keine Bond-Kopie sein) und auch kein Yorgi, der von Anfang an bekannte Bösewicht des ersten „xXx“-Films, sondern nur noch ein Gesicht mit dem Hinweisschild „Böser Bösewicht“.
Dabei geht niemand wegen der Geschichte in einen Actionfilm, der vor allem Action liefern möchte und der dafür halt eine Geschichte braucht, die die Action sinnvoll zusammenhält. Eine solche Geschichte haben die Drehbuchautoren Chad St. John („London has fallen“) und F. Scott Frazier („Collide“) nicht geschrieben.
Die Action ist gewohnt hektisch geschnitten. Man ahnt mehr, wer gerade wie gegen jemand anderes kämpft, als dass man sieht, wie der Kampf abläuft. Rückblickend scheint „xXx: Die Rückkehr des Xander Cage“, wenn wir das Gerede weglassen, nur aus wenigen Faustkämpfen (viele Schnitte) und vielen Schießereien (viel Lärm) zu bestehen. Gerade letzteres ist nicht besonders aufregend. Vor allem wenn die Schießereien in leerstehenden Lagerhallen, dem bevorzugten Handlungsort billiger Actionfilme, spielen.
xXx: Die Rückkehr des Xander Cage (xXx: Return of Xander Cage, USA 2017)
Regie: D. J. Caruso
Drehbuch: Chad St. John, F. Scott Frazier (basierend auf einem von Rich Wilkes erfundenen Charakteren)
mit Vin Diesel, Samuel L. Jackson, Ruby Rose, Nina Dobrev, Rory McCann, Deepika Padukone, Toni Collette, Ice Cube
Michael Clayton ist der Troubleshooter für eine große New Yorker Kanzlei. Als einer ihrer Anwälte ausrastet und damit den Prozess gegen das multinationale Chemieunternehmen U/North gefährdet, ist Clayton gefordert. Doch dieser steckt gerade selbst in einer Midlife-Crises.
Tony Gilroy, der als Autor der actionhaltigen Jason-Bourne-Trilogie bekannt wurde, hat mit seinem Regiedebüt einen Paranoia-Thriller inszeniert, bei dem die Bedrohung nicht mehr vom Staat sondern von der Wirtschaft ausgeht. Trotzdem haben Action-Fans bei „Michael Clayton“ schlechte Karten. Fans des guten, im positiven Sinn altmodischen Schauspielerkinos haben dagegen gute Karten.
Tony Gilroy war als bester Autor und Regisseur für einen Oscar nominiert, George Clooney als bester Darsteller, Tom Wilkinson als bester Nebendarsteller und Tilda Swinton erhielt einen Oscar einen BAFTA-Awards als beste Nebendarstellerin.
Gilroys Buch erhielt auch den Edgar-Allan-Poe-Preis.
Mit George Clooney, Tom Wilkinson, Tilda Swinton, Sydney Pollack, Michael O’Keefe
Als „Puls“ 2006 erschien, war es noch eine etwas seltsame Horrorvision, in der durch ein Signal, das sich über das Mobilfunknetz verbreitet, plötzlich alle mit ihrem Handy Telefonierenden zu einer Art Zombie mutieren.
Inzwischen ist es keine seltsame Horrorvision mehr. Schließlich scheint fast jeder überall immer nur auf sein Telefon zu starren und blind durch die Gegend zu stolpern. Zweifellos würde heute so ein Signal ziemlich schnell die Menschheit ziemlich umfassend töten.
Das geschieht auch in den ersten Minuten der King-Verfilmung „Puls“, für die King mit Adam Alleca das Drehbuch schrieb. Comiczeichner Clay Riddell (John Cusack) kann auf dem Bostoner Flugplatz der Zombiefizierung entkommen, weil sein Telefon im entscheidenden Moment gerade einen niedrigen Akku-Stand hatte und er deshalb auf ein Festnetz-Telefon ausweichen musste.
Innerhalb weniger Sekunden bricht in der Flughafenhalle eine Massenpanik aus, in der die Zombies (ist halt das beste Wort für diese Phoner) in einem blinden Wutrausch alles angreifen, zerfetzen und fressen, was sich ihnen in den Weg stellt. Sie entwickeln auch schnell eine beängstigende Schwarmintelligenz.
