Hochgelobte Verfilmung von Savianos auf Tatsachen basierendem gleichnamigem Roman. Garrone zeichnet in fünf unabhängigen Handlungssträngen ein unglamouröses Bild der Camorro in Neapel.
Der Film erhielt in Cannes den Großen Preis der Jury.
Mit Salvatore Abruzzese, Maria Nazionale, Toni Servillo
Alfred Döblins Roman „Berlin Alexanderplatz“ ist ein Literaturklassiker. Die Verfilmung von 1931 mit Heinrich George als Franz Biberkopf ist inzwischen ziemlich vergessen, soll aber gut sein. Rainer Werner Fassbinders Fernsehserie ist ein wuchtiger Klassiker. Beide Verfilmungen spielen, wie Döblins Roman, in den Zwanziger Jahren und sie sind Milieustudien des Lumpenproletariats, wie man damals die ganz armen, von der Gesellschaft nicht beachteten Menschen nannte.
Burhan Qurbani verlegte jetzt Döblins Roman in die Gegenwart und machte aus Döblins Franz Biberkopf, der wegen Totschlags vier Jahre im Gefängnis saß, einen aus Afrika kommenden Flüchtling.
Dieser Francis (Welket Bungué), der später Franz genannt wird, kommt bei seiner Flucht aus Guinea-Bissau über das Mittelmeer mit letzter Kraft in Europa an. Am Ufer schwört er, ab jetzt ein guter und anständiger Mensch zu sein.
In Berlin lebt er in einem Flüchtlingsheim und arbeitet auf einer Baustelle als Schwarzarbeiter. Durch eine Verkettung unglücklicher Umstände verliert er diese Arbeit. Er lernt den kleinen Drogenhändler Reinhold (Albrecht Schuch), der ihn ins kriminelle Milieu einführt, und später die Prostituierte Mieze (Jella Haase) kennen. Zwischen Francis und Mieze entwickelt sich eine Liebesbeziehung, die Reinhold nicht tolerieren will.
Der Film feierte auf der Berlinale seine Premiere, die meisten deutschsprachigen Kritiken sind überschwänglich, bei der Verleihung des Deutschen Filmpreises erhielt „Berlin Alexanderplatz“ fünf Lolas (Bester Spielfilm, Beste männliche Nebenrolle, Beste Kamera, Beste Musik, Bestes Szenenbild) – und ich frage mich immer noch wieso.
Qurbani erzählt Francis‘ Leidensgeschichte über drei Stunden in einer schlichten, chronologischen Und-dann-Struktur, die nichts von der Experimentierlust der Buchvorlage – einem Klassiker der Moderne – spüren lässt.
Die gewählte Neo-Noir-Optik sieht zwar schick aus, ist aber schon seit Jahrzehnten ein etabliertes Stilmittel. Das im Film gezeigte Berlin (bzw. die Orte Berlin, Stuttgart und Köln, an denen Außenaufnahmen entstanden) und die Innenräume wirken so betont künstlich. In „Berlin Alexanderplatz“ wird nicht das heutige Berlin und auch kein wiedererkennbares Berlin gezeigt. Es ist eine neonbunte Fantasiestadt mit dann doch recht eindimensionalen Figuren. Sie sind mehr Chiffren als ausformulierte Charaktere.
Bei einem Film, der sich „Berlin Alexanderplatz“ nennt, auf einem Romanklassiker, der eine Milieustudie ist, basiert und mit der Wahl seines Protagonisten eindeutig ein Kommentar zur Gegenwart sein will, wirkt das schon etwas befremdlich. Über die Gegenwart und damit das Leben von Flüchtlingen, mit und ohne legalem Aufenthaltsstatus, in Berlin, erfahren wir fast nichts.
Mein größtes Problem bei „Berlin Alexanderplatz“ liegt daher in der Story und in der Diskrepanz zwischen behaupteter und echter Botschaft. In Döblins Roman geht es um einen Ex-Sträfling, der ehrlich bleiben will und von den Umständen auf die Probe gestellt wird: „Der Mann hat vor, anständig zu sein, da stellt ihm das Leben hinterlistig ein Bein.“ (Klappentext der Erstausgabe von „Berlin Alexanderplatz).
