„Finger ab“, der neue Roman der grandiosen französischen Noir-Autorin Hannelore Cayre, beginnt wie ein typischer schwarzhumoriger Cayre-Roman. Während dem Ausheben einer Grube für einen nicht genehmigten Swimmingpool entdecken die drei polnischen Arbeiter ein Skelett. Die Auftraggeberin würde die Arbeiter am liebsten weiterbuddeln lassen, aber der Vorarbeiter lehnt ab. Erst müsse ein Priester kommen. Dieser wirft einen Blick auf die beiden Skelette und ruft die befreundete Paläontologin Adrienne Célarier an. Diese erforscht penibel den Fundort und sabotiert alle Bauplanungen der Landbesitzerin. Denn auf ihrem Grundstück in Savignac-de-Miremont in der Dordogne wurde eine exzellent erhaltene Höhle mit Wandmalereien, Gegenständen und Knochen entdeckt, die Auskunft über die Ursprünge der Menschheit vor 35000 Jahren, also während dem Aurignacien, geben kann.
Der restliche Roman springt dann zwischen einer Pressekonferenz von Adrienne Célarier über die wissenschaftliche Sensation und der Vergangenheit hin und her. In dem Moment wird „Finger ab“ zu einer Abenteuergeschichte, in der Oli in ihrem Sippe eine Außenseiterin ist. Sie jagt und erfindet dabei Wurftechniken, die Tiere über eine größere Distanz töten können. Sie widerspricht Ältester Onkel. Er ist der älteste Mann der Sippe und deshalb ihr Führer. Wenn Oli und die anderen Frauen ihre Pflichten vernachlässigen oder sich unbotmäßig verhalten, hackt er ihnen immer wieder einen Finger ab.
Als Oli zufällig entdeckt, wie Kinder gezeugt werden, gerät das Leben zwischen Männern und Frauen aus dem Lot.
Olis Geschichte ist eine in der heutigen Sprache geschriebene feministische Neuinterpretation unserer Frühgeschichte. Als Abenteuergeschichte funktioniert dieser Bildungsroman ausgezeichnet. Es gibt auch einige Menschen, die einen gewaltsamen Tod erleiden. Aber dadurch wird „Finger ab“ nicht zu einem Kriminalroman. Und den typischen Cayre-Humor gibt es auch nur auf den allerersten Seiten.
Insofern ist „Finger ab“ vor allem etwas für die Cayre-Komplettisten und die Fans von historisch grundierten Abenteuergeschichten. In ihrem Nachwort geht sie ausführlich auf die von ihr verwendeten Quellen ein.
Die Originalausgabe erschien bereits vor über achtzig Jahren. Trotzdem liest sich die Geschichte brennend aktuell. Gerald Kersh erzählt in der Novelle „Hirn und zehn Finger“ von einer kleinen Truppe jugoslawischer Kämpfer während des Zweiten Weltkriegs. Mitten in der Nacht überfallen sie ein Lager der italienischen Besatzer. Sie bringen einige Italiener um, einige von ihnen sterben und sie können mit ihrer Beute das Lager verlassen. Mit dem geklauten Dynamit und den Zundschnüren wollen sie später Anschläge gegen die Italiener und die Nazis verüben. Jetzt müssen sie nur schnell entkommen.
Aber der Regen hat die Bistrica zu einem reißenden Strom anschwellen gelassen, der die Brücke, die sie auf ihrer Flucht benutzen wollten, wegriss. Sie haben höchstens eine Stunde, um eine Behelfsbrücke zu errichten und ihr Leben ihren mordgierigen Verfolgern zu retten.
Kersh lässt die knapp 110-seitige Geschichte nacheinander von verschiedenen Erzählern erzählen. Nämlich dem sechzehnjährigen Andrej, dem ‚Narr‘ Klemen, der in höchster Not das Kommando übernimmt und Anweisungen zum Bau der Notbrücke gibt, den Deutschen- und Italienerhasser Stefek und Jeriza, einer jungen Frau, die mit ihrem Vater den Partisanen vom anderen Flussufer aus helfen will. Jeder dieser Ich-Erzähler hat eine unverwechselbare Stimme und eine eigene Perspektive auf die Ereignisse. Durch den Kunstgriff mit den verschiedenen Erzählerstimmen gelingt Kersh auf wenigen Seiten ein vielschichtes Bild der Ereignisse in dieser Nacht und er verleiht den einzelnen Figuren mit wenigen Worten eine große Tiefe.
Die Geschichte spielt 1943 und sie ist ein Heldenlied auf die Tapferkeit der Widerstandskämpfer. Sie haben keine Chance, aber sie kämpfen weiter. Und weil die Parallelen zum Ukraine-Krieg, wo Ukrainer tapfer ihr Land gegen einen übermächtigen Gegner verteidigen, offensichtlich sind, liest sich „Hirn und zehn Finger“ wie eine gerade erst geschriebene spannende Geschichte über eine kleine Episode aus einem Krieg. Man müsste nur einige Worte austauschen und schon würde Kershs Geschichte in der heutigen Ukraine spielen.
Noir-Autor Gerald Kersh lebte von 1911 bis 1968. Er war während des Zweiten Weltkriegs ein Bestsellerautor. Später geriet er in Vergessenheit und wurde vor einigen Jahren wiederentdeckt.
Sein bekanntester Roman ist „Nachts in der Stadt“ (Night And The City, 1938). Der Noir wurde zweimal verfilmt. Einmal 1950 von Jules Dassin als „Die Ratte von Soho“ mit Richard Widmark in der Hauptrolle. Der Film gilt als Klassiker. Einmal 1992 von Irwin Winkler als „Night and the City“ mit Robert De Niro in der Hauptrolle.
„Hirn und zehn Finger“ ist der vierte bei pulp master erschienene Noir von Gerald Kersh. Davor erschienen dort seine ebenfalls lesenswerten Romane „Die Toten schauen zu“, „Ouvertüre um Nitternacht“ und „Nachts in der Stadt“.
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Gerald Kersh: Hirn und zehn Finger
(übersetzt von Angelka Müller, mit einem Nachwort von Angelika Müller und Frank Nowatzki)
Ehrliche Polizisten gibt es vielleicht im Fernsehen. Bei Ken Bruen gibt es in seinem siebten und letzten Brant-Roman, der jetzt auf Deutsch erschien, nur ehrlich korrupte und verbrecherische Polizisten, die Dienstvorschriften höchstens als lässliche Empfehlungen behandeln.
Inspektor Brant ist ein in seinem Revier Südost-London von Kollegen und Verbrechern gleichermaßen gefürchteter Cop. Bislang überlebte er jeden Versuch, ihn aus dem Polizeidienst zu entfernen. Das könnte sich jetzt ändern. Auf den ersten Seiten von „Scharfe Munition“ wird er im King’s Arms angeschossen und schwer verwundet. Während er im Krankenhaus behandelt wird, jagen seine Kollegen den Täter.
Gleichzeitig müssen sich Brants Kollegen, wie wir es aus den Polizeiromanen des von Brant abgöttisch verehrten von Ed McBain kennen, mit zahlreichen anderen Fällen herumschlagen. Aber im Gegensatz zu McBains ehrlichen Cops aus dem 87. Polizeirevier einer erfundenen US-amerikanischen Großstadt (die verdächtig an New York City erinnert), die Verbrechen aufklären wollen, sind Bruens Cops eher das Gegenteil.
So wird Police Constable McDonald, nachdem er eine Jugendliche verprügelte, von einem davon begeisterten Rentner zur Mitarbeit in einer Bürgerwehr erpresst. Schon deren erster Einsatz gegen das lokale Verbrechen läuft spektakulär aus dem Ruder. Am Ende ist ein Mitglied der Bürgerwehr, ein 75-jähriger Rentner, tot.
Sergeant Falls jagt eine Bande Happy Slappers. Das sind Jugendliche, die andere Menschen schlagen, ihre Attacken auf ihrem Handy aufnehmen und die Bilder verschicken. Weil Falls nicht vorankommt, bedient sie sich der bewährten Methode Brant: „Besorg dir ein Handy mit Kamera, dann schnapp dir den erstbesten Idioten, der dir über den Weg läuft. Verhafte ihn.“ Dummerweise wählt sie den falschen Mann als Schläger aus.
Und, als ob das alles nicht schon genug Stoff für einen knapp zweihundertseitigen Noir wäre, wurde die mehrfache Mörderin Angie aus der Haft entlassen. Im Gefängnis hatte sie sich zur Rechtsexpertin weitergebildet und Fehler in ihrem Strafverfahren entdeckt. Jetzt will sie sich an ihrer Anwältin rächen.
