Neu im Kino/Filmkritik: Über Maryam Touzanis „Adam“

Dezember 10, 2021

Weil ihre achtjährige Tochter Warda sie darum bittet, lässt Abla Samia für eine Nacht bei ihnen übernachten. Samia kommt aus einem Dorf und ist hochschwanger. In Casablanca versucht sie, unbehelligt von ihrer Familie, die von ihrer Schwangerschaft nichts weiß und nichts erfahren soll, die Zeit bis zur Geburt zu verbringen. Danach will sie ihr Kind weggeben und wieder in ihr altes Leben zurückkehren.

Natürlich bleibt es nicht bei dieser einen Nacht. Die alleinerziehende, verwitwete Abla gewährt ihrem Gast immer wieder einen Aufschub. Sie tut das widerwillig, aber sie sieht auch Samias Not, die sonst auf der Straße übernachten müsste. Und Samia versucht sich im Haus nützlich zu machen. So stellt sie Teig für Gebäck her, das Abla in ihrer kleinen Bäckerei verkaufen kann.

Ablas Kunden sind begeistert von dem gut schmeckendem Gebäck.

Maryam Touzani erzählt in ihrem Debütfilm „Adam“ sehr feinfühlig, wie sich in einem Haus in Casablanca die Beziehung zwischen den drei Frauen entwickelt. Und wie sie sich verändern. Gleichzeitig zeichnet sie ein Bild der marokkanischen Gesellschaft, der Traditionen und der Stellung der Frau in ihr.

Touzanis Inspiration für den Film war ein wahres Erlebnis. Ihre Eltern hatten vor Jahren eine schwangere Frau, die sie nicht kannten, bei sich aufgenommen. Sie blieb bis nach der Geburt ihres Kindes. Diese Frau war das Vorbild für Samia.

Adam“ ist ein kleiner, ein intimer Film, der dann doch von der ganzen Welt erzählt.

Adam (Adam, Marokko/Frankreich 2019)

Regie: Maryam Touzani

Drehbuch: Maryam Touzani, Nabil Ayouch (Mitarbeit)

mit Lubna Azabal, Nisrin Erradi, Douae Belkhaouda, Aziz Hattab, Hasnaa Tamtaoui

Länge: 101 Minuten

FSK: ab 6 Jahre

Hinweise

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Moviepilot über „Adam“

Metacritic über „Adam“

Rotten Tomatoes über „Adam“

Wikipedia über „Adam“ (deutsch, englisch, französisch)


TV-Tipp für den 10. Dezember: Das Haus

Dezember 9, 2021

Arte, 20.15

Das Haus (Deutschland 2021)

Regie: Rick Ostermann

Buch: Rick Ostermann, Patrick Brunken

LV: Dirk Kurbjuweit: Das Haus, 2019 (in „2029 – Geschichten von Morgen“)

Deutschland, 2029: Enthüllungsjournalist Johann und seine Frau Lucia begeben sich für einige Tage in ihr malerisch abgelegen auf einer Insel gelegenes vollautomatisches Ferienhaus. Johann Hellström steht vor der Frage, wie er nach einer Rufmordkampagne weiter arbeiten kann. Und das Haus scheint ein Eigenleben zu entwickeln.

TV-Premiere, zwei Monate nach dem Kinostart. Gut aussehender, weit unter seinen Möglichkeiten bleibender Thriller.

Mehr in meiner ausführlichen Besprechung.

mit Tobias Moretti, Valery Tscheplanowa, Lisa Vicari, Max von der Groeben, Hans-Jochen Wagner, Samir Fuchs, Daniel Krauss, Alexander Wipprecht

Wiederholungen

Mittwoch, 15. Dezember, ARD, 20.15 Uhr

Donnerstag, 16. Dezember, ARD, 01.10 Uhr (Taggenau!)

Hinweise

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Filmportal über „Das Haus“

Moviepilot über „Das Haus“

Wikipedia über „Das Haus“

Meine Besprechung von Rick Ostermanns „Wolfskinder“ (Deutschland 2013)

Meine Besprechung von Rick Ostermanns „Das Haus“ (Deutschland 2021)


Neu im Kino/Filmkritik: Der Rachethriller „Plan A – Was würdest du tun?“

Dezember 9, 2021

Der Zweite Weltkrieg ist vorbei. Aber für Max ist eine Rückkehr in sein altes Leben nicht möglich. Er war im Konzentrationslager Auschwitz. Seine Familie ist verschollen. Auf seinem Hof wohnt jetzt ein Deutscher, der ihn mit einem Gewehr bedroht. Orientierungslos läuft er durch den Wald und trifft auf die jüdische Brigade der britischen Armee. Als er erfährt, dass sie gezielt Deutsche töten, die wichtige Positionen in der Hierarchie des Nationalsozialismus hatten oder das System aktiv unterstüzten, schließt er sich ihnen an. Kurz darauf treffen sie auf die Nakam. Diese sind eine ebenfalls jüdische Rächertruppe. Aber sie ist skrupelloser. Für sie war jeder Deutsche an der Vernichtung der Juden beteiligt. Deshalb ist er schuldig und kann getötet werden.

Nach dem alttestamentarischem Auge-um-Auge-Prinzip wollen sie jetzt die gesamte Bevölkerung von Nürnberg, Köln, München, Berlin und Hamburg vergiften. Max schließt sich ihnen an. Gemeinsam gehen sie nach Nürnberg.

Was jetzt wie eine billige Kolportage und Rachefantasie nach zu vielen Quentin-Tarantino-Filmen (der in seinen letzten Filmen ja skrupellos die Geschichte umschreibt) klingt, ist eine wahre Geschichte, die bis vor kurzem kaum bekannt war. Die Mitglieder der Nürnberger Gruppe um Abba Kovner, einem damals 27-jährigem Dichter und Widerstandskämpfer, schwiegen bis vor kurzem. Für das Archiv der Gedenkstätte Yad Vashem erzählten sie ihre Geschichte und Dina Porat, die Chef-Historikerin der Gedenkstätte, veröffentlichte 2019 das Buch „ „Die Rache ist Mein allein“ – Vergeltung für die Schoa: Abba Kovners Organisation Nakam“ darüber. Sie war auch als Beraterin für „Plan A – Was würdest du tun?“ tätig.