In Qurbanis Film soll es auch um diese These, nämlich dass die Gesellschaft den Protagonisten zum Verbrechertum zwingt, gehen. Oder in den Worten des Films: „Anständig wollte Franz sein, doch dem Leben gefiel das nicht.“
Die Geschichte von Francis erzählt in fünf Teilen und einem Epilog das Gegenteil. Denn Francis schlägt mehr oder weniger deutlich alle Angebote für ein ehrliches Leben aus. Er schlägt ehrliche Angebote zur Hilfe aus. Er hält sich nicht an Regeln. Er nimmt freiwillig immer wieder illegale Jobs an. Als Schwarzarbeiter auf dem Bau. Als Drogendealer in der Hasenheide. Niemand zwingt ihn dazu. Es ist immer seine freie Entscheidung. Der Film erzählt, dass Franz anständig sein wollte, doch ihm gefiel das nicht.
Das wird, angemessen bedeutungsschwanger, als „ein Passionsspiel vom Opfer und der Erlösung“ (Qurbani) erzählt.
Um nicht falsch verstanden zu werden: „Berlin Alexanderplatz“ ist kein wirklich schlechter Film, aber es ist ein überbewerteter, mit drei Stunden zu lang geratener Film.
Berlin Alexanderplatz(Deutschland 2020)
Regie: Burhan Qurbani
Drehbuch: Burhan Qurbani, Martin Behnke
LV: Alexander Döblin: Berlin Alexanderplatz, 1929
mit Welket Bungué, Jella Haase, Albrecht Schuch, Joachim Król, Annabelle Mandeng, Nils Verkooijen
Whitney – Can I be me (Whitney: Can I be me, USA/Großbritannien 2017)
Regie: Nick Broomfield, Rudi Dolezal
Drehbuch: Nick Broomfield
TV-Premiere. Sehenswerte Doku über Whitney Houston, wie sie zu einem Star für das Mainstream-Publikum aufgebaut wurde und ihre Versuche ‚ich‘ zu sein.
All das erzählen Nick Broomfield und Rudi Dolezal (von ihm stammen die bislang unveröffentlichten, bei den deutschen Konzerten aufgenommenen Backstage- und Konzert-Aufnahmen von Houstons 1999er Welttournee) chronologisch und kurzweilig in der aus zahlreichen Dokumentarfilmen über Musiker und Bands vertrauten Mischung aus Archivaufnahmen, teils von Auftritten und Interviews, teils aus verschiedenen privaten Archiven, und aktuellen Interviews.
mit Whitney Houston, Robyn Crawford, Bobby Brown, Cissy Houston, John Russell Houston jr., Bobby Kristina Brown, David Roberts (teilweise Archivmaterial)
Los Angeles, 1928: Ein Kind verschwindet. Als die Polizei es unverletzt nach fünf Monaten findet, behauptet die Mutter, dass das nicht ihr Sohn sei. Ist sie, wie die Polizei über die Nervensäge behauptet, verrückt oder versucht die Polizei etwas zu vertuschen?
Nach gut 140 Minuten ist diese Frage beantwortet.
Just another Period-Picture mit Stars, stilechter Ausstattung, Überlänge (oder Blockbuster-Länge) und, natürlich, basierend auf einem wahren Fall. Insgesamt okaye Unterhaltung.
Anschließend, um 22.25 Uhr, läuft Michael Manns „Public Enemies“ (USA 2009) über den Gangster John Dillinger.
Mit Angelina Jolie, Gattlin Griffith, John Malkovich, Jeffrey Donovan, Amy Ryan, Colm Feore
Doktor Konrad Ansbach (Armin Mueller-Stahl) testet illegal ein Serum gegen Leberzirrhose an Berliner Obdachlosen. Als mehrere Obdachlose sterben, beginnt Kommissar Walther (Volker Brandt) zu ermitteln.
Wolfgang Staudtes letzter Film. Kein Meisterwerk, aber sein letzter Film.