Shamus-, Macavity- und Barry-Gewinner Ken Bruen erzählt das alles gewohnt knapp und äußerst schwarzhumorig.
Mit „Scharfe Munition“ liegen Ken Bruens sieben Noirs mit Inspektor Brant (von denen der erste 2011 von Elliott Lester mit Jason Statham in der Hauptrolle verfilmt wurde) auf Deutsch vor und sie können, wie ich es getan habe und allen empfehlen würde, chronologisch gelesen werden. So entfalten die Verstrickungen der einzelnen Polizisten ihre volle Wucht.
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Ken Bruen: Scharfe Munition
(übersetzt von Karen Witthuhn, mit einem Nachwort von Anthony J. Quinn)
Liegt es am neuen Verlag, an den Auswirkungen von Corona mit viel freier Zeit zum Schreiben oder dass die Kinder aus dem Haus sind (Hat er welche?) und seine Frau ihn in sein Schreibzimmer schickt, damit sie ihre Ruhe hat? Keine Ahnung, aber seitdem Horst Eckert zu Heyne gegangen ist, veröffentlicht er jedes Jahr einen neuen Polizeithriller. Dieses Jahr heißt das Werk „Nacht der Verräter“ und es ist endlich wieder ein Einzelroman.
Im Gegensatz zu seinen Serienromanen, zuletzt den vier bei Heyne erschienenen Melia-Adan-Vincent-Veih-Romanen, kann Horst Eckert in seinen Einzelromanen mit seinen Figuren skrupelloser umgehen. In seinem nächsten Roman müssen sie nicht wieder mitspielen. Das eröffnet erzählerische Freiräume, die ein Autor bei einer Serienfigur nicht hat. Eine Serienfigur muss am Ende des Romans in einem Zustand sein, der es ihr ermöglicht, weitere Abenteuer zu erleben. Eine Serienfigur kann nur eine begrenzte Menge Leid ertragen, ehe es absurd unglaubwürdig wird. Bei einem Einzelroman muss Eckert sich darüber keine Gedanken machen. Alles ist möglich.
Gleichzeitig schuf Eckert von Anfang an eine Kontinuität zwischen seinen düsteren Polizeiromanen, indem er aus vorherigen Romanen bekannte Figuren als Nebenfiguren immer wieder auftreten ließ. Sie wurden älter und arbeiteten in verschiedenen Positionen in und außerhalb der Düsseldorfer Polizei. In „Nacht der Verräter“ verzichtet Eckert fast vollständig auf solche Kurzauftritte. Das ist für Eckert-Gesamtleser etwas enttäuschend, weil das vertraute Gefühl, bekannte Figuren wieder zu treffen, fehlt, aber angesichts der Geschichte mehr als verschmerzbar.
Im Mittelpunkt von „Nacht der Verräter“ steht Max Bauer. Bei einem Routineeinsatz wurde er schwer verletzt. Seine Kollegin starb. Seitdem arbeitet er im Stab des Polizeipräsidenten am Schreibtisch.
Während eines Urlaubs vor einem Jahr lernte Max seine jetzige Frau Julia und ihre jetzt fast dreijährige Tochter Emilia kennen und lieben. Über Julias Vergangenheit weiß er nichts, aber er weiß, dass er sie liebt und sie ihn. Das Gleiche gilt für Emilia. Sie ist seine Tochter.
Als Julia nach einer Familienfeier spurlos verschwindet, beginnt er sie zu suchen. Aber er hat keine Ahnung, wo er mit seiner Suche beginnen soll.
Zur gleichen Zeit wird Frodo, begnadeter Gitarrist und Aushilfsverkäufer im „Music Point“, ermordet. Amateurgitarrist Max ist oft in dem Geschäft seines Onkels Albert. Vor kurzem hat er für ihn auch zwei Gitarreverstärker in den Niederlande abgeholt.
In dem Musikgeschäft hängen auch seine Brüder ab. Sie sind, wie er, Polizisten und möglicherweise in illegale Geschäfte verwickelt. Das vermuten jedenfalls die internen Ermittler, die Max eines dieser vergifteten Angebote unterbreiten, das er nicht ablehnen kann: entweder er bespitzelt seine Brüder und seinen Onkel oder er wird wegen des Transports von Drogen angeklagt. Denn er beförderte, ohne es zu wissen, vor kurzem keine Gitarrenverstärker, sondern Drogen.
Max versucht also gleichzeitig Julia zu finden (und er erfährt bei dieser Suche einige unschöne Dinge über sie), die Wünsche der internen Ermittler zu befriedigen und seine Familie und Freunde vor einer Bestrafung zu retten. Beides ist zur gleichen Zeit nicht möglich.
Nachdem Eckerts vorherigen Polizeikrimis schon seit Jahren locker auch und teilweise vor allem Polit-Thriller waren, ist „Nacht der Verräter“ wieder ein waschechter Polizeikrimi mit korrupten Polizisten, die in kriminelle Geschäfte verwickelt sind und die in einen Krieg mit Drogenbanden geraten.
Eckert erzählt das gewohnt faktengesättigt und nah an der Wirklichkeit und den aktuellen Schlagzeilen. So muss Max Bauer sich mit der polizeilichen Begleitung von Demonstrationen zum aktuellen Israel-Palästina Konflikt herumschlagen. Die aus den Niederlande kommende Mocro-Mafia ist in die Drogengschäfte von Max Familie verwickelt.
Die Geschichte, die Eckert erzählt, ist ebenfalls gewohnt dicht geplottet. Auch wenn Menschen, die ihren Harlan Coben gelesen haben, schon kurz nach Julias Verschwinden einige gar nicht so falsche Vermutungen über Julias Vergangenheit anstellen werden. Das Ende und der Weg dorthin gestalten sich dann allerdings überraschend und ziemlich verwickelt. Schließlich jongliert Max Bauer, während er sich fragt, wem seine Loyalität gehören soll, gleichzeitig mit mehreren Bedrohungen für sich und seine Familie.
„Nacht der Verräter“ ist eine spannende Lektüre für ein verlängertes Wochenende. Oder eine schlaflose Nacht.
2007 erschien im Heyne-Verlag „L. A. Crime Report“, eine Sammlung von Reportagen, die Michael Connelly schrieb, bevor er mit seinen Harry-Bosch-Polizeiromanen weltweit Millionen Leser begeisterte. Sein mit dem Edgar ausgezeichnetes Romandebüt „Schwarzes Echo“ (The Black Echo) erschien 1992.
Jetzt veröffentlichte der Kampa Verlag unter dem Titel „Cops und Killer“ den Sammelband wieder – und ich hole meine alte Besprechung aus den Tiefen des Internets, entstaube sie (Hust!) und poste sie in leicht aktualisierter Form wieder:
Das neueste Buch “Cops und Killer“ von Michael Connelly ist eigentlich ein vollkommen überflüssiges Buch. Connelly-Fans wissen, dass er vor seiner Schriftstellerkarriere Polizeireporter für den „South Florida Sun-Sentinel“ und die „Los Angeles Times“ war. Diese Artikel verstauben, wie hunderttausende weitere Zeitungsartikel, in den Archiven der Zeitungen und Bibliotheken, wenn es nicht einen Grund gäbe, sie wieder auszugraben. Der Grund bei Michael Connelly ist ganz einfach. Er ist heute einer der großen zeitgenössischen Krimiautoren. Mit seinen Einzelwerken und, vor allem, der Harry Bosch-Reihe eroberte er weltweit die Herzen der Krimifans. Bei seinen Romanen fällt immer wieder auf, wie genau sie recherchiert sind und wie präzise die zahlreichen Informationen in der Geschichte präsentiert werden. Das lernte Connelly, wie die im irreführend betitelten „Cops und Killer“ abgedruckten Texte zeigen, als Polizeireporter.
In „Cops und Killer“ sind nämlich etliche Reportagen und Zeitungsartikel abgedruckt, die er zwischen 1984 und 1992 für den „South Florida Sun-Sentinel“ und die „Los Angeles Times“ schrieb. Die Artikel sind unter den Überschriften „Die Cops“, „Die Killer“ und „Die Fälle“ gebündelt. Meistens sind mehrere, miteinander zusammenhängende Artikel über einen Fall zusammengefasst worden. Diese Zeitungsartikel unterscheiden sich dann auch nicht von Zeitungsartikel, die andere Journalisten über teilweise ebenfalls Aufsehen erregende Verbrechen geschrieben haben. Es werden die Fakten, garniert mit einigen Zitaten, präsentiert. Es sind über dreißig bis vierzig Jahre alte Artikel, die damals für den schnellen Gebrauch geschrieben waren und heute – wenn man nicht gerade über diese Zeit recherchiert – vollkommen uninteressant sind.