Die Brüder Doron und Yoav Paz („Phobidilia“, „JeruZalem“, „The Golem“) verfilmten diese Rachegeschichte als moralische Fragen stellendes Drama. Während die Terroristen sich langsam ihrem Ziel nähern, erzählen sie sich von ihren Erlebnissen im Krieg, warum sie sich an dem Anschlag beteiligen wollen und ob eine solche Tat gerechtfertigt ist. Doron und Yoav Paz bietet dabei alle gängigen Argumente für und gegen die Tat an. Das geschieht manchmal etwas didaktisch und monologlastig.

Eine richtige pulstreibende Thrillerspannung will nicht aufkommen und ist von den Paz-Brüdern auch nicht gewollt. Es fehlt einfach der ‚Wettlauf gegen die Zeit‘ und ein Gegner, der ihren Plan gefährden könnte. Stattdessen verfolgen wir auf welche Schwierigkeiten, die im Untergrund operierende Nakam-Gruppe bei der Ausführung ihres Planes stößt. So muss sie, ohne entdeckt zu werden, in die Kanalisation gelangen, in ihr den richtigen Ort für ihre Tat finden und das Gift besorgen.

Somit ist „Plan A“ primär ein filmisch konventionell erzählter, durchaus zum Nachdenken anregender Diskurs über die verschiedenen Formen von Rache und Vergeltung, im Gewand einer Thriller-Geschichte.

Plan A – Was würdest du tun? (Deutschland/Israel/USA 2021)

Regie: Yoav Paz, Doron Paz

Drehbuch: Yoav Paz, Doron Paz

mit August Diehl, Sylvia Hoeks, Michael Aloni, Ishai Golan, Oz Zehavi, Yoel Rozenker, Nikolai Kinski, Milton Welsh, Michael Brandner, Kai Ivo Baulitz

Länge: 110 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

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Filmportal über „Plan A“

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Rotten Tomatoes über „Plan A“

Wikipedia über „Plan A“ (deutsch, englisch)


Neu im Kino/Filmkritik: Über Steven Spielbergs „West Side Story“

Dezember 9, 2021

Sechzig Jahre nach der Premiere des von Robert Wises und Jerome Robbins‘ inszeniertem Musical-Klassiker „West Side Story“ kann es selbstverständlich eine neue Filminterpretation des Stückes geben. Wise und Robbins verfilmten ein damals unglaublich erfolgreiches, heute immer noch sehr beliebtes Broadway-Musical. Und warum soll es von solchen Theaterstücken nicht neue Versionen geben? Schließlich gibt es unzählige Shakespeare-Verfilmungen. Opern werden jedes Jahr auf zahlreichen Bühnen neu aufgeführt oder auch, viel seltener, verfilmt. Mal näher am Ursprungstext, mal freier.

Die „West Side Story“ von Arthur Laurents (Buch), Jerome Robbins (Choreographie), Leonard Bernstein (Musik) und Stephen Sondheim (Texte, wenige Tage vor dem Filmstart, am 26. November 2021, verstorben) gehört inzwischen zu den kanonischen und allgemein bekannten Texten, der genau deswegen neu inszeniert und interpretiert werden kann.

Steven Spielbergs entschied sich in seiner Verfilmung der „West Side Story“ für die möglichst originalgetreue Variante. Hier und da gibt es einige kleine Änderungen, einige minimale Erneuerungen und Akzentverschiebungen. Aber letztendlich wirkt seine Bearbeitung wie die Frage, ob einem jetzt die Mozart-Interpretation von Herbert von Karajan oder von Daniel Barenboim besser gefällt. Während der Experte begeistert minimale Unterschiede erklärt, fragt sich der Nicht-Experte gelangweilt, wo denn jetzt genau die wirklich wichtigen Unterschiede sind. Und wenn ihm schon in der einen Fassung das Stück nicht gefiel, wird die minimal andere Fassung ihn nicht zu einer Revision seiner Meinung bewegen.

Immer noch verlieben sich Tony (Ansel Elgort) und Maria (Cindy Tolan) ineinander. Sie ist die kleine Schwester von Bernardo, dem Anführer der Sharks, einer puerto-ricanischen Jugendgang. Tony gehört zu den aus Nachkommen europäischer Einwanderer bestehenden Jets. Nach einer Haftstrafe versucht er jetzt ein von Gewalt und Kleinkriminalität freies Leben zu führen. Deshalb ruht seine Mitgliedschaft.

Die beiden proletarischen Jugendbanden sind miteinander verfeindet. Sie kämpfen um die Vorherrschaft im Viertel. Sie gehören zur gleichen ökonomischen Klasse. Aber anstatt gemeinsam für eine Verbesserung ihrer Lage zu kämpfen, bekämpfen sie sich gegenseitig. Vor allem die weiße Jugendbande ist, wie ein Polizist ihnen sagt, der Abschaum, der den Aufstieg aus dem Viertel nicht geschafft hat. Insgesamt zeichnet Spielberg die Jets eindeutig negativer als Wise/Robbins. Sie sind Angst und Schrecken verbreitende Kleingangster.

Die Inspiration für die „West Side Story“ war „Romeo und Julia“. Die Liebesgeschichte wurde in die damalige Gegenwart, nämlich den Sommer 1957 in der Upper West Side und den anliegenden Kiezen Lincoln Square und San Juan Hill verlegt. Es wurden aktuelle Probleme angesprochen. Das waren (und sind) die Konflikte zwischen ethnischen Gruppen, Einheimischen und Zuwanderern, sich zu Jugendgangs zusammenschließende Jugendliche und das US-amerikanische Aufstiegsversprechen. Das alles spielt sich vor einem massiven Umbau des Viertels und einer damit verbundenen Gentrifizierung ab. Denn die Straßen, um die Jets und Sharks kämpfen, waren damals Teil einer umfassenden Stadterneuerung in New York. Deshalb bewegen sich beide Gruppen durch riesige, äußerst fotogene Ruinenfelder.

Dieses Verarbeiten aktueller Themen in einem Musical war damals noch neu. Die „West Side Story“ spielt nicht in einer Fantasielandschaft. Die Macher versuchten nicht, die Wirklichkeit möglichst umfassend aus dem Film zu tilgen, sondern sie brachten möglichst viel Realität in das Musical. In seinem Remake akzentuiert Spielberg, nach einem Drehbuch von Tony Kushner („Angels in America“, „München“, „Lincoln“), diese Konflikte schärfer.

Ansonsten verändert er einige Schauplätze, Choreographien und lässt den Drogisten Doc jetzt von einer Frau spielen. Rita Moreno übernahm diese wichtige Rolle. In der Originalversion spielte sie Anita.