Armin Mueller-Stahl zählt „Freiwild“ zu seinen wichtigsten Fernseharbeiten: „bei dem Wolfgang Staudte – ich lernte ihn leider zu spät kennen – noch einmal an seine alte Form anknüpfte.“
Wolfgang Staudte inszenierte „Die Mörder sind unter uns“ (1946), „Der Untertan“ (1951), „Rosen für den Staatsanwalt“ (1959) und „Kirmes“ (1960).
mit Volker Brandt, Helmut Gauss, Stefan Gossler, Armin Mueller-Stahl, Hans-Peter Hallwachs, Witta Pohl, Tilly Lauenstein
The World’s End (The World’s End, Großbritannien 2013)
Regie: Edgar Wright
Drehbuch: Simon Pegg, Edgar Wright
Zwanzig Jahre nachdem sie Newton Haven verlassen haben, kann Gary King seine alten Schulkumpels überzeugen, die damals vorzeitig abgebrochene Sauftour endlich zu beenden. Aber schon vor dem ersten Bier kommen ihnen die Dorfbewohner seltsam vor.
„The World’s End“ ist die neueste Komödie der Macher von „Shaun of the Dead“ und „Hot Fuzz“ und ist eigentlich ein Remake von „Shaun of the Dead“ mit zombiehaft angreifenden Aliens anstatt Zombies. Dazu gibt es etwas Midlife-Crisis-Komödie – und viele Anspielungen.
Der Film ist wie ein Pubbesuch mit einigen guten Freunden, plus einer grandiosen Methode, die Aliens zu besiegen, die eindeutig aus der „Dr. Who“-Schule stammt, und einem unpassendem Epilog, der ungefähr so witzig wie der Kater nach der Sauftour ist. Aber bis dahin…
Seitdem es Probleme mit dem Erhalt der Infomail zur monatlichen Bestenliste der Frankfurter Allgemeine und Deutschlandfunk Kultur gibt, kann die Liste schon einmal für einige Tage in Vergessenheit geraten. Daher etwas verspätet die Juli-Empfehlungen der Damen und Herren Krimikritiker:
1. Guillermo Martinez – Der Fall Alice im Wunderland (Plazierung im Vormonat: 4)
Aus dem Spanischen von Angelica Ammar. Eichborn, 320 Seiten, 16 Euro.
2. Hideo Yokoyama – 50 (Plazierung im Vormonat: /)
Aus dem Japanischen von Nora Bartels. Atrium, 352 Seiten, 22 Euro.
Aus dem Englischen von Laudan und Szelinski. Ariadne im Argument Verlag, 544 Seiten, 24 Euro.
4. Zoë Beck – Paradise City (Plazierung im Vormonat: /)
Suhrkamp, 288 Seiten 16 Euro.
5. Emma Viskic – No Sound – Die Stille des Todes (Plazierung im Vormonat: 2)
Aus dem Englischen von Ulrike Brauns. Piper, 286 Seiten, 15 Euro.
6. Angie Kim – Miracle Creek (Plazierung im Vormonat: /)
Aus dem Englischen von Marieke Heimburger. Hanserblau, 510 Seiten, 22 Euro.
7. Benjamin Whitmer – Flucht (Plazierung im Vormonat: /)
Aus dem Englischen von Alf Mayer. Polar, 408 Seiten, 22 Euro.
8. Philip Kerr – Trojanische Pferde (Plazierung im Vormonat: /)
Aus dem Englischen von Axel Merz. Wunderlich, 492 Seiten, 24 Euro.
9. Felix Weber – Staub zu Staub (Plazierung im Vormonat: /)
Aus dem Niederländischen von Simone Schroth. Penguin, 400 Seiten, 15 Euro.
10. Nicholas Shakespeare – Boomerang (Plazierung im Vormonat: 7)
Aus dem Englischen von Anette Grube. Hoffmann und Campe, 400 Seiten, 25 Euro.
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„Paradise City“ fand ich nicht so toll. Warum dürfte ich in einigen Tagen erklären. „Flucht“ und „Trojanische Pferde“ (der vorletzte Bernhard-Gunther-Roman des zu früh verstorbenen Philip Kerr) stehen auch auf meiner Zu-Lesen-Liste.
Im Moment lese ich Thomas Gallis „Weggesperrt – Warum Gefängnisse niemandem nützen“. Ein Sachbuch. Empfehlenswert und zum Nachdenken anregend.
Good Night, and Good Luck (Good Night, and Good Luck, USA 2005)
Regie: George Clooney
Drehbuch: George Clooney, Grant Heslov
In den Fünfzigern veranstaltet US-Senator Joseph McCarthy eine Hetzjagd gegen wenige Kommunisten und viele vermeintliche Kommunisten. 1954 beginnt CBS-Moderator Edward R. Murrow die Politik von McCarthy in seiner Sendung „See it now“ zu hinterfragen. Mit den von ihm präsentierten Reportagen und, später, von ihm gemachten Interviews mit McCarthy trug er zu dessen Sturz bei.