Neben diesen für den täglichen Gebrauch geschriebenen Artikeln wurden auch einige seiner Reportagen aufgenommen. In ihnen ist am ehesten die Verbindung zwischen dem Polizeireporter, der irgendwann einmal Romane schreiben wollte, und dem heutigen Kriminalromanautor erkennbar. So findet sich in „Der Anruf“ die Stelle, in der Detective George Hurt, während er am Tatort keine Miene verzieht, den Plastiküberzug an seiner Brille mit seinen Zähnen zerbeißt. Für diese Reportage begleitete Michael Connelly eine Woche lang zwei Detectives. Ebenfalls von bleibendem Interesse sind die Reportagen über die Arbeit der Polizei gegen die sich in Florida entspannenden Mafiosi („Das Open Territory“), die Zusammenarbeit der Foreign Prosecution Unit von Los Angeles mit der ausländischen Justiz, um flüchtige Straftäter vor Gericht zu bringen („Grenzüberschreitungen“), die Reportage über eine Gruppe von unfähigen Mietkillern („Wo Gangster um die Ecke knallen“) und die Fallstudien „Böse, bis er stirbt“ über einen mutmaßlichen Mörder und „Ein Leben auf der Überholspur“ über einen Serieneinbrecher.
In den Reportagen und Artikeln, in denen Michael Connelly einzelne Fälle begleitete, fällt immer wieder auf, wie einige Fälle und darin verwickelte Personen in seine Romane eingeflossen sind. Denn, so Raymond-Chandler-Fan Connelly in dem lesenswerten Vorwort: „Meine Erlebnisse mit Cops und Mördern und meine Tage als Polizeireporter waren für mich als Romanautor von unschätzbarem Wert. Den Romanautor gäbe es nicht ohne den Polizeireporter. Ich könnte nicht über meinen fiktiven Detective Harry Bosch schreiben, hätte ich nicht zuerst die realen Detectives erlebt. Ich könnte meine Mörder nicht erfinden, hätte ich vorher nicht mit ein paar richtigen gesprochen.“
Deshalb ist „Cops und Killer“ kein überflüssiges Buch. Michael Connelly-Fans, die an allen von Connelly geschriebenen Texten und vor allem an den ersten Einflüssen für seine Romane interessiert sind, haben es bereits gekauft. Aber auch für True Crime-Fans und für Journalisten ist „Cops und Killer“ ein sehr lohnenswertes Buch. Denn, so Michael Carlson, in seinem ebenfalls lesenwertem Nachwort, Michael Connelly „ist Reporter im besten Sinn des Wortes, jemand, der es versteht, Informationen zu sammeln und die hinter den Fakten versteckte Geschichte zu erkennen, jemand, der es versteht, die Eindrücke der unterschiedlichen Menschen zu sortieren und zu erkennen, wie sie diesen Fakten zugrunde liegen, und vor allem jemand, der es versteht, das alles so zu Papier zu bringen, dass auch seine Leserschaft dazu in der Lage ist.“
Die deutsche Ausgabe wurde um einen kurzen Text von Jochen Stremmel über Connelly ergänzt.
Für die aktuelle Ausgabe wurde laut Impressum die Übersetzung überarbeitet. Beim flüchtigen Überprüfen fielen mir nur Kleinigkeiten.
Es gibt zwei weitere kleinere Änderungen. In der Originalausgabe werden die Originaltitel der Reportagen, Erscheinungsdatum und -ort am Ende des Buches gesammelt aufgelistet. In der Neuausgabe werden die Originaltitel nicht mehr genannt. Das Erscheinungsdatum und der -ort stehen bei den Reportagen.
Im Gegensatz zur Originalausgabe wurde auf ein Werkverzeichnis verzichtet. Weil diese Angaben leicht im Internet, u. a. bei Wikipedia, zu finden sind, ist das kein nennenswerter Verlust.
Ein Verlust wäre es allerdings, das Buch nicht zu lesen.
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Michael Connelly: Cops und Killer – Wahre Fälle aus L. A.
(übersetzt von Sepp Leeb)
Kampa, 2024
336 Seiten
18,90 Euro
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Deutsche Erstausgabe
L. A. Crime Report
Heyne, 2007
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Originalausgabe
Crime Beat: Selected Journalism 1984 – 1992
Steven C. Vasic Publications, 2004
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Neuauflage (bei einem größeren Verlag; diese Ausgabe ist populärer)
Crime Beat: A decade of covering cops and killers
Little, Brown and Company, 2006
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Britische Ausgabe unter dem Titel “Crime Beat – True Stories of Cops and Killers” bei Orion, 2006
Als bekannt wurde, dass das „100 Bullets“-Dream-Team Brian Azzarello und Eduardo Risso eine neue Comicserie starten würden, waren die Erwartungen hoch. Autor Azzarello und Zeichner Risso hatten in „100 Bullets“ eine epische Saga erzählt, die mit kleinen Hardboiled-Noir-Geschichten beginnt und zu einer komplexen zwischen Fakt und Fiktion changierenden Alternativerzählung der USA wird.
„Moonshine“ schien da die perfekte Fortsetzung zu sein. Während der Prohibition schickt der New Yorker Mafiaboss Joe Masseria Lou Pirlo in eine entlegene Gegend der Appalachen. Pirlo soll in Spine Ridge, West Virginia, von Hiram Holt dessen selbstgebrannten Schnaps kaufen. Aber Holt will nicht verkaufen. Und in den Wäldern sind neben Schnapsbrennern und Bären auch Werwölfe. Nach einer Begegnung mit einem Werwolf wird Pirlo selbst zu einem Werwolf.
Der Auftakt der Serie ist gelungen. Aber in den späteren Sammelbänden, die in New Orleans und Cleveland spielen, verliert Brian Azzarello vollkommen den erzählerischen Faden.
Der jetzt erschienene fünfte und finale „Moonshine“-Band „Die Quelle“ führt Pirlo wieder zurück nach New York und mitten hinein in einen Krieg zwischen seinem Boss Masseria und Holt, der in New York seinen Anteil an Alkoholgeschäft haben will und dafür über Leichen geht. Zur gleichen Zeit ermittelt Bundesagent Dick Roth in einer Mordserie: ein unbekanntes Wesen tötet nachts bestialisch Menschen. Und die Nachtclubsängerin Tempest will Masseria töten. Das sind genug Konflikte für einen dicken Prohibitions-Gangsterkrimi. Azzarello und Risso handeln sie auf hundertvierzig Seiten ab.
Aber anstatt die verschiedenen neu begonnenen Plots und vielleicht noch einige ältere losen Handlungsfäden konzentriert zu einem überzeugenden Finale zusammenzuschnüren, zerfasert die Story weiter bis zum blutigen Ende.
„Die Quelle“ ist das enttäuschende Ende einer enttäuschenden Serie. Die wunderschön pulpigen Zeichnungen von Eduardo Risso können „Moonshine“ nicht retten. Aber sie machen jede Seite zu einem Vergnügen für das Auge.
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Brian Azzarello/Eduardo Risso: Moonshine: Die Quelle (Band 5)
mit Keanu Reeves, Michael Nyqvist, Alfie Allen, Willem Dafoe, Dean Winters, Adrianne Palicki, Omer Barnea, Toby Leonard Moore, Daniel Bernhardt, Bridget Moynahan, John Leguizamo, Ian McShane
Gut, es ist nicht John Wick, aber die von Keanu Reeves erfundene Figur B, halb Mensch, halb Gott, verdammt zu einem Leben voller Gewalt und unsterblich, sieht in den von Keanu Reeves und Matt Kindt geschriebenen und Ron Garney gezeichneten Comics wie Keanu Reeves aus. Die drei „BRZRKR“-Comicbände erschienen bei Cross Cult.
Ein vierter Comicband, der zwei Geschichten aus dem 80.000 Jahre dauernden Leben von B erzählt, ist für Mitte Oktober angekündigt.