Insgesamt ist Spielbergs „West Side Story“ eine äußerst werkgetreue und gelungene Neuinterpretation; – jedenfalls für Musical-Fans, die sich auf die epische Laufzeit von 157 Minuten freuen. Das Original ist mit 151 Minuten etwas kürzer.

West Side Story (West Side Story, USA 2021)

Regie: Steven Spielberg

Drehbuch: Tony Kushner

LV: Arthur Laurents, Leonard Bernstein, Stephen Sondheim, Jerome Robbin: West Side Story, 1957

mit Rachel Zegler, Ansel Elgort, Ariana DeBose, David Alvarez, Mike Faist, Brian d’Arcy James, Iris Menas, Corey Stoll, Josh Andrés Rivera, Rita Moreno

Länge: 157 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

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Metacritic über „West Side Story“

Rotten Tomatoes über „West Side Story“

Wikipedia über „West Side Story“ (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von Steven Spielbergs “Indiana Jones und das Königreich des Kristallschädels” (Indiana Jones and the kingdom of the skull, USA 2008)

Meine Besprechung von Steven Spielbergs “Gefährten” (War Horse, USA 2011)

Meine Besprechung von Steven Spielbergs “Lincoln” (Lincoln, USA 2012)

Meine Besprechung von Steven Spielbergs „Bridge of Spies – Der Unterhändler“ (Bridge of Spies, USA 2015)

Meine Besprechung von Steven Spielbergs „BFG – Big Friendly Giant (The BFG, USA 2016)

Meine Besprechung von Steven Spielbergs „Die Verlegerin“ (The Post, USA 2017)

Meine Besprechung von Steven Spielbergs „Ready Player One“ (Ready Player One, USA 2018)

Steven Spielberg in der Kriminalakte


TV-Tipp für den 9. Dezember: Der Schrei

Dezember 8, 2021

RBB, 23.45

Der Schrei (Il grido, Italien/USA 1957)

Regie: Michelangelo Antonioni

Drehbuch: Michelangelo Antonioni, Elio Bartolini, Ennio De Concini

Nachdem seine Geliebte ihn verlässt, beginnt Aldo sich durch die Po-Ebene treiben zu lassen.

Mit diesem Drama fand Antonioni endgültig seinen Stil. Danach drehte er „Die mit der Liebe spielen“ (L’avventura), „Die Nacht“, „Liebe 1962“, „Die rote Wüste“, „Blow up“, „Zabriskie Point“ und „Beruf: Reporter“.

Mit Steve Cochran, Alida Valli, Betsy Blair, Gabriella Palotta, Dorian Gray

Hinweise

Rotten Tomatoes über „Der Schrei“

Wikipedia über „Der Schrei“ (deutsch, englisch)


Hari Kunzru nimmt am Wannsee die „Red Pill“

Dezember 8, 2021

Der wenig verdienende US-Schriftsteller kann sein Glück kaum fassen. Das Deuter-Zentrum gewährt ihm ein dreimonatiges Stipendium. Er hat zwar von dieser Stiftung noch nichts gehört, aber die Bedingungen sind gut: es gibt Geld, er hat Zeit für seine Arbeit und er hat einen Arbeitsplatz in deren Villa in Berlin am Wannsee. Die notwendigen Arrangements mit seiner Frau Rei sind schnell erledigt. Sie arbeitet als Anwältin in einer Organisation für Einwanderung und bürgerliche Freiheiten und sie verdient in der Familie das meiste Geld. Gemeinsam hat das in Brooklyn lebende Paar eine dreijährige Tochter. Mit dem Geld, das er als Stipendiat erhält, kann auch in New York ein Babysitter, der seine Aufgaben übernimmt, bezahlt werden. Das Thema für seine Arbeit ist auch schnell gefunden. Es geht um die Konstruktion des Ich in der Lyrik.

Als er am Wannsee eintrifft, ist er von der großen Residenz des Deuter-Zentrums beeindruckt. Aber für ihn gibt es bei den vom Zentrum vorgeschriebenen Arbeitsbedingungen einige Probleme. Er ist daran gewohnt, allein in seinem stillen Kämmerlein zu arbeiten. Hier muss er in einem großen Raum zusammen mit den anderen Stipendiaten arbeiten. Wir können uns das wie die Arbeit in einer Universtitätsbibliothek vorstellen. Und er soll am Gesellschaftsprogramm, also den gemeinsamen Mahlzeiten und Gesprächen, teilnehmen. Auch das gefällt ihm nicht. Er zieht sich in sein Schlafzimmer zurück, sieht die brutale TV-Polizeiserie „Blue Lives“, verfällt ihr immer mehr, entdeckt ungeahnte Metaebenen in ihr und lernt, auf der Berlinale, den Erfinder der Serie, Gary ‚Anton‘ Bridgeman, kennen. Er verfällt dem Charme dieses geheimnisvollen Mannes.

Und was dann zu einer Zauberlehrlingsgeschichte oder einer Erkundung rechter, faschistoider Umtriebe werden könnte, zersplittert in vier weitgehend unabhängige Kapitel, die letztendlich die Geschichte eines Nervenzusammenbruchs erzählen. Das individualisiert und trivialisiert die real existierende Bedrohung von Rechts zum Wahngebilde eines psychisch kranken Mannes.

Diese Entwicklung, die ja durchaus eine spannende Lektüre ergeben könnte, erfolgt immer wieder in großen Sprüngen. Im ersten Kapitel ist der Literat fast nur im Deuter-Zentrum. Das zweite Kapitel besteht aus Monikas Geschichte. Sie ist Zimmermädchen im Deuter-Zentrum und schon etwas älter. Sie erzählt von ihrer Vergangenheit als Punk-Musikerin in der DDR und wie sie von der Stasi beobachtet wurden. Mit der restlichen Geschichte hat dieser Rückblick in die DDR nichts zu tun. Im dritten Kapitel lernt der Schriftsteller Gary Bridgeman kennen und verfolgt ihn, weil er ihn ihm den Heiland sieht, durch halb Europa. Im abschließenden vierten Kapitel ist er wieder zurück im Kreis seiner Familie und es wird erklärt, wie er von Europa wieder zurück nach Brooklyn gekommen ist.

Das hat durchaus seine morbiden und faszinierenden Momente, aber insgesamt ist „Red Pill“ ein enttäuschendes Werk.

P. S.: Natürlich ist der Titel „Red Pill“ eine Anspielungen auf den Film „Matrix“. Aber so eine offensichtiche Anspielung muss ja nicht mehr erklärt werden.