Böswillig gesagt ist “Good Night, and Good Luck” Schulfernsehen, bei dem zuerst die historischen Fakten vermittelt und anschließend die Botschaft hinausposaunt wird. Objektiv gesehen ist Clooneys Film gutes altmodisches Kino mit einer zeitlos aktuellen Botschaft über die Verantwortung der Medien (hier des Fernsehens). Denn selbstverständlich wurde der in dem Film geschilderte wahre Fall des TV-Moderators Edward R. Murrow gegen Senator Joseph McCarthy auch als Diagnose des Verhaltens der US-amerikanischen Medien vor dem Irak-Krieg gesehen und der historisch verbürgte Aufruf von Murrow an seine Kollegen am Ende des historisch genauen Films kritisch gegen die Machthaber zu sein, konnte 2005 nur tagespolitisch verstanden werden. – Und heute könnte Clooneys Film leicht wieder als Kommentar zur Tagespolitik verstanden werden.
Abgesehen davon ist „Good Night, and Good Luck“ mit seiner eleganten SW-Kamera (Robert Elswit, auch „Michael Clayton“, „There will be Blood“ und, uh, „James Bond – Der Morgen stirbt nie“), dem stimmungsvollen Soundtrack, den pointierten Dialogen und den guten Schauspielern einfach ein Fest für Filmfreunde.
Mit David Strathairn, George Clooney, Patricia Clarkson, Alex Borstein, Robert Downey Jr., Jeff Daniels, Ray Wise, Robert Knepper, Dianne Reeves, Frank Langella
Forscher haben das Mittel gefunden, um die Klimakatastrophe abzuwenden: sie verkleinern einfach die Menschen. Denn so ein zwölf Zentimeter großer Mensch verbraucht fast keine Idee mehr. Der von seinem Leben gefrustete Paul lässt sich verkleinern. Seine Frau macht in letzter Sekunde einen Rückzieher und Paul muss die Miniwelt allein erkunden und neue Freunde finden.
TV-Premiere. Vor dem Hintergrund der äußerst detailliert ausgemalten Welt der Winzlinge erzählt Alexander Payne eine liebevoll erzählte Liebesgeschichte voller liebenswerter Menschen. Ein herzerwärmender Film.
Die Geschichte spielt vor fünfzehn Jahren in Bridgewater, einer Kleinstadt im US-Bundesstaat New York. Aber sie könnte auch in der Gegenwart spielen. Oder vor dreißig, vierzig Jahren. Denn Bridgewater ist eine dieser Kleinstädte, in denen sich wenig ändert. Die Hauptpersonen sind fünf junge Männer, die sich schon seit Ewigkeiten kennen, aus der Arbeiterklasse sind und, außer einem ehrlichen Job und einer liebenden Familie, keine großen Träume haben. Es ist alles so, wie in den siebziger Jahren, als es noch viele Fabrikarbeiterjobs gab. Naja, und das ist ein kleiner Unterschied: damals wären sie und die Nebenfiguren in „Semper Fi“ wahrscheinlich alle weiße Männer gewesen. Ansonsten verkörpern sie fast schon prototypisch die Männer und die Welt, die Bruce Springsteen in seinen Songs besingt.
Im Mittelpunkt von Henry Alex Rubins Film stehen die Halbbrüder Callahan ‚Cal‘ (Jai Courtney) und Oyster (Nat Wolff). Cal ist Polizist, beliebt, regeltreu und verantwortungsbewusst. Sein jüngerer Halbbruder sucht noch seinen Weg. Er will später als Besitzer und Koch eines Imbisses Geld verdienen. Bis dahin gibt es noch einige Wochenenden, an denen er sich betrinken kann. Ihre Freunde Jaeger (Finn Wittrock), Milk (Beau Knapp) und Snowball (Arturo Castro) haben verschiedene Jobs, Beziehungen und auch Kinder.
Sie gehören alle auch zu einer Reserve-Einheit der Marine. Ihre Wochenenden verbringen sie bei militärischen Übungen, die sie weiter zusammenschweißen.