Auf seiner Flucht trifft Riddell auf Tom McCourt (Samuel L. Jackson). Gemeinsam machen sie sich mit Alice (Isabelle Fuhrman), die ebenfalls zu ihnen stößt, auf den Weg in die Vorstädte. Riddell möchte seine Frau und seinem Sohn, die er aus offensichtlichen Gründen telefonisch nicht erreichen kann, wieder sehen.
Und was dann geschieht, haben wir in den vergangenen Jahren, spätestens seit „The Walking Dead“, in unzähligen Variationen gesehen. Mal besser, mal schlechter, aber in jedem Fall so oft, dass der Neuigkeitswert von „Puls“ gegen Null tendiert.
Ein weiteres Problem des Films ist das offene Ende, das sich von dem Romanende unterscheidet und vor allem den Eindruck hinterlässt, nur den Auftakt einer größeren Erzählung gesehen zu haben.
Schlecht, vor allem nicht so grottenschlecht, wie man nach manchen Besprechungen befürchten könnte, ist „Puls“ deshalb nicht. Er ist sogar in dem selbst gesteckten, überschaubarem Rahmen ganz unterhaltsam, aber halt auch in keinster Weise bemerkenswert. Vor allem wenn man sich daran erinnert, dass Regisseur Tod Williams mit der grandiosen John-Irving-Verfilmung „The Door in the Floor“ bekannt wurde und man danach gespannt auf seine nächsten Filme wartete. „Puls“ ist da nur ein Film für einen verregneten Sonntagnachmittag. Daran ändern die gewohnt zuverlässigen Hauptdarsteller und die durchaus furchterregenden Zombies mit ihrem Herdentrieb nichts.
Puls (Cell, USA 2016)
Regie: Tod Williams
Drehbuch: Stephen King, Adam Alleca
LV: Stephen King: Cell, 2006 (Puls)
mit John Cusack, Samuel L. Jackson, Isabelle Fuhrmann, Stacy Keach
–
DVD
Concorde Home
Bild: 2,40:1 (16:9)
Ton: Deutsch (DTS, Dolby Digital 5.1, Dolby Digital 2.0), Englisch, (Dolby Digital 5.1)
Untertitel: Deutsch für Hörgeschädigte
Bonusmaterial: Behind the Scenes, Deutscher und Originaltrailer, Wendecover
Yuppie Jack findet das Leben unglaublich öde. Kurzzeitige Kicks verschafft er sich mit dem Besuch von x-beliebigen Selbsthilfegruppen. Da trifft er Tyler Durden, der seinem Leben mit der Idee des „Fight Club“ (in dem Männer sich die Fresse polieren) den nötigen Kick verschafft. Bald nimmt der „Fight Club“ größere Dimensionen an.
Inzwischen: Klassiker, der mich schon damals im Kino verdammt gut gefiel. Naja, das Ende fand ich etwas schwach. Aber die zwei Stunden davor: Wow!
In seinem Roman enthüllt Palahniuk die Pointe früher.
„Handwerklich lässt Fincher keine Wünsche offen: Er hält ein rasantes Tempo, setzt virtuos visuelle Effekte ein und schafft so einen atemberaubenden Alptraum der ausklingenden 90er. Gewiss kann über dieses bemerkenswerte Werk trefflich gestritten werden, doch eines muss ihm jeder attestieren: ‘Fight Club’ ist keine lauwarme Kommerzproduktion, sondern einer der mutigsten, irritierendsten, gleichzeitig aber auch interessantesten Filme der letzten Jahre.“ (W. O. P. Kistner, AZ, 11. November 1999)
Die andere Meinung: „Denn im Grunde ist diese manieristisch heruntergefilmte Möchtegern-Satire von Regisseur David Fincher (‘Sieben’) nicht mehr als grober Unfug: eine große, in die Länge gezogene Luftblase.“ (Albert Baer, Rheinische Post, 12. November 1999)
Mit Brad Pitt, Edward Norton, Helen Bonham Carter, Meat Loaf, Jared Leto, George Maguire
Wiederholung: Freitag, 20. Januar, 03.00 Uhr (Taggenau! Für Menschen, die gerade aus ihrer Selbsthilfegruppe gegen Schlaflosigkeit kommen.)