Hari Kunzru: Red Pill

(übersetzt von Werner Löcher-Lawrence)

Liebeskind, 2021

352 Seiten

22 Euro

Originalausgabe

Red Pill

Alfred A. Knopf, New York, 2020

Simon & Schuster, London, 2020

Hinweise

Homepage von Hari Kunzru

Wikipedia über Hari Kunzru (deutsch, englisch)

Perlentaucher über „Red Pill“

Bookmarks über „Red Pill“


„Filmstars: Die 30 größten Ikonen der Kinogeschichte“ kommen vor allem aus Hollywood

Dezember 8, 2021

Im Vorwort schreibt Cinema-Chefredakteur Philipp Schulze, dass Filmfans einige Namen, wie Tom Hanks, vermissen werden und er kündigt, durch die Blume, schon einen zweiten Band an. Konzentrieren wir uns also nicht darauf, wer fehlt, sondern wer in „Filmstars: Die 30 größten Ikonen der Kinogeschichte“ vorgestellt wird.

Es sind die Hollywood-Stars James Dean, Elizabeth Taylor, James Stewart, Charlie Chaplin, Grace Kelly, Marlon Brando, Clark Gable, Jack Nicholson, Steve McQueen, Humphrey Bogart, Audrey Hepburn, Burt Lancaster, Cary Grant, Clint Eastwood, Robert Redford, Marilyn Monroe, Paul Newman, Katharine Hepburn, Kirk Douglas, Rock Hudson, Sidney Poitier, Orson Welles, Ava Gardner, Richard Burton (aus Wales nach Hollywood), Ingrid Bergman und Marlene Dietrich (beide aus Europa kommend in Hollywood erfolgreich) und Sean Connery, der als erster James-Bond-Darsteller eine Sonderstellung hat. Nur Romy Schneider, Brigitte Bardot und Catherine Deneuve sind rein europäische Filmstars, die um Hollywood immer einen großen Bogen gemacht haben.

Letztendlich werden hier vor allem altbekannte Hollywood-Stars porträtiert. Sie sind oft verstorben, teils seit längerem nicht mehr oder kaum noch tätig. Aber sie sind alle bei einem breiten Publikum immer noch bekannt und beliebt. Vorgestellt werden sie in kurzen, kundigen Texten. Dazu gibt es eine gelunge Auswahl an Fotos und schöne Zitate der Stars.

Wie die vorherigen, vom Filmmagazin Cinema im Panini Verlag herausgegebenen Bücher „Making of: Hinter den Kulissen der größten Filmklassker aller Zeiten“ und „Regisseure: Die 25 besten und einflussreichtsten Filmemacher aller Zeiten“ richtet sich der Band vor allem an Mainstream-orientierte Filmzuschauer, die etwas mehr wissen wollen.

Als Weihnachtsgeschenk ist der Band sehr geeignet.

Cinema (Hrsg.): Filmstars: Die 30 größten Ikonen der Kinogeschichte

Panini, 2021

224 Seiten

30 Euro

Hinweise

Homepage von Cinema

Meine Besprechung von Cinema (Hrsg) „Making of – Hinter den Kulissen der größten Filmklassiker aller Zeiten“ (2019)


TV-Tipp für den 8. Dezember: Das Wunder im Meer von Sargasso

Dezember 7, 2021

Arte, 22.45

Das Wunder im Meer von Sargasso (To Thávma tis Thálassas ton Sargassón, Griechenland/Deutschland/Niederlande/Schweden 2019)

Regie: Syllas Tzoumerkas

Drehbuch: Youla Boudali, Syllas Tzoumerkas

Eine Polizistin muss auf einer griechischen Insel den Mord an einem gewalttätigem Schlagersänger, der auch als Drogenhändler Geld verdiente, aufklären.

TV-Premiere. Intensiv gespielter Arthaus-Noir, der vor allem als Charakterstudie und Feelbad-Movie überzeugt.

Mehr in meiner ausführlichen Besprechung.

mit Angeliki Papoulia, Youla Boudali, Christos Passalis, Argyris Xafis, Thanasis Dovris, Laertis Malkotsis, Maria Filini

Hinweise

Filmportal über „Das Wunder im Meer von Sargasso“

Moviepilot über „Das Wunder im Meer von Sargasso“

Rotten Tomatoes über „Das Wunder im Meer von Sargasso“

Wikipedia über „Das Wunder im Meer von Sargasso“

Berlinale über „Das Wunder im Meer von Sargasso“

Meine Besprechung von Syllas Tzoumerkas‘ „Das Wunder im Meer von Sargasso“ (To Thávma tis Thálassas ton Sargassón, Griechenland/Deutschland/Niederlande/Schweden 2019)


Cover der Woche

Dezember 7, 2021


TV-Tipp für den 7. Dezember: Die Dolmetscherin

Dezember 6, 2021

Nitro, 22.30

Die Dolmetscherin (The Interpreter, Großbritannien/Frankreich/USA 2005)

Regie: Sydney Pollack

Drehbuch: Charles Randolph, Scott Frank, Steven Zaillian (nach einer Geschichte von Martin Stellman und Brian Ward)

UN-Dolmetscherin Silvia Broome behauptet, dass sie ein Gespräch belauschte, in dem im Landesdialekt über ein Mordkomplott gegen den verhassten Diktator ihres Heimatlandes gesprochen wurde. Er soll in New York ermordet werden. Agent Tobin Keller soll die wichtige Zeugin beschützen. Gleichzeitig fragt er sich, ob die schöne Frau mit rätselhafter Vergangenheit, die Wahrheit sagt.

Der spannende Polit-Thriller ist der letzte Spielfilm von Sydney Pollack. Davor inszenierte er unter anderem “Nur Pferden gibt man den Gnadenschuß” (They shoot horses, don’t they?), “Jeremiah Johnson”, “Yakuza” (The Yakuza), “Die drei Tage des Condors” (Three days of the Condor), “Tootsie”, “Jenseits von Afrika” (Out of Africa) und “Die Firma” (The Firm).

mit Nicole Kidman, Sean Penn, Catherine Keener, Jesper Christensen, Yvan Attal

Hinweise

Moviepilot über „Die Dolmetscherin“

Metacritic über „Die Dolmetscherin“

Rotten Tomatoes über „Die Dolmetscherin“

Wikipedia über „Die Dolmetscherin“ (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von Alan Elliottt/Sydney Pollacks „Aretha Franklin: Amazing Grace“ (Amazing Grace, USA 2018)

Mein Nachruf auf Sydney Pollack


TV-Tipp für den 6. Dezember: Misfits – Nicht gesellschaftsfähig/Die Toten

Dezember 5, 2021

Heute zeigt Arte zwei Klassiker von John Huston

Arte, 20.15

Misfits – Nicht gesellschaftsfähig (The Misfits, USA 1961)

Regie: John Huston

Drehbuch: Arthur Miller

Eine frisch geschiedene Frau schließt sich drei Cowboys an. Gemeinsam gehen sie auf Mustangjagd.