Eines Abends gerät Oyster in eine dieser Kneipenschlägereien, die mit zu viel Alkohol beginnen und über ein, zwei Fausthiebe zu einem blauen Auge und einer Platzwunde führen. Auf der Restaurant-Toilette schlägt er seinen Gegner, – eigentlich stößt er ihn auf der Toilette eher von sich weg – und er fällt so unglücklich, dass er tot ist. Voller Angst vor einer Haftstrafe flüchtet Oyster. Denn er wurde schon für zwei Verbrechen bestraft und jetzt droht ihm in jedem Fall eine besonders lange Haft.
Noch in der gleichen Nacht findet und verhaftet sein Bruder Cal ihn.
Acht Monate später sitzt Oyster im Gefängnis. Er hat mit 25 Jahren eine auch aus Sicht seiner Freunde und Bekannten unverhältnismäßig hohe Strafe für einen tödlichen Unfall unter Alkoholeinfluss erhalten. Sein Bruder und die von ihm geführte Reservisteneinheit sind im Irak, wo sie Hilfstätigkeiten ausführen.
In der ersten halben Stunde von „Semper Fi“ und damit vor der tödlichen Schlägerei, konzentriert Rubin sich auf die Freundschaft zwischen den Kleinstadtjungs. Im zweiten Akt erzählt er, was mit ihnen allen danach geschieht. Die Frage, ob Cals Loyalität seiner Familie oder dem Staat gilt, wird kaum weiterverfolgt. Anstatt nach Drehbuchregeln eine Frage, ein Dilemma, zu behandeln, weicht „Semper Fi“ in das episch-breit beschreibende aus. In einem Roman funktioniert das gut. In einem Film führt das eher zu einer gewissen Bräsigkeit. Denn bei vielen Szenen ist nicht zu erkennen, wie sie die Hauptgeschichte voranbringen.
Im dritten Akt will Cal dann seinen Bruder aus dem Gefängnis befreien. In diesem Moment wird „Semper Fi“ unvermittelt zu einem Thriller mit viel Suspense.
Alle drei Teile kompetent inszeniert. Aber insgesamt lässt der Film einen etwas unbeteiligt zurück. Er weiß nicht, was er will. Er schwankt zwischen den Stilen, trifft einige interessante erzählerische Entscheidungen, vermeidet aber Zuspitzungen und bleibt unter seinem Potential. Und zwar wegen der von Rubin getroffenen Entscheidungen, die halt dazu führen, dass Cals Dilemma immer wieder an den Rand geschoben wird zugunsten des Erzählens über das Leben der Kleinstadtjungs und ihren alltäglichen Sorgen. Diese Reportieren ist dann nicht auf ein bestimmtes Ziel fokussiert, sondern ein aus objektiver, gottgleicher Perspektive erzählter Bericht.
Im dritten Akt, wenn Cal seinen Bruder aus dem Gefängnis befreien will, ändert sich das. Die Jungs halten immer noch zusammen. Aber jetzt wollen sie ein Verbrechen begehen.
„Semper Fi“ ist einer der Filme, bei denen man sich fragt, warum man ihn im Kino sehen sollte, dann aber, wenn er im Fernsehen läuft, dran bleibt.
Henry Alex Rubin drehte vorher das unbekannte, aber sehenswerten Ensembledrama „Disconnect“ (Disconnect, USA 2012).
Semper Fi(Semper Fi, USA/Großbritannien 2019)
Regie: Henry Alex Rubin
Drehbuch: Henry Alex Rubin, Sean Mullin
mit Jai Courtney, Nat Wolff, Finn Wittrock, Beau Knapp, Arturo Castro, Leighton Meester
45 Tage hat David Zeit, um in einem Paarungshotel seine künftige Frau zu finden. Wenn nicht, wird er in einen Hummer verwandelt. Als er kein Glück hat, flieht er und trifft im Wald auf eine Gruppe radikaler Einzelgänger, die mindestens genauso streng-absurde Regeln befolgen.