Eine andere Geschichte aus dem Leben erzählt der vor wenigen Tagen im neuen Gutkind-Verlag erschienene Roman „Das Buch Anderswo“. Zusammen mit China Miéville erzählt Reeves die Geschichte über B und seiner Suche nach dem Grund für seine Unsterblichkeit als Roman.
Der Kinostart des neuen, ziemlich gelungenen „Allien“-Films „Alien: Romulus“ und die fast zeitgleiche Publikation von „Alien: Descendant“ sind eine willkommene Gelegenheit, einen Blick in die aktuellen „Alien“-Comics zu werfen. Seit 2021 erscheinen sie bei Marvel. Den Auftakt zu der neuen Serie machte Phillip Kennedy Johnson mit drei bestenfalls lose miteinander verbundenen Geschichten. Im April 2023 übergab er in einem fliegendem Wechsel an Declan Shalvey. Er schrieb zwei miteinander verbundene „Alien“-Miniserien, die auch unabhängig voneinander gelesen werden können. Diese fünf Miniserien und zwei One-Shots sind bei Panini auf Deutsch erhältlich.
In der Auftaktgeschichte „Blutlinie“, geschrieben von Phillip Kennedy Johnson, gezeichnet von Salvador Larroca, muss 2200 der pensionierte Weyland-Yutani-Sicherheitschef Gabriel Cruz noch einmal zurück auf die Forschungsstation Epsilon. Die Station wurde überfallen. Die Täter, zu denen sein Sohn Danny gehört, haben jetzt Zugriff auf die gesamten Forschungen des Konzerns über die Xenomorphe. Aber Cruz soll nicht seinen Sohn, sondern den Alpha-Embryo retten.
In „Erweckung“, der zweiten Miniserie von Phillip Kennedy Johnson und Salvador Larroca, hat eine religiöse Gruppe im Jahr 2202 den Mond Euridice bewohnbar gemacht. Jetzt hoffen die Spinners (sorry, so nennen sie sich), dass der Mond – wie United Americas (UA) ihnen versprochen hat – ihr Eigentum wird. Anschließend wollen sie dort ihr religiöses Reich errichten.
Am Tag der geplanten Übergabe taucht ein UA-Schiff auf und stürzt auf den Planeten. Die Besatzung ist tot. Die Fracht – eine Ladung Xenomorphe – nicht. Die Aliens beginnen sofort, die Spinners zu jagen.
Jane, ein geachtetes Mitglied der Sekte, das an einer degenerativen Erkrankung leidet, die ihre Bewegungsfähigkeit zunehmend einschränkt, beginnt mit einigen anderen Gläubigen gegen die ‚Hunde des Verderbens‘ zu kämpfen.
Zusätzlich ist in diesem Band die 2193 spielende Geschichte „Ein Überlebender“ aus „Alien Annual (2022) enthalten. Sie erzählt ein früheres Abenteuer von Gabriel Cruz.
In „Icarus“, der dritten und finalen Geschichte von Phililip Kennedy Johnson, dieses Mal von Julius Ohta gezeichnet, macht 2217 United Systems Army einer Gruppe rebellierender Kampfandroiden ein verlockendes Angebot: wenn sie auf Tobler-9 eine Mission erfolgreich durchführen, werden sie zu freien Bürgern.
Auf Tobler-9 hatte Weyland-Yutani einem Forschungs- und Entwicklungsstützpunkt. Auch dort wurde an Xenomorphen geforscht und ein Universalimpfstoff entdeckt. Inzwischen beherrschen die Xenomorphe den Planeten und kein Mensch würde, im Gegensatz zu den Synths, auf dem Planeten auch nur eine Minute überleben. Aber wie lange können die Synths überleben?
In „Tauwetter“, geschrieben von Declan Shalves, gezeichnet von Andrea Broccardo, geht es auf den eisigen Mond LV-695 und in das Jahr 2195. Die Wissenschaftlerin Batya Zahn will im Auftrag von Talbot Engineering Inc. (kürzlich übernommen von Weyland-Yutani) herausfinden, wie bei Terraforming-Prozessen Wasser gewonnen werden kann. Bei ihr sind ihre Tochter Zasha und Dayton, ein Androide, der die Rolle von Zashas Vater übernommen hat.
Als Zasha bei einem Ausflug in einem Eisblock ein Tier entdeckt, nimmt sie es mit in die Station.
Kurz darauf taucht ein Schiff von Weyland-Yutani auf. Wendell Theen und die von ihm angeführten Elitesoldaten übernehmen die Station. Sie wollen die Forschungsdaten und das von Zasha entdeckte Tier. Und schon beginnt ein gnadenlos geführter Kampf zwischen der Familie Zahn, den Weyland-Yutani-Soldaten und den Aliens. Denn wo ein Xenomorph ist, sind mehrere.
„Descendant“, Shalvey/Broccardos zweite und letzte „Alien“-Miniserie, ist eine Mischung aus Fortsetzung und Einzelgeschichte. 2208, dreizehn Jahre nach den in „Tauwetter“ geschilderten Ereignissen kehrt Zasha, inzwischen eine junge Frau, zurück auf den Mond LV-695. Sie will auf dem Planeten noch etwas erledigen. Die Reise unternahm sie als Mitglieder der Besatzung eines Weyland-Yutani-Bergungsschiffs, das das damals zerstörte firmeneigene Raumschiff und die Fracht bergen soll.
Kurz nach ihrer Landung werden viele Menschen Alien-Futter.
In diesem Sammelband ist auch die „Alien Annual (2023)“-Geschichte „Königsmord“ enthalten. Ohne Worte erzählen Declan Shalvey und Zeichner Danny Earls, wie die Aliens auf dem Mond LV-695 landen und sich gegenseitig angreifen.
Wie die Aliens die Menschen töten ist seit dem ersten „Alien“-Film bekannt. Dan O’Bannon und Ronald Shusett schrieben die Geschichte, Ridley Scott übernahm die Regie und H. R. Giger erschuf die furchteinflößenden Aliens. Weitere Spielfilme, Romane, Comics und Computerspiele, teils mit neuen Aliens, folgten.
Neben den Aliens, die einfach nur Menschen töten, ist der Konzern Weyland-Yutani der zweite, oft sehr im Hintergrund agierende Bösewicht der „Alien“-Welt. Weyland-Yutani schickt Raumschiffbesatzungen an Orte, in denen Xenomorphe sind. Er schickt Soldaten los. Sie sollen die Tiere oder ihre Eier mitnehmen. Alles andere ist egal. Und er forscht eifrig und ohne sich von Mißerfolgen abschrecken zu lassen an den verschiedenen Xenomorphen, die, wenn man sie steuern könnte, eine sehr effiziente Waffe wären.
Im Mittelpunkt der fünf Comic-Geschichten steht immer ein Alien-Angriff und einige Menschen, die sich verteidigen.
Das ist immer spannend, kurzweilig und auch immer wieder überraschend, aber es bleibt auch immer an der Oberfläche. Phillip Kennedy Johnson und Declan Shalvey variieren in verschiedenen Settings die bekannten Eckdaten einer „Alien“-Geschichte.
Das erinnert an das Vorgehen bei den ersten „Alien“-Filmen und bei der von Garth Ennis erfundenen Zombie-Horrorserie „Crossed“. Ennis erlaubte, nachdem er seine „Crossed“-Geschichte erzählt hatte, anderen Autoren in der von ihm erfundenen Welt Zombiegeschichten zu erzählen.
Im Gegensatz zu den sehr unterschiedlichen „Crossed“-Erzählungen wirken die „Alien“-Geschichten etwas austauschbar. Denn so spaßig es ist, verschiedene Alien-Angriffe an verschiedenen Orten zu erleben, so ähnlich und auch redundant ist das immergleiche Gemetzel der Aliens an weitgehend austauschbaren Menschen. Hier wäre, auch wenn die Geschichten dann länger würden, mehr möglich. Es muss ja nicht so verquast werden wie in den letzten beiden „Alien“-Filmen von Ridley Scott.
Für den Knaur-Verlag ist Judith Gridls „Der tiefste Punkt“ „Das Thriller-Debüt des Jahres!“. Gridls Thriller beginnt fulminant mit einer Schiffskatastrophe. 24 Menschen aus dem Ostsseedorf Reetna sterben. Sie gehörten zu einer Hochzeitsgesellschaft.