Präsident Donald Trump (USA 2017, Regie: Michael Kirk)
Drehbuch: Michael Kirk, Mike Wiser
Fünfzigminütige brandaktuelle Doku über den nach aktuellen Umfragen unbeliebtesten US-Präsidenten vor Amtsantritt. Die Mehrheit der abgegebenen Stimmen hat er auch nicht erhalten.
Arte über die Doku (die es bis zum 16. Febuar auch in der Mediathek gibt): „Filmemacher Michael Kirk zeichnet in seinem Porträt „Präsident Donald Trump“ die privaten und beruflichen Momente aus Trumps Leben nach, die bis jetzt keinen Platz in den großen Schlagzeilen fanden. Er beleuchtet Trumps Kindheit in Queens, seine Erfolge und Niederlagen als Geschäftsmann, Casinobesitzer und Reality-TV-Star. Aufzeichnungen aus dem Macht-Duell gegen Clinton enthüllen die Strategien, mit denen der politische Newcomer innerhalb kürzester Zeit die Mehrheit der Wähler für sich gewinnen und seine Rivalin ausstechen konnte.“
Kurz vor dem Beginn einer wichtigen Tagung über Auschwitz stirbt der hochverehrter Professor Norkus (Rolf Hoppe, der fortan als Standbild im Film präsent ist). Sein Lebenswerk ist ein kleines, staatlich gefördertes Institut in Ludwigsburg, das die Tagung organisiert und den Charme einer seit den Fünfzigern nicht mehr gelüfteten, renovierten oder im Inventar erneuerten Beamten-Bruchbude hat. Alle Beschäftigten sind psychisch mehr oder weniger gestört.
Balthasar ‚Balti‘ Thomas (Jan Josef Liefers), ein verheirateter Karrierist, der schon die Tagung plant, soll jetzt auch die Institutsleitung übernehmen, weil er sich gut mit Öffentlichkeitsarbeit auskennt. Er soll das Institut vor dem Ruin retten. Da sind Sponsoren, auch Mercedes-Benz, und Häppchen okay.
Sein Gegner ist Totila ‚Toto‘ Blumen (Lars Eidinger). Er ist ein frustrierter, ständig schlecht gelaunter, ebenfalls verheirateter (wird später wichtig) Vierzigjähriger, für den die Holocaustforschung auch aus familiärer Betroffenheit seine Lebensmittelpunkt darstellt und der nur an der wahren Forschung interessiert ist. Entsprechend energisch und auch handgreiflich wehrt sich gegen die Karnevalisierung seiner Forschung durch einen wissenschaftlich minderwertigen Kollegen, mit dem ihn eine alte Hassliebe verbindet.
Toto soll, beauftragt von Balti, am Flughafen die neue französische Praktikantin abholen. Toto hasst Zazie Lindeau (Adèle Haenel) vom ersten Augenblick an und befördert sie in die Bruchbude, in der Professor Norkus lebte. Später muss er mit ihr, ebenfalls auf Anweisung von Balti, Holocaust-Überlebende besuchen und von ihnen Geld und Auftritte für die Tagung erbetteln. Dummerweise ist Toto dafür absolut ungeeignet.
Aus dieser etwas weit hergeholten und forcierten Prämisse könnte Chris Kraus („Vier Minuten“, „Poll“) eine Komödie über die unterschiedlichen Formen des Umgangs mit unserer Vergangenheit und die Zunft der Holocaust-Historiker entwickeln. Immerhin entstand der Film, so Kraus, aus seiner Beschäftigung mit seiner Familiengeschichte und der Beobachtung, dass in den Archiven über die NS-Zeit Nachfahren von Opfern und Tätern, friedlich nebeneinander sitzend, Akten lesen. Das ist, zugegeben, eine etwas absurde Situation, die aber per se in keinster Weise witzig oder dramatisch ist.
Auf den ersten Blick ist „Die Blumen von gestern“ eine Komödie über unseren Umgang mit der Nazi-Zeit, welche Art des Umgangs angemessen ist und ihren Aus- und Nachwirkungen auf die Gegenwart, vor allem der Nachgeborenen (deren Eltern und, bei den Hauptfiguren des Films, Großeltern in das System involviert waren) und der Forscher, die sich beruflich an Hochschulen und in Instituten damit beschäftigen und berufsbedingt in einer Forschungsblase leben. Das sind nicht die Menschen und die Probleme mit der deutschen Vergangenheit, die in David Wnendts „Er ist wieder da“ oder in Dietrich Brüggemanns „Heil“ (der mir zwar nicht gefiel, aber bei dem die persönliche Betroffenheit des Regisseurs in jedem Bild spürbar war) im Zentrum der Geschichte standen. Beide Filme sind außerdem Komödien.