Ein Klassiker. Nicht nur, weil „Misfits“ der letzte Film von Marilyn Monroe und Clark Gable ist, sondern auch weil Arthur Miller in seinem ersten Spielfilmdrehbuch  eine schonungslose Bestandsaufnahme des nicht mehr existierenden amerikanischen Traums vom Freien Leben im Wilden Westen liefert. Denn Millers zeitgenössischen Cowboys sind von der Gesellschaft verachtete Außenseiter. Unter der Regie von John Huston spielen die Schauspieler ausgezeichnet und die Jagdszenen sind superb fotografiert.

„Nach einer langen Dürreperiode, was wirklich amerikanische Filme betrifft, gibt es jetzt Grund zur Freude, denn The Misfits ist so durch und durch amerikanisch, dass niemand außer einem Amerikaner ihn gemacht haben könnte.“ (Paul V. Beckley, New York Herald Tribune)

Mit Marilyn Monroe, Clark Gable, Montgomery Clift, Eli Wallach, Thelma Ritter

Wiederholung: Mittwoch, 8. Dezember, 14.15 Uhr

Hinweise

Rotten Tomatoes über „Misfits – Nicht gesellschaftsfähig“

Wikipedia über „Misfits – Nicht gesellschaftsfähig“ (deutsch, englisch)

Arte, 22.15

Die Toten (The Dead, USA/Großbritannien/Deutschland 1987)

Regie: John Huston

Drehbuch: Tony Huston

LV: James Joyce: The Dead (Erzählung, aus „The Dubliners“, 1914)

Dublin, 1904: die ältlichen, unverheirateten Schwestern Morkan haben Freunde und Verwandte zu einer Abendgesellschaft eingeladen. Als ein altes gälisches Lied ertönt, erinnert die verheiratete Gretta Conroy sich an ein Ereignis aus ihrem Leben.

John Hustons extrem selten gezeigter letzter Spielfilm. Eine Woche vor der Premiere in Venedig starb der legendäre Regisseur.

es ist nicht zu hoch gegriffen, wenn man Hustons Verfilmung schlicht und einfach kongenial nennt. Er hat genau den Ton dieser schönen und tiefsinnigen Geschichte getroffen – ein Dokument großer Menschenkenntnis und Menschenliebe.“ (Fischer Film Almanach 1988)

In dem „Trailers from Hell“-Clip erzählt Dan Ireland von seinem Anteil am Film (sehr klein) und den Dreharbeiten.

mit Anjelica Huston, Donal McCann, Helena Carroll, Cathleen Delany, Ingrid Craige, Rachel Dowling, Colm Meaney

Hinweise

Rotten Tomatoes über „Die Toten“

Wikipedia über „Die Toten“ (deutsch, englisch)


Neu im Kino/Filmkritik: „Benedetta“ – Paul Verhoeven erzählt die Geschichte einer lesbischen Nonne

Dezember 5, 2021

Nachdem die letzten Werke einiger seit Ewigkeiten hochgeachteter Regisseure, wie Ridley Scott, Clint Eastwood und Woody Allen, enttäuschten, ist Paul Verhoevens neuer Film das komplette Gegenteil. „Benedetta“ ist eine in einem Kloster spielende Geschichte, in der es um Glaube, Macht und Sex geht. Im Mittelpunkt steht die titelgebende Benedetta Carlini (Virginie Efira), die im siebzehnten Jahrhundert als Nonne in einem Theatiner-Kloster in Pescia lebt. Sie ist tiefgläubig. Schon als Kind überzeugte sie mit Gottes Hilfe auf dem Weg zum Kloster eine Bande Strauchdiebe, sie und ihre Eltern mit all ihren Besitztümern unverletzt gehen zu lassen. Inzwischen lebt sie schon achtzehn Jahre im Kloster. Ihr Glaube ist immer noch stark. In der Hierarchie des Klosters könnte sie bis zur Äbtissin aufsteigen. Auf ihrem Körper tauchen immer wieder die Wundmale Jesus auf. Sie hat auch Visionen, in denen Jesus auftaucht.

Außerdem hat sie heimlich mit der Nonnenschülerin Bartolomea (Daphné Patakia), um die sich sich kümmern soll, Geschlechtsverkehr. Den zeigt Paul Verhoeven auch ausführlich, ohne dass sein Film in einen Porno im Kloster abdriftet. Zentral sind für ihn Fragen des Glaubens und der Macht; im Kloster, in der Kirche und außerhalb der Kirche. So ist immer unklar, wie sehr Benedetta von ihren Visionen selbst überzeugt ist oder sie nur benutzt, um im Kloster aufzusteigen. Die Wundmale fügt sie sich jedenfalls manchmal (?) selbst bei. Als die Pest im Land wütet, ergreift sie, mit der Hilfe einer Jesus-Vision, die geeigneten Maßnahmen, um die Bewohner der Stadt zu schützen. Sie lässt die Stadttore schließen. Auch dem Nuntius des Papstes, der herausfinden soll, was in dem Kloster geschieht, wird zunächst der Zutritt verwehrt.

Und es geht immer um die Struktur dieser Gesellschaft, Macht, Einfluss und Geld. Schon beim Gespräch über die Aufnahme von Benedetta ins Kloster zeigt Verhoeven, dass ein Kloster ein Wirtschaftsbetrieb ist, der sich rentieren muss. Für Benedettas Ausbildung zur Nonne muss ihr Vater daher viel Geld bezahlen. Später geht es auch immer wieder um Geld und Macht. Altruistisch handelt in dieser Welt niemand.

Verhoeven hält dabei in seinem präzise komponiertem Drama immer die Balance zwischen den verschiedenen Erklärungen. Deshalb habe ich vorher so oft „auch“ geschrieben. Als Zuschauer steht man ständig vor der Frage, wie sehr Benedetta wirklich eine überzeugte Gläubige oder eine eiskalte Manipulatorin und Karrieristin ist, die das Kloster nach iihren Vorstellungen formt. Auch die anderen Figuren sind in ihren Handlungen ännlich ambivalent angelegt.