Einer der Toten ist der beste Freund von Nina Weber. Die Informatikerin und White-Hat-Hackerin beginnt zusammen mit dem Seenotrettungspiloten Matthew Callaghan nach den Hintergründen für das Unglück zu suchen. Er kam vor drei Jahren aus England nach Reetna und schweigt über seine Vergangenheit. Sie fragen sich, warum während des Unglücks die GPS-Signale gestört waren und ob das Unglück bewusst provoziert wurde.
Ausgehend von dem Schiffsuntergang in der Ostsee erzählt Gridl die Geschichte flott wechselnd zwischen verschiedenen Handlungssträngen, die in und um Reetna, auf der Internationalen Raumstation ISS und in Kenia spielen. Lange bleibt dabei unklar, was diese Orte und Menschen miteinander verbindet und warum die Hochzeitsgesellschaft sterben musste.
Judith Gridl wurde 1970 in Burghausen (Bayern) geboren. In München studierte sie Jura. Seit fast zwanzig Jahren lebt die ARD-Fernsehjournalistin mit ihrer Familie in Berlin. 2017 debütierte sie mit dem Jugendroman „Das Leben meines besten Freundes“. Außerdem schreibt sie Drehbücher und betreibt zusammen mit Klaus Rathje den Literatur-Podcast „Berliner Zimmer“.
Wir unterhielten uns über den Roman, worum es in ihm geht, wie sie schreibt, welche Bücher sie empfiehlt und über Berlin.
Für den Knaur-Verlag ist Judith Gridls „Der tiefste Punkt“ „Das Thriller-Debüt des Jahres!“. Gridls Thriller beginnt fulminant mit einer Schiffskatastrophe. 24 Menschen aus dem Ostsseedorf Reetna sterben. Sie gehörten zu einer Hochzeitsgesellschaft.
Einer der Toten ist der beste Freund von Nina Weber. Die Informatikerin und White-Hat-Hackerin beginnt zusammen mit dem Seenotrettungspiloten Matthew Callaghan nach den Hintergründen für das Unglück zu suchen. Er kam vor drei Jahren aus England nach Reetna und schweigt über seine Vergangenheit. Sie fragen sich, warum während des Unglücks die GPS-Signale gestört waren und ob das Unglück bewusst provoziert wurde.
Ausgehend von dem Schiffsuntergang in der Ostsee erzählt Gridl die Geschichte flott wechselnd zwischen verschiedenen Handlungssträngen, die in und um Reetna, auf der Internationalen Raumstation ISS und in Kenia spielen. Lange bleibt dabei unklar, was diese Orte und Menschen miteinander verbindet und warum die Hochzeitsgesellschaft sterben musste.
Judith Gridl wurde 1970 in Burghausen (Bayern) geboren. In München studierte sie Jura. Seit fast zwanzig Jahren lebt die ARD-Fernsehjournalistin mit ihrer Familie in Berlin. 2017 debütierte sie mit dem Jugendroman „Das Leben meines besten Freundes“. Außerdem schreibt sie Drehbücher und betreibt zusammen mit Klaus Rathje den Literatur-Podcast „Berliner Zimmer“.
Auf der hier in Teilen dokumentierten kurzweiligen Buchpräsentation liest sie aus ihrem Thriller-Debüt, stellt die Hauptpersonen vor, liefert Hintergrundinformationen zur Geschichte und beantwortet Fragen aus dem Publikum. Das Video endet mit einem Cliffhanger.
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Aufnahme: Freitag, 16. August 2024, Bruno-Lösche-Bibliothek (Berlin-Moabit)
No Way Out – Es gibt kein Zurück (No way out, USA 1987)
Regie: Roger Donaldson
Drehbuch: Robert Garland
LV: Kenneth Fearing: The big clock, 1946
Offizier Farrell hat eine Affäre mit der Geliebten des Verteidigungsministers. Als sie stirbt, soll Farrell die Spuren vertuschen und den Augenzeugen für die Tat finden: sich.
Enorm spannender Krimi mit Top-Besetzung und überraschenden Story-Twists bis zur letzten Sekunde.
Mit Kevin Costner, Gene Hackman, Sean Young, Will Patton, Howard Duff, George Dzundza, Brad Pitt (ist wohl irgendwann einmal als Partygast zu sehen; ist einer seiner allerersten Filmauftritte)
Die Vorlage für „No Way Out – Es gibt kein Zurück“ erzählt die Geschichte etwas anders. In dem Roman soll George Stroud, Chefredakteur des True-Crime-Magazins „Crimeways“, den Mann suchen, der Pauline Delos nach Hause begleitete. Sein Chef Earl Janoth möchte das. Denn er möchte diesem Mann, den er in der Nacht nur als Schatten gesehen hat, den Mord an seiner Geliebten Pauline Delos anhängen. Janoth ermordete sie in einem Eifersuchtsanfall. Was Janoth nicht ahnt ist, dass Stroud der Mann ist, der Delos nach Hause begleitete.
Unglaublich, aber wahr: die deutsche Erstausgabe von Kenneth Fearings „Die große Uhr“ erschien erst 2023. Im Original erschien der Noir-Roman bereits 1946. Er wurde Fearings erfolgreichstes Werk und gilt schon lange als Noir-Klassiker.
Und es wurde zweimal erfolgreich und sehr unterschiedlich verfilmt. Einmal, nah am Buch, 1947 von John Farrow. Roger Donaldson verlegte 1987 die Geschichte in die Welt der Politik und Spionage. Jetzt ist der Täter der US-Verteidigungsminister und ein hochrangiger Soldat soll den Zeugen/“Täter“ finden. Und beide Male ließen deutsche Verlage die günstige Gelegenheit, den Roman zu veröffentlichen, ungenutzt verstreichen.
Dabei ist der chronologisch, aus verschiedenen Perspektiven und mit verschiedenen Stimmen stringent erzählte Noir immer noch eine beängstigende und spannende Lektüre über einen Mann, der sich selbst jagt und sich als Unschuldiger an den Galgen liefern soll, damit der Schuldige entkommen kann. Eine wahrhaft teuflische Prämisse.
Nach seiner deutschen Erstveröffentlichung stand der Noir zweimal auf der Krimibestenliste.
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Kenneth Fearing: Die große Uhr
(übersetzt von Jakob Vandenberg, mit einem Nachwort von Martin Compart)
Als der Alexander Verlag 2005 mit „Die im Dunkeln“ (Ah, Treachery!, 1994) seine Ross-Thomas-Edition startete, hätte wohl niemand gedacht, dass der Verlag wirklich alle Romane von Ross Thomas in neuen Übersetzungen wieder veröffentlicht. Jetzt ist er fast am Ziel. Nur noch „Urne oder Sarg, Sir?“ (The Seersucker Whipsaw, 1967) fehlt.
Mit dem vor wenigen Tagen erschienenen Polit-Thriller „Die Narren sind auf unserer Seite“ liegt jetzt der 24. Roman der Neu- und Komplettedition vor. Und dieser Roman hat es in sich. 1972 erschien er bereits im Ullstein Verlag als „Unsere Stadt muss sauber werden“ bei Ullstein veröffentlicht. Und er wurde dafür so rabiat gekürzt, dass der Roman höchstens als Reader’s-Digest-Version durchgeht. Die Ullstein-Übersetzung hat 144 Seiten. Die neue Übersetzung 584 Seiten – und damit ist die jetzt erschienene vollständige Übersetzung auch für alle, die irgendwann einmal die alte Übersetzung gelesen haben, lesenswert und eine Entdeckung.
Bei der monatlichen Krimibestenliste sahen sie es ähnlich. Neuübersetzungen sind normalerweise automatisch disqualifiziert, aber in diesem Fall handelt es sich weniger um eine Neuübersetzung und vielmehr um eine Erstübersetzung. Und Erstübersetzungen können natürlich für die Krimibestenliste nominiert werden. In der aktuellen August-Krimibestenliste steht der Roman auf dem ersten Platz.
In dem Thriller geht es um eine kleine in Texas an der Küste gelegene Stadt und deren mehr oder weniger gesetzestreuen Bewohner. Lucifer Dye (Was für ein Name für einen in Shanghai in einem Bordell aufgewachsenen Mann, dessen Karriere beim US-Geheimdienst nach einem Gefängnisaufenthalt in Hongkong vorbei ist) soll für Victor Orcutt, Genie und selbsternannter Experte und Berater für städtische Probleme, die Küstenstadt Swankerton korrumpieren. Denn nach Orcutts erstem Gesetz muss es viel schlechter werden, um besser zu werden.