Köstliche Satire, die in Cannes den Preis der Jury erhielt.
mit Colin Farrell, Rachel Weisz, John C. Reilly, Léa Seydoux, Ben Whishaw, Olivia Colman, Jessica Barden
Mike Figgis, der Regisseur von „Stormy Monday“, „Internal Affairs“ und, seinem bekanntesten Film, „Leaving Las Vegas“, wollte keine normale Doku über Ronnie Wood drehen. Also kein chronologischer Gang durch das Leben des Porträtierten. Keine Ansammlung sprechender Köpfe, die mehr oder weniger gute Dinge über den Porträtierten erzählen. Kein teils peinlich intimes Ausleuchten privater Details. Keine kritische Bestandsaufnahme des Lebens des Porträtierten. Und keine Interviews mit dem Porträtierten, in denen er, mehr oder weniger hartnäckig, über sein Leben ausgefragt wird.
Das gibt es schon auch in „Ronnie Wood – Somebody up there likes me“. Aber nur in homöopathischen Dosen.
Ronnie Wood, manchmal auch Ron Wood, ist heute vor allem als Mitglied der Rolling Stones bekannt. Im Gegensatz zu den Bandgründern spielt der Gitarrist erst seit 1975 in der Band mit. Offizielles Bandmitglied wurde er 1993. Vor seinem Engagement bei den Stones spielte er in in der Jeff Beck Group, den Faces und in der Band von Rod Stewart.
Neben den „Rolling Stones“-Platten veröffentlichte er mehrere Platten unter seinem Namen und er verwirklicht sich als Maler. Wood war Schüler der Londoner Kunstschule Ealing Art College.
Figgis beobachtet ihn in „Ronnie Wood – Somebody up there likes me“ ausführlich beim Zeichnen. Dazu gibt es Konzertausschnitte, eher kurze Statements von Freunden, früheren und aktuellen Bandkollegen und ausführliche Gesprächsbeiträge von Ronnie Wood, der über sein Leben redet.
Das Ergebnis ist ein von Sympathie getragener, nie sonderlich in die Tiefe gehender oder auch nur ansatzweise kritischer Dokumentarfilm. Damit ist „Ronnie Wood – Somebody ut there likes me“ vor allem für Fans des sympathisch vor sich hin erzählenden Musikers und der stadionrockenden Bluescombo „The Rolling Stones“ interessant.
Die dürfen sich auch auf die neue Platte der Rolling Stones freuen. Sie soll dieses Jahr erscheinen. Und sie soll aus neuen Songs bestehen. Das haben jedenfalls Mick Jagger und Keith Richards vor wenigen Wochen in einem Interview gesagt. Ihre letzte Studio-CD „Blue & Lonesome“ erschien vor vier Jahren und sie enthielt nur Blues-Cover.
Ronnie Wood – Somebody up there likes me (Somebody up there likes me, Großbritannien 2019)
Regie: Mike Figgis
Drehbuch: Mike Figgis
mit Ronnie Wood, Mick Jagger, Keith Richards, Charlie Watts, Damien Hirst, Rod Stewart, Imelda May, Sally Wood
The Company You Keep – Die Akte Grant (The Company you keep, USA 2013)
Regie: Robert Redford
Drehbuch: Lem Dobbs
LV: Neil Gordon: The Company you keep, 2003
Nachdem eine Weathermen-Kampfgefährtin verhaftet wird und ein neugieriger Jungspund-Journalist seine vierzig Jahre zurückliegende terroristische Vergangenheit enthüllt, taucht der angesehene Bürgerrechtsanwalt Jim Grant unter. Um, wie der Journalist vermutet, seine Unschuld zu beweisen.
Spannender, im positiven Sinn altmodischer, vor allem auf die Dialoge setzender Polit-Thriller, bei dem der Polit-Teil eher eine Beigabe ist und die vielen bekannten Gesichter, denen Robert Redford (als Grant) auf seiner Flucht vor dem FBI begegnet, erfreuen zuerst das Auge des gestandenen Kinofans und sorgen dann für eine angenehme Verunsicherung. Denn bei diesem All-Star-Ensemble ist schnell vollkommen unklar, wer nur einen kurzen Gastauftritt hat und wer nicht.
mit Robert Redford, Shia LaBeouf, Julie Christie, Susan Sarandon, Nick Nolte, Terrence Howard, Anna Kendrick, Stanley Tucci, Chris Cooper, Richard Jenkins, Brendan Gleeson, Brit Marling, Sam Elliott, Stephen Root, Jackie Evancho
2007: Corine Sombrun (Cécile de France) ist kaum in der Lage, ihre Arbeit als Toningenieurin zu tun. Zu sehr hadert sie noch mit dem Tod ihres Mannes. Um sie abzulenken, gibt ihr Chef ihr einen einfachen Auftrag: sie soll für einen Dokumentarfilmreihe über Formen der Spiritualität atmosphärische Hintergrundgeräusche aufnehmen. Corine macht sich auf den Weg in die Mongolei, um dort das ländliche Leben und Gesänge der Schamanen aufnehmen.