Wenn man den Film genauer betrachtet, erzählt „Die Blumen von gestern“ eine Liebesgeschichte. Diese schlecht ausgehende Romantic Comedy zwischen Toto und Zazie wird viel zu lange ignoriert und später lustlos mitgeschleppt. Es dauert ewig, bis sich überhaupt irgendetwas außer gegenseitiger Abneigung zwischen ihnen entwickelt. Daher wirkt die Liebesgeschichte nicht wie das Zentrum des Films, um das sich alles andere dreht, sondern wie die späte Erkenntnis, dass ein Film nicht ohne eine Geschichte funktioniert und weil eine Liebesgeschichte immer funktioniert, gibt es eben in der zweiten Hälfte des Films die aus heiterem Himmel kommende Liebesgeschichte zwischen einem Täter-Enkel und einer Opfer-Enkelin, die schon in Frankreich die Werke des Holocaust-Forschers studierte und damit natürlich auch in den Autor verliebt ist. Trotz anerkannter Teutonen-Phobie und gut verborgenem Interesse an dem Objekt ihrer Begierde. Das ist dann doch mehr als nur etwas verquer, taugt aber vielleicht für die nächste erweiterte Familienaufstellung.
Zwischen der teils schwarzhumorigen, oft klamaukigen Komödie über die Holocaust-Forscher und der Liebesgeschichte pendelt „Die Blumen von gestern“ unentschlossen über zwei Stunden. Dabei nerven die in jeder Beziehung vermurksten Figuren mehr als sie zum Lachen anregen. Das liegt auch daran, dass der Film sich nie entscheiden kann, was er will und wen er warum angreift.
Dabei kann über die Nazi-Diktatur, den Holocaust und die Holocaust-Forschung durchaus in der Form einer Komödie erzählt werden. Charlie Chaplin mit „Der große Diktator“, Mel Brooks mit „Frühling für Hitler“ und Roberto Benigni mit „Ist das Leben nicht schön“ (den Film nennt Kraus im Presseheft als filmisches Vorbild für seinen Film) zeigen das.
Die Blumen von gestern (Deutschland/Österreich 2016)
Regie: Chris Kraus
Drehbuch: Chris Kraus
mit Lars Eidinger, Adèle Haenel, Jan Josef Liefers, Hannah Herzsprung, Sigrid Marquardt, Bibiana Zeller, Rolf Hoppe, Eva Löbau, Cornelius Schwalm
Länge: 126 Minuten
FSK: ab 12 Jahre
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Das Buch zum Film
Zum Filmstart erschien bei Diogenes „Die Blumen von gestern – Ein Filmbuch“. Es enthält das Shooting Script vom 12. April 2015 (d. h. Szenen, die gedreht, aber nicht im Film enthalten sind, sind im Script vorhanden), den kompletten Abspann, ein dreiseitiges Nachwort von Chris Kraus und einen sechzehnseitigen, farbigen Bildteil.
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Chris Kraus: Die Blumen von gestern – Ein Filmbuch
Die zwei Gesichter des Januars (The two Faces of January, Großbritannien/USA/Frankreich 2014)
Regie: Hossein Amini
Drehbuch: Hossein Amini
LV: Patricia Highsmith: The two Faces of January, 1964 (Unfall auf Kreta, Die zwei Gesichter des Januars)
Athen, 1962: Der kleine Betrüger Rydal (Oscar Isaac) schlägt sich als Fremdenführer durch, trifft das amerikanische Ehepaar Chester MacFarland (Viggo Mortensen) und Colette (Kirsten Dunst) und wird in einem Mordfall verwickelt. Denn auch Chester ist in betrügerische Geschäfte verwickelt.
Die TV-Premiere der sehr stilbewussten Highsmith-Verfilmung erfolgt arg spät. Sehenswert ist der Krimi trotzdem.