Daher stört der Text am Filmende, in dem wir erfahren, was nach den im Film geschilderten Ereignissen mit Bendetta geschieht. Dieser Text präferiert eindeutig eine Erklärung für ihr Verhalten. Er vermittelt eine Gewissheit, die in den vorherigen zwei Stunden vermieden wurde.

Die Filmgeschichte beruht auf den umfangreichen Dokumenten des Prozesses gegen Benetta Carlini (1590 – 1661). Judith C. Brown entdeckte sie in einem Archiv in Florenz und verarbeitete sie zu ihrem Sachbuch „Schändliche Leidenschaften: Das Leben einer lesbischen Nonnein in Italien zur Zeit der Renaissance“.

Verhoevens vorherigen Film „Elle“ nannte ich „Meisterwerk“. Das kann ich jetzt bei „Benedetta“ nicht nochmal schreiben. Was soll besser als ein Meisterwerk sein? Also muss ich wohl sagen: „Benedetta“ ist nicht schlechter als „Elle“. Und wieder steht, wie öfter bei Paul Verhoeven, eine Frau im Mittelpunkt, die nicht nach den Regeln spielt.

Benedetta (Benedetta, Frankreich 2021)

Regie: Paul Verhoeven

Drehbuch: David Birke, Paul Verhoeven

LV: Judith C. Brown: Immodest Acts: The Life of a Lesbian Nun in Renaissance Italy, 1986 (Schändliche Leidenschaften: Das Leben einer lesbischen Nonne in in Italien zur Zeit der Renaissance)

mit Virginie Efira, Charlotte Rampling, Daphné Patikia, Lambert Wilson, Olivier Rabourdin, Louise Chevillotte, Hervé Pierre, Clotilde Courau, David Clavel, Guilaine Londez

Länge: 131 Minuten

FSK: ab 16 Jahre

Hinweise

AlloCiné über „Benedetta“

Moviepilot über „Benedetta“

Metacritic über „Benedetta“

Rotten Tomatoes über „Benedetta“

Wikipedia über „Benedetta“ (deutsch, englisch, französisch)

Meine Besprechung von Paul Verhoevens „Flesh + Blood“ (Flesh + Blood, USA 1985)

Meine Besprechung von Paul Verhoevens Philippe-Djian-Verfilmung „Elle“ (Elle, Frankreich/Deutschland/Belgien 2016) und der DVD


TV-Tipp für den 5. Dezember: John Huston – Filmkünstler und Freigeist

Dezember 5, 2021

Arte, 22.10

John Huston – Filmkünstler und Freigeist (Frankreich 2021)

Regie: Marie Brunet-Debaines

Knapp einstündige Doku über John Huston (1906 – 1987). Sie wird als Teil einer sehr kleinen John-Huston-Filmreihe gezeigt. Um 20.15 Uhr zeigt Arte seinen Western „Denen man nicht vergibt“. Morgen, am 6. Dezember, gibt es um 20.15 Uhr „Misfits – Nicht gesellschaftsfähig“ (mit Marilyn Monroe) und um 22.15 Uhr seinen letzten Film, die selten gezeigte James-Joyce-Verfilmung „Die Toten“. Und das war’s dann auch schon mit der Filmreihe.

Hinweise

Arte über die Doku (bis 3. März 2022 in der Mediathek)

Wikipedia über John Huston (deutsch, englisch)


TV-Tipp für den 4. Dezember: Dumbo

Dezember 3, 2021

Sat.1, 20.15

Dumbo (Dumbo, USA 2019)

Regie: Tim Burton

Drehbuch: Ehren Kruger

LV: Helen Aberson, Harold Pearl: Dumbo the Flying Elephant, 1939 (Roll-a-Book, von dem wahrscheinlich nur ein Prototyp hergestellt wurde)

TV-Premiere von Tim Burtons Realverfilmung des Disney-Klassikers über einen fliegenden Elefanten.

Ein seltsamer Film: ein Tim-Burton-Film ohne Tim-Burton-Feeling, ein Kinderfilm für Erwachsene und ein Realfilm, der vor allem am Computer entstanden ist.

Mehr in meiner ausführlichen Besprechung.

mit Colin Farrell, Michael Keaton, Danny DeVito, Eva Green, Alan Arkin, Nico Parker, Finley Hobbins, Roshan Seth, Deobia Oparei, Joseph Gatt, Sharon Rooney, Lars Eidinger

Hinweise

Moviepilot über „Dumbo“

Metacritic über „Dumbo“

Rotten Tomatoes über „Dumbo“

Wikipedia über „Dumbo“ (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von Tim Burtons “Frankenweenie” (Frankenweenie, USA 2012, nach einem Drehbuch von John August)

Meine Besprechung von Tim Burtons „Big Eyes“ (Big Eyes, USA 2014)

Meine Besprechung von Tim Burtons „Die Insel der besonderen Kinder“ (Miss Peregrine’s Home for Peculiar Children, USA 2016)

Meine Besprechung von Tim Burtons „Dumbo“ (Dumbo, USA 2019)

Tim Burton in der Kriminalakte

 


Neu im Kino/Filmkritik: Das Endes des „House of Gucci“ als Familienunternehmen

Dezember 3, 2021

1970 – im Film wird 1978 genannt – lernt der introvertierte Maurizio Gucci (Adam Driver) in Mailiand Patrizia Reggiani (Lady Gaga), die ausgehfreudige Tochter eines Transportunternehmer, kennen. Sie verlieben sich ineinander, heiraten 1972 und trennen sich 1985. Die Scheidung war 1994. Am 27. März 1995 wird Maurizio Gucci auf offener Straße erschossen.

1998 wird Patrizia Reggiani verurteilt. Sie soll einen Killer beauftragt haben, ihren Ex-Mann zu ermorden.

Zwischen diesen beiden Daten spielt sich Ridley Scotts neuer Film „House of Gucci“ ab. Es ist eine wahre Geschichte, über die damals viel berichtet wurde. Immerhin war hier alles versammelt, was das Herz der Klatschpresse jubilieren lässt und Stoff für mindestens ein halbes Dutzend verschiedener Filme liefert. 2001 erschien Sara Gay Fordens Buch „The House of Gucci: A Sensational Story of Murder, Madness, Glamour, and Greed“. Scott sicherte sich schnell die Verfilmungsrechte.