Bei einer Geisterbeschwörung gerät sie in einen Trancezustand. Danach eröffnet die Schamanin Oyun ihr, dass sie eine sehr seltene Gabe habe und als Schamanin ausgebildet werden müsse.
Corine hält das selbstverständlich für ausgemachten Quatsch. Aber zurück in Paris lassen sie die Erlebnisse in der Mongolei nicht los.
Sie kehrt zurück in die Mongolei. Um sich als Schamanin ausbilden zu lassen. Und um wieder mit ihrem Mann in Kontakt zu treten. Denn als Schamanin kann sie mit den Toten reden.
Wie die Geschichte ausgeht ist bekannt. Denn Corine Sombrun schrieb anschließend das Buch „Mon initiation chez les chamanes“ (Mein Leben als Schamanin) darüber, das jetzt frei verfilmt wurde. Der unbefangene Zuschauer wird darüber und was nach der im Film gezeigten Ausbildung zur Schamanin geschah, erst am Ende informiert. Dabei macht es schon einen Unterschied, ob man „Eine größere Welt“ primär als erfundenes Drama oder als Biopic sieht; – wobei ein Biopic natürlich auch und in erster Linie als Drama funktionieren muss. Sonst hätten die Macher einen Dokumentarfilm machen können.
Im Fall von „Eine größere Welt“ entschieden Regisseurin Fabienne Berthaud und ihre Co-Autoren Claire Barré sich dafür, Corine Sombruns Geschichte vor allem als Selbstfindungsdrama mit Schamanen-Beigabe zu erzählen. Im Mittelpunkt steht Corines Wunsch, noch einmal ihren Mann zu treffen. Mit schamanischen Praktiken könnte es ihr gelingen. Und wenn sie dafür zu einer Schamanin werden muss, dann ist es so.
Das angenehme an diesem Blickwinkel ist, dass das Schamanentum und schamanische Praktiken nur ein Mittel zum Zweck sind. Der ganze religiös-esoterische Schwurbel, der mit dem Thema verbunden ist und zu oft unerträglich predigenden Filmen führt, bleibt damit eine Nebensache.
Trotzdem setzt sich „Eine größere Welt“ ziemlich unbekümmert zwischen die Stühle, indem verschiedene, sich eigentlich ausschließende Erklärungen und Interpretationen der Welt gleichberechtigt nebeneinander gestellt werden. Berthaud favorisiert über weite Strecken die psychologische Erklärung, in der Corine das Schamanentum benutzt, um an ihr Ziel (eine Begegnung mit ihrem Mann) zu kommen. Die religiöse Erklärung, dass das Schamanentum ein Brauch ist, der wirklich und wahrhaftig Gespräche mit Geistern eröffnet, wird später wichtiger. Und am Ende, im Abspann, wenn Berthaud uns darüber informiert, dass Corinne nach ihrer Ausbildung als Schamanin sich mit Wissenschaftlern zusammentat, um herauszufinden, was während schamanischer Riten im Kopf geschieht, gibt es die wissenschaftlich-rationale Erklärung. Sombrun initiierte die erste wissenschaftliche Studie über Trancezustände mongolischer Schamane und ein Forschungsprogramm, das sich mit selbstinduzierter, kontrollierter Trance beschäftigt. Inzwischen wird überlegt Trancezustände in der Psychiatrie als Behandlungsmethode einzusetzen. Diese wissenschaftliche Erklärung versperrt – gottseidank! in letzter Minute – die religiös-esoterische Erklärung, wie wir sie aus Faith-based-Movies kennen. Allerdings wurde diese Erklärung im vorherigen Film nicht vorbereitet. Zwar geht Corine nach ihrer ersten Reise in die Mongolei zu einem Arzt und lässt sich auch ausführlich untersuchen, aber die verschriebenen Tabletten nimmt sie nicht ein. In den Momenten wird sogar eine anti-wissenschaftliche Interpretation, also dass es keine rationale, sondern nur eine mythische Erklärung für das Schamanentum gibt, nahegelegt. Und Corinne ist keine Wissenschaftlerin, sondern eine Frau, die als Toningenieurin im Musik- und Kunstbereich arbeitet. Entsprechend unvermittelt kommen die Informationen über die von ihr initiierten medizinischen Forschungen.