Zusammen mit der Ex-Prostituierten Carol Thackerty und dem Ex-Polizeichef Homer Necessary besuchen Orcutt und Dye die Stadt, die schon ziemlich viele Probleme hat. Und wenige Tage nachdem das Quartett in der Stadt eingetroffen ist, noch mehr Probleme hat.
„Die Narren sind auf unserer Seite“ ist allein schon vom Umfang sein Opus Magnum. Es ist ein verschachtelter Polit-Thriller und gleichzeitig die Lebensgeschichte von Lucifer Dye, erzählt in seinen Worten. Da sind schnell sechshundert vergnügliche Seiten zusammen.
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Deutlich kürzer ist der vierte Philip-St.-Ives-Roman von Ross Thomas. Ursprünglich erschien „Zu hoch gepokert“, der 23. Band der Ross-Thomas-Werkausgabe, unter dem Pseudonym Oliver Bleeck.
St. Ives ist ein professioneller Mittelsmann zwischen Menschen, die etwas wieder haben wollen, aber aus verschiedenen Gründen nicht zur Polizei gehen wollen, und Menschen, die den gestohlenen Gegenstand oder die entführte Person gegen eine bestimmte Geldmenge wieder zurückgeben würden. St. Ives erhält für seine Mühen eine Provision und eine Menge Ärger. So auch in „Zu hoch gepokert“.
In London wurde aus einem Privathaus das Schwert von Ludwig dem Heiligen gestohlen. Es ist mehrere Millionen wert, aber die Diebe verlangen nur hunderttausend Pfund für die Rückgabe des Gegenstands. Die Besitzer des Schwertes, die Brüder Nitry, sind Kunsthändler und halbseiden. Der Mann, der um St. Ives‘ Hilfe gebeten hat, ist Eddie Apex. Als St. Ives ihn kennen lernte, war ‚English Eddie‘ einer der besten internationalen Betrugskünstler. Inzwischen hat er reich geheiratet und sich in London zur Ruhe gesetzt. Sagt er.
Und die Diebe sind auch keine Amateure in der Welt des Verbrechens.
1973 veröffentlichte der Ullstein Verlag eine gekürzte Fassung von „The Highbinders“ unter dem Titel „Ein scharfes Baby“, nannte Oliver Bleeck als Autor und schrieb den Namen auf dem Cover auch mal falsch als Bleek. Die Ullstein-Ausgabe hat 128 Seiten. Die neue Ausgabe 256 Seiten. Und damit ist offensichtlich, dass auch bei diesem Roman vieles gekürzt oder überhaupt nicht übersetzt wurde.
„Zu hoch gepokert“ ist ein flotter Krimi, in dem etliche Gauner sich gegenseitig betrügen, schlagen und töten. Daneben wird viel Alkohol getrunken. Die Dialoge und treffenden Beschreibungen sprühen vor Witz. Der Humor ist, wie immer bei Ross Thomas, bissig, schwarzhumorig und trocken. Solche Bücher werden heute nicht mehr geschrieben.
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Und jetzt stehe ich vor der schwierigen Frage, welches Buch ich als Einstieg in die süchtig machende Welt von Ross Thomas empfehle. „Zu hoch gepokert“ ist vor allem eine witzige Gaunergeschichte, in der Gauner sich gegenseitig betrügen. Das ist eine vergnüglich kurzweilige Lektüre. „Die Narren sind auf unserer Seite“ ist ein Roman für die Freunde dickleibiger Polit-Thriller. Aber sechshundert Seiten sind sechshundert Seiten.
Zum Einstieg eignet sich da besser ein kürzeres Werk. Vielleicht sein Debüt „Kälter als der Kalte Krieg“ (The Cold War Swap, 1966). Zwei Gründe sprechen für diesen Krimi. Erstens weil es sein erster Roman ist und er schon alles hat, was seine späteren Romane so lesenswert und witzig macht. Und zweitens weil die Agentengeschichte in Deutschland (in Bonn und Berlin) spielt. Das ist dann auch eine schöne Reise in die bundesdeutsche Vergangenheit, die sechziger Jahre und die Zeit des Kalten Kriegs.
„Dornbusch“ (Briarpatch, 1984) ist auch ein guter Einstieg. In dem Polit-Thriller stirbt ein Detective durch eine Autobombe und ihr Bruder, Berater eines Senators, will ihren Mörder finden.
Außerdem erhielten beide Romane den Edgar-Allan-Poe-Preis.
Und dann gibt es noch „Umweg zur Hölle“ (Chinaman’s Chance, 1978), der erste Artie-Wu/Quincy-Durant-Roman. Der große Krimikritiker, Förderer der Kriminalliteratur und Buchhändler Otto Penzler drückte es Kunden, die nach einem guten Krimi suchten, in die Hand. Das Buch ist, so Penzler, „drop-dead perfect“.
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Ross Thomas: Die Narren sind auf unserer Seite
(übersetzt von Gisbert Haefs und Julian Haefs)
Alexander Verlag, 2024
584 Seiten
20 Euro
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Originalausgabe
The Fools in Town are on our side
1970
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Erste deutsche Übersetzung
Unsere Stadt muss sauber werden
Ullstein, 1972
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Ross Thomas: Zu hoch gepokert – Ein Philip-St.-Ives-Fall
(übersetzt von Gisbert Haefs)
Alexander Verlag, 2023
256 Seiten
16,90 Euro
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Originalausgabe (unter dem Pseudonym Oliver Bleeck)
Die Hoffnungen waren riesig. Es wurde sogar vom Ende der Geschichte gesprochen. Denn jetzt war klar, welches System das bessere war. Der Kapitalismus hatte den Kommunismus besiegt. Und Autoren von Agentengeschichten standen vor der großen Sinnkrise. Mit der Implosion des Ostblocks war der seit Jahrzehnten gepflegte Gegner verschwunden. Der Kalte Krieg, der über Jahrzehnte der zuverlässige Hintergrund für spannende Agentengeschichten war, war vorüber.
Nach einer kurzen Besinnungspause, schrieben Autoren wie John le Carré weitere Romane. Manchmal führten ihre Thriller zurück in die Welt des Kalten Kriegs. Meistens beschäftigten sie sich mit aktuellen Problemen und erkundeten verstärkt andere Ecken der Welt und Konfliktherde.
Auch James Bond, der Geheimagent ihrer Majestät mit der Lizenz zum Töten, machte nach einer längeren Pause weiter. Erst 1995 lief der erste James-Bond-Film nach dem Ende des Kalten Kriegs im Kino an.
„GoldenEye“ war auch der erste Bond-Film mit Pierce Brosnan als 007.
Seit dem vorherigen Bond-Films „Lizenz zum Töten“, für den John Gardner ebenfalls einen Roman zum Film schrieb, waren epische sechs Jahre vergangen. Das war bis dahin die längste Pause zwischen zwei Bond-Filmen. Der untypische Bond-Film „Lizenz zum Töten“ erschien im Sommer 1989. Bond kämpft gegen einen südamerikanischen Drogenhändler. Das ist ein schmutziger, brutaler Bond-Film, mit einem Bond, der auf eigene Faust ermittelt und Selbstjustiz übt. Inzwischen kann „Lizenz zum Töten“ als gelungene Vorstudie für die Daniel-Craig-Bond-Ära und für den letzten Craig-Bond „Keine Zeit zu sterben“ gesehen werden.
Vor dem Kinostart von „GoldenEye“ – die Premiere war am 13. November 1995 in New York, der deutsche Kinostart war am 28. Dezember 1995 – fragten sich alle, ob James Bond überhaupt noch relevant oder ein Relikt aus dem Kalten Krieg sei. „GoldenEye“ war dann das gelungene Update der Serie und die gelungene Einführung eines neuen James Bond. John Gardner, der damals bereits seit 1981 James-Bond-Romane schrieb, durfte seinen zweiten James-Bond-Filmroman schreiben.
General Ourumov und die ebenso schöne wie gefährliche Killerin Xenia Onatopp, die zur russischen Geheimorganisation/Verbrecherorganisation „Janus“ gehören, haben sich den Zugang zu dem Weltraumsatellitensystem „GoldenEye“ verschafft. Damit können sie die Welt in ein Chaos stürzen. James Bond soll das Schlimmste verhindern und bei seiner globalen Hatz nach den Verbrechern trifft er auf schöne Frauen, schießwütige Soldeten und einen alten, totgeglaubten Bekannten.