Tote tragen keine Karos (USA 1982, Regie: Carl Reiner)
Drehbuch: Carl Reiner, George Gipe, Steve Martin
Herrliche Hommage an die Schwarze Serie: bei seinem neuesten Fall stolpert Detektiv Rigby durch zahlreiche Klassiker der Schwarzen Serie, unter anderem „This Gun for hire“, „Double Indemnity“, „The lost weekend“, „The big sleep“, „In a lonely place“, „Dark passage“, Suspicion“, „Notorious“, „The postman always rings twice“ und „White heat“. Carl Reiner verband neu gedrehte Szenen mit Szenen aus den Filmklassikern zu einer liebevollen Komödie für Filmfans.
Mit Steve Martin, Rachel Ward, Carl Reiner – und zahlreichen Gastauftritten von Stars der Schwarzen Serie
James Bowen (Luke Treadaway) schlägt sich in London als Straßenmusiker mehr schlecht als recht durch und kämpft mehr oder weniger erfolglos mit seiner Drogensucht. Seine erfolgreiche Teilnahme an einem Methadonprogramm ist daher ständig gefährdet. Als letzte Chance erhält der Obdachlose von seiner Betreuerin Val (Joanne Frogatt) eine kleine Sozialwohnung in Hackney, die kaum mehr als ein Dach über dem Kopf ist.
Eines Abends entdeckt er einen unangemeldeten Besucher: eine Katze, die sich verletzt hat. Er pflegt sie, bezahlt sogar die Arztrechnung für sie und will sie möglichst schnell wieder los werden. Immerhin kriegt er noch nicht einmal sein eigenes Leben auf die Reihe. Wie soll er da für jemand anderes sorgen?
Aber Bob – so nennt er die Katze – weicht ihm nicht von der Seite – und wer in den vergangenen Jahren zu den Millionen Lesern von James Bowens „Bob, der Streuner“ gehört, kennt auch die weitere Geschichte.
Wer das Buch nicht kennt, dürfte ebenfalls wenig überrascht von der gut ausgehenden Geschichte sein. Denn dank Bob bekommt James, wie schon der Werbespruch des Films „Manchmal braucht es neun Leben um eines zu retten“ verrät, sein Leben auf die Reihe. Heute tourt er mit Bob durch die Welt, erzählt von seinem Leben, macht auf die Probleme von Obdachlosen aufmerksam und versucht ihnen zu helfen.
Regisseur Roger Spottiswoode hat in der Vergangenheit mit Rettungsmissionen von der globalen Sorte („James Bond – Der Morgen stirbt nie“) und Menschen helfenden Tieren, wie einem Hund im ungeplanten Polizeieinsatz („Scott & Huutsch“) schon Erfahrungen gesammelt. Jetzt verfilmte er vor Ort in London, mit zahlreichen Außendrehs (20 der 35 Drehtage), die Geschichte von James Bowen und seiner Katze Bob als zu Herzen gehendes Feelgood-Movie mit realistischen Untertönen, die den der Geschichte innewohnenden Kitschfaktor auf ein erträgliches Maß zurechtstutzen.
„Bob, der Streuner“ erzählt in einfachen Bildern eine kleine Geschichte von zwei verlorenen Seelen, die sich finden und ihr Leben zum Besseren wenden.
Ach ja: die Filmkater wird von Bob höchstpersönlich gespielt.
Bob, der Streuner (A Street Cat named Bob, Großbritannien 2016)
Regie: Roger Spottiswoode
Drehbuch: Tim John, Maria Nation
LV: James Bowen/Garry Jenkins: A Street Cat named Bob, 2012 (Bob, der Streuner)
mit Luke Treadaway, Ruta Gedmintas, Joanne Froggatt, Anthony Head, Beth Goddard, Darren Evans, Caroline Goodall, James Bowen (Cameo)
Länge: 103 Minuten
FSK: ab 12 Jahre (wegen Bowens Umfeld und seiner Drogensucht, inklusive einem Entzug)
Es beginnt mit einem Banküberfall in West-Texas und ehe die Polizei auftaucht, haben Toby Howard (Chris Pine) und sein gerade aus dem Knast entlassener, impulsiver Bruder Tanner (Ben Foster) schon die nächste Bank überfallen. Texas Ranger Marcus Hamilton (Jeff Bridges) und sein Partner Alberto Parker (Gil Birmingham) vermuten schnell, dass die Bankräuber es auf die Filialen einer bestimmten Banken abgesehen, einen Grund dafür und ein Ziel haben. Die Howards überfallen nämlich Filialen der Texas Midlands Bank und, wie wir etwas später erfahren, hat diese Bank ihrer Mutter einen kleinen Kredit auf das Grundstück gegeben und die Howards, während ihre Mutter im Sterben lag, immer weiter in eine Verschuldungsspirale getrieben hat. Jetzt will die Bank das Grundstück, auf dem Öl gefunden wurde, haben.