„Eine größere Welt“ ist ein leicht sperriges Selbstfindungsdrama mit einer gewohnt überzeugenden Cécile de France und, wenn der Film im ersten und letzten Drittel in der Mongolei ist, schönen Landschaftsaufnahmen. Dafür fuhren Fabienne Berthaud und ihr Team, wie Jahre vorher Corine Sombrun, in die Mongolei.
Eine größere Welt (Un monde plus grand, Frankreich/Belgien 2019)
Regie: Fabienne Berthaud
Drehbuch: Fabienne Berthaud, Claire Barré
LV: Corine Sombrun: Mon initiation chez les chamanes, 2004 (Mein Leben mit den Schamanen)
mit Cécile de France, Narantsetseg Dash, Tserendarizav Dashnyam, Ludivine Sagnier, Arieh Worthalter, Steven Laureys, Catherine Saleé
Unheimliche Begegnung der dritten Art (Close Encounters of the third kind, USA 1977)
Regie: Steven Spielberg
Drehbuch: Steven Spielberg
Unglaublich: Anscheinend sind Außerirdische auf der Erde gelandet und sie sind überhaupt nicht böse. Jedenfalls interpretiert Normalbürger Roy Neary die Zeichen so und er macht sich auf die Suche nach ihnen.
Inzwischen ein Science-Fiction-Klassiker.
mit Richard Dreyfuss, Francois Truffaut, Teri Garr, Melinda Dillon, Bob Balaban, Lance Henriksen
LV: John Ridley: Stray Dogs, 1997 (später dann als „U-Turn“ publiziert)
Auf der Flucht vor Gläubigern bleibt Bobby Coopers 64er Mustang mitten in der Wüste liegen. Während in einer Werkstatt sein Auto repariert wird, trifft er die verheiratete Grace und seine wirklichen Probleme beginnen erst jetzt. Denn Grace will ihrem Mann Jake umbringen, Jake will Grace umbringen und beide wollen sich – gegen Bares – von Bobby helfen lassen.
Grandioses Romandebüt für die Noir-Gemeinschaft, fast grandioser Film. Denn Stones „Natural Born Killers“-Stil nervt.
Ennio Morricone schrieb die Musik.
Mit Sean Penn, Jennifer Lopez, Nick Nolte, Joaquin Phoenix, Powers Boothe, Billy Bob Thornton, Jon Voight, Claire Danes, Liv Tyler, Bo Hopkins
Ein Gauner & Gentleman (The old man & the gun, USA 2018)
Regie: David Lowery
Drehbuch: David Lowery
LV: David Grann: The Old Man and the Gun (Reportage, The New Yorker, 27. Januar 2003)
TV-Premiere. Wunderschön entspannte Schnurre über den Berufsverbrecher Forrest Tucker (Robert Redford), der 1981 nach eine Banküberfall Jewel (Sissy Spacek) trifft. Er beginnt mit der nichtsahnenden Witwe eine Beziehung, während er mit seinen Kumpels schon den nächsten Banküberfall plant.
David Lowery erzählt seine äußerst gelungene Mischung aus Liebes- und Gangsterfilm mit viel Retro-Charme als nostalgische, tiefenentspannte Abschiedsvorstellung, die noch einmal die gute alte Zeit feiert, als schlitzohrige Berufsverbrecher auch Gentleman sein konnten. Ein Film für große und kleine Lagerfeuer.
Brian Sweeney ‚Fitzcarraldo‘ Fitzgerald (Klaus Kinski) ist fassungslos: mitten im Urwald von Peru gibt es um 1900 kein Opernhaus. Das will er ändern. Auch wenn es nicht einfach ist.
Werner Herzogs bekanntester Film und, in jedem Fall, auch einer seiner besten Filme: ein großes und großartiges Dschungelepos. Gedreht vor Ort, mit seinem Lieblingsdarsteller Klaus Kinski und ohne Spezialeffekte und CGI (die gab es damals noch nicht).
mit Klaus Kinski, Claudia Cardinale, José Lewgoy, Miguel Angel Fuentes, Paul Hittscher