Der von Martin Campbell inszenierte Film ist eine unterhaltsame Tour durch die vorherigen Bond-Filme mit einigen spektakulären Stunts, wie einem immer noch atemberaubendem Sprung von einem Staudamm und einer zerstörischen Panzerfahrt durch Sankt Petersburg, schönen Frauen, touristischen Locations und witzigen One-Linern. Pierce Brosnan überzeugt als neuer Bond für ein neues Jahrzehnt und eine neue Generation von Zuschauern.
Gardners Roman zum Film ist ein erstaunlich lustloses Werk, das nur für den Komplettisten wichtig ist. Der Text liest sich wie ein unter höchstem Zeitdruck herausgehauenes Werk, für das Gardner neben dem Drehbuch über keine weiteren Informationen über den Film oder Bilder von den Dreharbeiten verfügte. Er verzichtet, weil sie im Film anders als in seinem Buch aussehen könnten, auf jegliche Beschreibungen von Menschen und Orten.
Neueinsteiger sollten unbedingt, je nachdem, wo sie gerade einsteigen und weiterlesen wollen, zuerst einen anderen Bond-Roman von John Gardner oder irgendeinen Bond-Roman lesen. Es ist in diesem Fall fast egal, wo sie beginnen, aber natürlich sind die Bond-Romane von Ian Fleming und Anthony Horowitz (der bei seinen Bond-Romanen auf Ideen von Fleming zurückgriff) gute Startpunkte. Ebenso die anderen Bond-Romane von John Gardner. Gardner schrieb von 1981 bis 1996 vierzehn eigene James-Bond-Romane. Er versetzte Bond in die damalige Gegenwart der achtziger und neunziger Jahre.
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Wenige Wochen vor „GoldenEye“ erschien Gardners letzter Bond-Roman „KALT“ erstmals auf Deutsch. Im Original erschien er 1996.
Der Thriller spielt 1990 und 1994 und bevor Bonds Vorgesetzter M von einem Mann zu einer Frau wurde; also vor „GoldenEye“. Am Ende von „KALT“ fährt Bond zu seinem ersten Treffen mit der neuen M, die für uns immer wie Judi Dench aussehen wird.
James Bond wird nach Washington geschickt. Dort explodierte während der Landung auf dem Dulles International Airport eine vollbesetzte Passagiermaschine von Bradbury Airlines. Schon als Bond und M das Unglück am Fernseher sehen, wissen sie, dass es sich um einen Anschlag handelt. Aber sie wissen nicht wer ihn warum verübte.
In Washington trifft er Principessa Sukie Tempesta, eine frühere Geliebte von ihm. Sie hätte, wie der Selfmade-Multimillionär Harley Bradbury, der Besitzer der Airline, in dem Flugzeug hätte sitzen sollen. Kurz darauf stirbt Sukie durch eine Autobombe.
Bond will mehr über ihren Tod herausfinden.
Als Täter bieten sich die Familie Tempesta und die geheminisumwitterte Organisation KALT an. Die Tempestas sind eine italienische Verbrecherfamilie, die so sehr im Hintergrund operiert, dass sie bislang von den Geheimdiensten übersehen wurde. KALT ist die Abkürzung für eine geheimnisvolle Organisation, die sich „Kinder der Allerletzten Tage“ nennt. Zu ihr gehören Verbrecher jeglicher Couleur, die durch die Arbeit der Strafverfolgungsbehörden aus dem Geschäft gedrängt wurden und jetzt, so erklärt es der FBI-Beamte Rhabb Bond, eine Mission haben: „Diese Leute glauben, dass die einzige Möglichkeit, das Verbrechen zu bekämpfen, darin besteht, Kriminelle in die Regierung zu bringen. Diese netten Leute, die an der Spitze von KALT stehen, wollen, dass das Land fast wie ein Polizeistaat geführt wird. Sie nennen sich selbst Kinder der Allerletzten Tage, weil sie glauben, dass wir uns in der Endzeit befinden, die der Demokratie ein Ende bereiten wird.“
Ihre Methoden sind die von Mafiosi. Und eine Zusammenarbeit zwischen KALT und der Familie Tempesta wäre für die Demokratie ein Alptraum.
Auf Einladung von Toni Nicolletti, einer FBI-Undercover-Agentin, die sich über mehrere Jahre das Vertrauen der Tempestas erschlich, besucht Bond die in der Toskana abgelegen am Lago di Massaciuccoli gelegene Villa der Tempestas.
Im Gegensatz zu anderen Bond-Geschichten, in denen Bond von seinem Vorgesetzten M einen Auftrag bekommt und er diesen dann erfüllt, steht Bond hier mehr am Rand des Geschehens. Zuerst soll er in einem Team mit anderen Agenten und Spezialisten aus mehreren Ländern herausfinden, wie und warum das Flugzeugunglück geschah. Später hilft er in der Villa der Tempestas einer anderen Agentin und auch ins Finale wird er primär als Mitglied einer größeren Operation geschoben. Das und dass die Geschichte sich in zwei Teile teilt, von denen der 1990 spielende Teil der umfangreichere Teil des Thrillers ist, macht „KALT“ zu einem ungewöhnlichen Bond-Roman mit einem etwas blassem Gegner. Dafür ist deren teuflischer, im Buch nur skizzierter Plan fast schon eine prophetische Vorwegnahme aktueller Probleme.
„KALT“ ist der würdige Abschluss von John Gardners James-Bond-Serie, die immer noch im Schatten von Ian Flemings Werk steht.
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John Gardner: James Bond 007: GoldenEye
(übersetzt von Johannes Neubert)
Cross Cult, 2024
288 Seiten
18 Euro
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Originalausgabe
GoldenEye
Hodder & Stoughton, 1995
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Die Vorlage
James Bond 007: GoldenEye (GoldenEye, Großbritannien 1995)
Regie: Martin Campbell
Drehbuch: Michael France, Jeffrey Caine
LV: Charakter von Ian Fleming
Buch zum Film: John Gardner: GoldenEye, 1995 (GoldenEye)
mit Pierce Brosnan, Sean Bean, Izabella Scorupco, Famke Janssen, Judi Dench, Gottfried John, Joe Don Baker, Robbie Coltrane, Alan Cumming, Samantha Bond, Desmond Llewelyn, Tcheky Karyo, Michael Kitchen,
Hannah Abram war Polizistin. Bis sie ihren Vorgesetzten in den Kanal stieß. Danach wurde sie aus der London Metropolitan Police geworfen. Inzwischen wohnt die Endzwanzigerin zur Untermiete in einer Dachkammer und arbeitet in Digbys Imbissbude. Wenn der „erzbigotte Ausbeuter“ (Hannah über Digby) sie wegen irgendeiner Unverschämtheit nicht gerade entlassen hat, um sie einige Tage später wieder einzustellen. Sie ist zwar frech, unbeherrscht und undiplomatisch, aber auch seine beste Arbeiterin. Daneben arbeitet sie als Privatdetektivin. Sie übernimmt die kleinen Fälle der kleinen Fälle. Nachbarschaftsstreitigkeiten, nach Sonnenuntergang vor Haustüren abgelegter Müll, aus einem Garten geklautes Gemüse und entlaufene Hunde. Opfer und Täter wohnen oft Tür an Tür. Und manchmal gehören sie auch zu den Stammkunden von Digbys Imbissbude, die, nun, eine stinknormale Arbeiterklasse-Imbissbude ist.
Schwieriger als diese Kleinkram-Fälle sind für sie die beiden Fälle, in denen sie spurlos verschwundene Frauen suchen soll. In dem einen Fall will ein zu extrem zwanghaftem Verhalten neigender Auftraggeber, dass sie eine Frau findet, deren Stimme er bei einem Betrugsanruf hörte und die ihm bekannt vorkam. Er glaubt, dass es sich um seine Stiefschwester handelt. Er hat seit Jahren nichts von ihr gehört. In dem anderen Fall möchte ein Mann, dass Hannah seine untergetauchte deutlich jüngere Frau findet. Er möchte sie aus ihrer Ehe entlassen und ihr ihren Pass geben.
Diese beiden Fälle sind ermittlungsintensiver. Aber insgesamt würden Hannahs Fälle und die damit verbundene Ermittlungsarbeit auch gut in einem Kinderkrimi oder einer dieser 25-minütigen TV-Vorabendserien, die es früher gab, passen. Sogar wenn auf Seite 97 des Romans eine chronisch eifersüchtige Stalkerin ermordet aufgefunden wird, ändert sich nichts grundlegendes an Hannahs Arbeit und Leben.