Angesichts des Films frage ich mich, was Scott an dieser Familiengeschichte und Ehe interessiert hat. Denn die von den wahren Ereignissen inspirierte Filmgeschichte hat keine Fokus. Scott spring sprunghaft zwischen der Geschichte der Ehe von Maurizio Gucci und Patrizia Reggiani und der Geschichte des Hauses Gucci hin und her, bleibt dabei trotz der epischen Laufzeit von fast hundertsechzig Minute erstaunlich kryptisch und oberflächlich. Vieles wirkt skizziert. Oft entwickelt sich die Handlung sprunghaft und lässt dabei immer wieder ein, zwei, drei wichtige Erklärschritte aus, die wichtig wären, um emotional involviert zu sein und die Gründe für die Handlungen der einzelnen Figuren zu verstehen.

Beide Geschichten können als selbstverschuldete Verfallsgeschichten gesehen werden. Denn noch vor seinem Tod verkaufte Maurizio Gucci, als letztes Mitglied der Familie, 1993 seine Firmenanteile an Investcorp. Davor zerfleischte sich die Familie und keiner der Söhne war fähig oder willens, das Unternehmen zu leiten. Maurizios Ehe endet in einer Scheidung. Danach plant Patrizia Reggiani hasserfült seine Ermordung. Im Film ist ihr Motiv eher enttäuschte Liebe, in der Realität könnten es primär finanzielle Überlegungen und die Hoffnung auf mehr Einfluss in dem Familienunternehmen gewesen sein. Lady Gaga spielt sie als Symbiose ungefähr aller italienischen Filmfrauen.

Über Maurizio Gucci wissen wir trotz Adam Drivers zurückhaltendem Spiel, nach zweieinhalb Stunden nicht mehr als am Anfang. Nämlich dass er wundervoll entspannt durch Mailand Fahrrad fahren kann. Es ist allerdings vollkommen unklar, wie er tickt, was er erreichen will und warum er was tut. Dabei scheint er in den Achtzigern, aus unbekannten Gründen, in die Rolle des Firmenchefs hingewachsen zu sein und in der Lage zu sein, seine Interessen durchzusetzen. Vorher sagte ihm seine Frau, was er zu tun habe und er, vollkommen desinteressiert an unternehmerischen Entscheidungen, folgte ihren Ratschlägen.

Scott findet auch keinen einheitlichen Tonfall. „House of Gucci schwankt zwischen 70er-Jahre-Italo-Thriller (vor allem am Anfang und bei den mit Al Pacino als Aldo Gucci in New York spielenden Szenen), Felliniesker Opulenz, überbordender Gefühls- und Verfallsoper, und Szenen, die wohl satirisch gemeint sind. Es gibt etwas Ehedrama und einige Firmenintrigen. Die Schauspieler geben dem Affen Zucker. Im besten Fall ist das als Einzelleistung überzeugend, im schlechtesten Fall einfach nur bizarr. Das gilt vor allem für den von Al Pacino gespielten Aldo Gucci, der in den USA das Gucci-Unternehmen vertritt und wie die Klischeevorstellung einer Kreuzung aus halbseidenem Unternehmer und 70er-Jahre-Mafiosi wirkt, und seinem von Jared Leto gespielten Filmsohn Paolo, der sich vor allem als Künstler sieht und dabei wie der Quartalsirre von nebenan wirkt. Er ist die erste Person, der man einen Vormund geben möchte. Für irgendeine Führungsposition ist er erkennbar unqualifiziert.

House of Gucci“ ist eine missglückte Seifenoper, die nie verrät, was sie uns erzählen will oder warum wir uns für das Schicksal der Familie Gucci interessieren sollten.

Inzwischen hat Ridley Scott in einem Interview von einer längeren Version gesprochen, die er vielleicht für die DVD-Veröffentlichung erstellt. Diese könnte dann sogar in sich stimmiger sein.

House of Gucci (House of Gucci, USA 2021)

Regie: Ridley Scott

Drehbuch: Becky Johnston, Roberto Bentivegna (nach einer Geschichte von Becky Johnston)

LV: Sara Gay Forden: The House of Gucci: A Sensational Story of Murder, Madness, Glamour, and Greed, 2001 (GUCCI: Mode, Mord und Business)

mit Lady Gaga, Adam Driver, Al Pacino, Jeremy Irons, Jared Leto, Jack Huston, Salma Hayek, Alexia Murray, Vincent Riotta, Gaetano Bruno

Länge: 158 Minuten

FSK: ab 12 Jahre

Hinweise

Moviepilot über „House of Gucci“

Metacritic über „House of Gucci“

Rotten Tomatoes über „House of Gucci“

Wikipedia über „House of Gucci“ (deutsch, englisch)

History vs. Hollywod über „House of Gucci“

Meine Besprechung von Ridley Scotts “Prometheus” (Prometheus, USA 2012)

Meine Besprechung von Ridley Scotts “Exodus – Götter und Könige (Exodus – Gods and Kings, USA 2014)

Meine Besprechung von Ridley Scotts „Der Marsianer – Rettet Mark Watney“ (The Martian, USA 2015)

Meine Besprechung von Ridley Scotts „Alien: Covenant“ (Alien: Covenant, USA 2017)

Meine Besprechung von Ridley Scotts „Alles Geld der Welt“ (All the Money in the World, USA 2017)

Meine Besprechung von Ridley Scotts „The Last Duel“ (The Last Duel, USA 2021)

Ridley Scott in der Kriminalakte

 


TV-Tipp für den 3. Dezember: Geronimo – Eine Legende

Dezember 2, 2021

3sat, 22.25

Geronimo – Eine Legende (Geronimo: An American Legend, USA 1993)

Regie: Walter Hill

Drehbuch: John Milius, Larry Gross

Ein junger West-Point-Absolvent erzählt, wie er die Jagd auf Geronimo erlebte. Der Indianerhäuptling kämpfte mehrere Jahre gegen die US-Armee, bevor er sich 1886 kampflos ergab.