Mit den Banküberfällen wollen die Howard-Brüder genug Geld erbeuten, um ihre Schulden zu bezahlen.
David Mackenzie („Young Adam“, „Hallam Foe“) inszenierte nach einem Drehbuch von „Sicario“-Autor Taylor Sheridan, mit der Musik von Nick Cave und Warren Ellis (was schon eine Empfehlung an sich ist), einen schnörkellosen Neo-Western, der gleichzeitig ein Porträt des ländlichen Texas ist. Die weit auseinanderliegenden Städte sind klein, vom Verfall geprägt und immer wieder tauchen am Straßenrand oft schon ältere Schilder von Banken auf, die etwas verkaufen wollen. Schnell entsteht das bedrückende Bild eines ökonomisch darnieder liegenden Landes.
Es ist auch ein Land, in dem zu viele Leute zu viele Waffen haben. So müssen die beiden Bankräuber schon während ihres zweiten Banküberfalls vor einem schießwütigem Bankkunden weglaufen. Später hat auch Texas Ranger Hamilton immer wieder Probleme mit schießgeneigten Texanern. Denn natürlich hat jeder Texaner mindestens eine Waffe in seinem Auto liegen. Oft auch zwei, drei oder noch mehr, die er auch gerne und ohne erkennbare Gewissenskonflikte gegen Menschen einsetzt.
Der Schotte Mackenzies hat bei seinem Neo-Western immer auch einen europäischen Blick auf die USA. Er sieht Dinge, die einem US-Amerikaner nicht auffallen, weil er sie für selbstverständlich hält. Er hat, das ist in jedem Bild spürbar, eine große Liebe und Faszination für den Western und den Gangsterfilm. Er badet, auch dank der Musik der Australier Cave und Ellis, förmlich im Americana-Feeling. Allerdings ohne Verklärungen u d mit dem skeptisch-staunendem Blick eines Außenseiters. Die Bilder der dünn besiedelten Landschaft, der Sonnenauf- und -untergänge, der Häuser, der Diner, die in Texas noch die Patina der fünfziger Jahre verströmen (McDonalds kam nie dorthin, weil er dort keine Geschäfte hätte machen können) und der Menschen, die alle nicht wie die typischen Hollywood-Schauspieler aussehen. In der Originalfassung suhlen sie förmlich im texanischen Dialekt, der kaum verständlich ist und auch Kenner der englischen Sprache nach Untertiteln rufen lässt.
Mackenzie ist, trotz einiger Längen, ein feiner Film gelungen, der auf jegliche aufgesetzte Sozialkritik verzichtet. Die Längen des Neo-Westerns liegen an der seit Ewigkeiten bekannten Geschichte von Bankräubern, die sich gegen die Banken und ihre Macht auflehnen, und Gesetzeshütern, die sie gnadenlos verfolgen, und Taylor Sheridans Konzentration auf wenige Charaktere, über die wir wenig mehr erfahren, als ihre aktuellen Taten. Letztendlich kämpfen zwei Polizisten gegen zwei Bankräuber, die sich während der Filmgeschichte eigentlich nicht begegnen. Diese für Filme prinzipiell schwierige Erzählkonstruktion kennen wir aus Michael Manns Gangsterfilmklassiker „Heat“ und auch in „High or High Water“ funktioniert sie vorzüglich.
Alles in „Hell or High Water“ ist Handlung, die sich ohne eine einzig Rückblende oder lange Erklär-Dialoge chronologisch und ohne Umwege bis hin zu seinem durchaus positiven, aber moralisch zwiespältigem Ende bewegt. Damit besteht „Hell or High Water“ zwar nicht den 100-%-Noir-Test, aber niemand würde das düstere Drama für einen Feelgood-Film oder einen 08/15-Actionfilm halten.
Hell or High Water (Hell or High Water, USA 2016)
Regie: David Mackenzie
Drehbuch: Taylor Sheridan
mit Chris Pine, Ben Foster, Jeff Bridges, Gil Birmingham, Marin Ireland, Katy Mixon, Dale Dickey