Postmoderner Spät-Western. „Die Geschichte des letzten Indianeraufstands als elegisches Dokudrama: ohne übergroße Helden, ohne mythische Überzeichnung in Bild und Stil. Indianer und Soldaten agieren wie Gezeichnete, die bei allem, was sie tun und wofür sie kämpfen, nur verlieren. (…) Sie ahnen, dass ihre Zeit abgelaufen ist, und wissen, dass sie dennoch nicht aufgeben dürfen.“ (Norbert Grob: Geronimo, in Bernd Kiefer/Norbert Grob: Filmgenres: Western, 2003)

mit Jason Patric, Robert Duvall, Gene Hackman, Wes Studi, Matt Damon

Hinweise

Rotten Tomatoes über „Geronimo“

Wikipedia über „Geronimo“ (deutsch, englisch)

Meine Besprechung von Walter Hills “Straßen in Flammen” (Streets on Fire, USA 1984)

Meine Besprechung von Walter Hills “Shoutout – Keine Gnade” (Bullet to the Head, USA 2013)

Walter Hill in der Kriminalakte


Neu im Kino/Filmkritik: Zuerst einmal „Gunpowder Milkshake“, danach ab in die Bibliothek

Dezember 2, 2021

Das ist er also: der Eröffnungsfilm des diesjährigen Fantasy Filmfests: eine Actionkomödie, in der Männer nach der Im-Dutzend-billiger-Methode getötet werden. Im Mittelpunkt steht Sam (Karen Gillan). Inzwischen arbeitet sie, wie ihre Mutter Scarlet (Lena Headey), die sie vor fünfzehn Jahren verlassen hat, als Profikillerin für eine Organisation, die sich „Die Firma“ nennt. Ihre Geschicke werden ausschließlich von Männern gelenkt. Der Manager der Firma ist Nathan (Paul Giamatti) und er hat jetzt die unangenehme Aufgabe, Sam zu erklären, dass sie bei ihrem letzten Auftrag den falschen Mann getötet hat. Dass sie von der Firma die falschen Informationen bekommen hat, dass der Tote übernaupt nicht an dem Ort hättte sein dürfen und dass man bei der Nennung der Zahl ihrer Gegner mindestens eine Null vergessen hat, ist egal.

Sam könnte ihren Fehler mit einem neuen Auftrag ausbügeln: sie soll einen Koffer voller Geld an einen Erpresser überbringen, der von der Firma wichtige Papiere gestohlen hat.

Nun, auch diese Aktion läuft spektakulär aus dem Ruder. Einige Männer sterben und wir haben gelernt, wie frau eine Koffer als tödliche Waffe einsetzt.

Danach wird Sam von der Firma gejagt. Außerdem fühlt sie sich für die naseweise achtjährige Emily (Chloe Coleman) verantwortlich. Denn sie hat Emilys Vater umgebracht.

Die einzigen Menschen, die ihr helfen könnten, sind die Bibliothekarinnen Anna May (Angela Bassett), Florence (Michelle Yeoh) und Madeleine (Carla Gugino). Ihr Arbeitsort ist eine altehrwürdige Bibliothek. Aber viele der kostbaren alten Büchern in ihrer Bibliothek werden zum Lagern von Waffen benutzt.

Gunpowder Milkshake“ ist ein Actionfilm, der natürlich an die John-Wick-Filme und die dort liebevoll über mehrere Filme ausgebaute Mythologie erinnert.

Bei Navot Papushado („Big Bad Wolves“) und seinem Co-Drehbuchautor Ehud Lavski ist die Welt, in der die Geschichte spielt, ebenso ausgedacht. Aber, und das macht einen erfrischenden Unterschied, mit einer eindeutig feministische Botschaft. Die Firma ist selbstverständlich ein Abbild unserer Gesellschaft und ihrer Strukturen. Seit Jahrhunderten haben Männer die Macht. Sie sagen den Frauen, was zu tun ist. Sie verwehren ihnen den gesellschaftlichen Aufstieg aus ihrer Killerkaste.

Und so ist Sams Kampf dann auch ihre Emanzipation von dieser Gesellschaft. Zuerst wird sie unfreiwillig Mutter. Dann verbündet sie sich mit den anderen Frauen und sie bringen die Männer um, die sie umbringen wollen. Diese werden selbstverständlich von Minute zu Minute mehr. Und, altehrwürdigen Thriller-Gesetzen gehorchend, bringen sie in diesem Kampf dann auch das alte Imperium der Männer zu Fall.

Das ist furios inszeniert, mit einer eindeutigen, aber nicht übermäßig plakativen Botschaft. Schließlich ordnet Papushado den einzelnen Seiten in seiner Genregeschichte nur ein eindeutig definiertes Geschlecht zu. Auf der einen Seite sind die Männer, auf der anderen Seite die Frauen, die sich nur gegen die Gewalt der Männer wehren.

Gunpowder Milkshake“ ist ein witziger Actionthriller mit hemmungslos übertriebener Comicgewalt, der sich eindeutig an die Fans von Filmen wie „John Wick“, „Nobody“ und der äußerst schwarzhumorigen Gewaltorige „Guns Akimbo“ richtet. Nur dass dieses Mal, auch wenn Karen Gillan öfter betont machohaft wie John Wayne durch die Landschaft stakst, der Held eine Frau ist.

Gunpowder Milkshake (Gunpowder Milkshake, Großbritannien 2021)

Regie: Navot Papushado

Drehbuch: Ehud Lavski, Navot Papushado

mit Karen Gillan, Lena Headey, Michelle Yeoh, Angela Bassett, Carla Gugino, Paul Giamatti, Chloe Coleman, Ralph Ineson, Adam Nagaitis, Michael Smiley, Freya Allan

Länge: 115 Minuten

FSK: ab 18 Jahre

Hinweise

Filmportal über „Gunpowder Milkshake“

Moviepilot über „Gunpowder Milkshake“

Metacritic über „Gunpowder Milkshake“

Rotten Tomatoes über „Gunpowder Milkshake“

Wikipedia über „Gunpwoder Milkshake“ (deutsch, englisch)


TV-Tipp für den 2. Dezember: The Broken Circle

Dezember 1, 2021

Servus TV, 22.15

The Broken Circle (The Broken Circle Breakdown, Belgien/Niederlande 2012)

Regie: Felix van Groeningen

Drehbuch: Carl Joos, Felix van Groeningen (nach dem Theaterstück von Johan Heldenbergh)

Die mit viel Bluegrass-Musik gewürzte Liebesgeschichte zwischen Didier und Elise, die gegensätzlicher kaum sein könnten, erlebt heute seine TV-Premiere.

Mehr in meiner ausführlichen Besprechung.

mit Veerle Baetens, Johan Heldenbergh, Nell Cattrysse, Geert Van Rampelberg, Nils De Caster, Bobby Cleiren, Bert Huysentruyt, Jan Bijvoet

Hinweise

Rotten Tomatoes über „The Broken Circle“

Wikipedia über „The Broken Circle“ (deutsch, englisch)

Berlinale: Die Pressekonferenz

Meine Besprechung von Felix van Groeningens „The Broken Circle“ (The Broken Circle Breakdown, Belgien/Niederlande 2012)

Meine Besprechung von Felix van Groeningens „Café Belgica (Belgica, Belgien/Frankreich/Niederlande 2016)

Meine Besprechung von Felix van Groeningens „Beautiful Boy“ (Beautiful Boy, USA 2018)