Die ermordete Stalkerin hat in der Vergangenheit so viele Menschen verärgert, dass es viele Verdächtige gibt. Sie verfolgte auch Hannah mit grundlosen Anschuldigungen. Aber eine Mordermittlung ist kein Fall für eine Schnellimbissdetektivin, sondern für die Polizei, die eine solche Ermittlung mit den nötigen Mitteln und Rechten vorantreiben kann. Außerdem will Liza Cody diesen Fall in ihrem neuem Roman „Die Schnellimbissdetektivin“ nicht erzählen. Sie will lieber weiter von Hannahs kleinen Fällen und dem Alltag im Viertel erzählen.
Und so entsteht durch die Augen von Liza Codys Ich-Erzählerin Hannah Abram das Porträt einer Gemeinschaft und des Lebens in einem der weniger noblen Viertel im heutigen London. Insofern ist „Die Schnellimbissdetektivin“ mehr schwarzhumorige Sozialstudie als spannender Kriminalroman.
Dann werfen mir mal einen Blick in die Vergangenheit des „Punisher“ Frank Castle. Nachdem die Mafia seine Familie ermordete, startete der Vietnamveteran einen ultrabrutalen Rachefeldzug gegen alle Verbrecher. Seinen ersten Auftritt hatte er im Februar 1974 in „Amazing Spider-Man (1963) 129“ in einer von Gerry Conway geschriebenen und von Ross Andru gezeichneten Geschichte. In ihr will der Punisher Spider-Man töten. Seinen ersten Auftritt als Titelfigur hatte er im Januar 1986 in „Punisher (1986)“. Geschrieben wurde die mehrere Hefte umspannende Geschichte von Steven Grant. Mike Zeck zeichnete sie. 2011/2012 schrieb Greg Rucka eine legendäre, mehrere Hefte umfassende „Punisher“-Geschichte, die vor allem von Marco Checchetto gezeichnet wurde.
Alle diese und einige weitere Geschichten sind jetzt wieder erhältlich.
Beginnen wir chronologisch im Februar 1974. Die erste „Punisher“-Geschichte, geschrieben von Gerry Conway und gezeichnet von Ross Andru, ist in dem Sammelband „Punisher: Bestrafer und Vollstrecker – Die Punisher-Anthologie“ enthalten. In dieser Anthologie sind, wie in den anderen bei Panini in den vergangenen Jahren erschienenen Anthologie-Bänden (u. a. über Batman, Black Widow, Deadpool und Wonder-Woman), wichtige Auftritte der titelgebenden Figur enthalten. Wenn es sich um mehrere Hefte umfassende Geschichten handelt, ist normalerweise das erste Heft enthalten. Dazu gibt es zu jeder Geschichte eine kundige Einführung. Diese Anthologien sind damit gute Einführungen in die Geschichte der Figur und sie zeigen immer, wie sehr sich in den vergangenen Jahrzehnten bei DC und Marvel der Zeichenstil und die Art des Erzählens von Geschichten veränderten.
In der „Punisher“-Anthologie sind außer den schon erwähnten Geschichten zwei „Punisher“-Geschichten von Garth Ennis („Der Punisher killt das Marvel-Universum“ [1996] und, zusammen mit Steve Dillon, „Frank ist zurück“ [2000]), Dennis O’Neil/Frank Millers „Spider Man: Ärgernis oder Bedrohung?“ (1981), Carl Potts „Auge um Auge: Ein Sonntag im Park“ (Punisher War Journal [1988]), Chuck Dixons/John Romita Jr.s „Totentanz in Brooklyn“ (Punisher War Zone [1992]), Becky Cloonans „Die dunkelste Stunde“ (2017) und Jason Aarons „Der König der Killer“ (2022) enthalten.
„Blutspur“ war im Januar 1986 der erste Auftritt des Punishers in einer eigenen Comic-Serie. Geschrieben wurde die fünf Hefte umfassende Punisher-Geschichte von Steven Grant (Heft 5 zusammen mit Jo Duffy), gezeichnet von Mike Zeck (Heft 1 – 4) und Mike Vosburg (Heft 5). Die gesamte „Blutspur“-Geschichte erschien jetzt im Rahmen der „Marvel Must-Have“-Reihe. In dieser Reihe veröffentlicht Panini wichtige Auftritte bekannter Figuren in gebundenen Ausgaben.
Am Anfang von „Blutspur“ ist Frank Castle im Gefängnis und er genießt die Zeit im Gefängnis zwischen all den Verbrechern, die er töten kann. Als das Verbrechen außerhalb des Gefängnisses langsam außer Kontrolle gerät, schlägt ihm eine Organisation, die sich Trust nennt und aus einflussreichen und vermögenden Personen besteht, ein Geschäft vor. Sie helfen ihm bei seinem Ausbruch aus dem Gefängnis und versorgen ihn danach, wenn er es wünscht, mit Informationen, Waffen und sonstiger Ausrüstung. Dafür muss er nur weiter und ohne Rücksicht auf Verluste, Verbrecher töten.
Castle ist einverstanden – und fragt sich in den nächsten Heften, was die wahren Absichten des Trust sind und ob er mit ihm zusammenarbeiten oder ihn vernichten soll.
„Blutspur“ erzählt, vor dem realen Hintergrund der damaligen Kriminalitätswelle in US-Großstädten und der Popularität von Rächerfantasien in der Populärkultur (wie Don Pendletons in den USA sehr populären Executioner-Romanen und ungefähr jedem Hollywoodfilm mit Actionhelden wie Charles Bronson, Chuck Norris und Sylvester Stallone), eine spannende und erstaunlich komplexe Geschichte. Denn Steven Grant hinterfragt auch die Ethik des Punisher, lässt ihn an seinem Tun zweifeln und beschäftigt sich mit der Frage, wer wie Verbrechen bekämpfen darf. Das ist ziemlich nah an Frank Millers „Batman – Die Rückkehr des Dunklen Ritters“ (The Dark Knight Returns, 1986).
Diese Selbstzweifel gehörten 2011 der Vergangenheit an. Bei Greg Rucka ist Castle ein stahlharter, über Leichenberge gehender Rächer.
Von August 2011 und bis September 2012 schrieb Thrillerautor Greg Rucka Punisher-Geschichten. Es handelt sich um eine sechzehn Hefte umfassende Geschichte, die fünf Hefte umfassende Miniserie „Punisher: War Zone“ und das drei Hefte umfassende Crossover „Die Omega-Disc“ (The Omega Effect). Sie erschienen später in vier Sammelbänden, die in Deutschland nicht mehr erhältlich sind.
Deshalb ist es begrüßenswert, dass diese Geschichten jetzt bei Panini in einer Neuauflage erscheinen. Im ersten Band der Greg-Rucka-Collection „Im Kreuzfeuer“ sind Ruckas ersten zehn „Punisher (2011)“-Hefte und das Crossover „Die Omega-Disc“ enthalten.
In der großen „Punisher“-Geschichte erzählen Rucka und Zeichner Marco Checchetto bildgewaltig und mit wenig Text, wie Marine Sergeant Rachel Cole-Alves zu einer ähnlich fantatischen Verbrecherkillerin wie der Punisher Frank Castle wird, wie sie zusammen finden und gemeinsam gegen das neue Verbrechersyndikat Exchange kämpfen.
Im Gegensatz zu Castle hat Cole-Alves für diese Verbrecherjagd ein persönliches Motiv. Mitglieder des Exchange-Syndikats stürmten ihre Hochzeitsfeier und ermordeten 29 Menschen. Darunter auch den Ehemann von Cole-Alves. Sie überlebte das Massaker schwer verletzt. Jetzt möchte sie die Mörder ihres Mannes töten.
„Im Kreuzfeuer“ erzählt eine brutale Geschichte, die durch die von Rucka erfundene Cole-Alves auch den speziellen Rucka-Touch erhält. In seinen Romanen und Comics steht immer wieder eine taffe Heldin im Mittelpunkt.
Außerdem ist das Crossover „Die Omega-Disc“ (The Omega Effect), ein aus drei Heften bestehendes Crossover mit Avenging Spider-Man und Daredevil in dem Sammelband enthalten. In der Geschichte geht es um eine Disc mit unbegrenzter Speicherkapazität. Sie enthält umfassende Informationen über die größten Verbrecherkartelle. Und sie darf nicht in die falschen Hände fallen.
Beim Lesen von Ruckas Punisher-Geschichten stellt sich einerseits ein leises Bedauern ein, dass Rucka nicht weitere Punisher-Geschichten schrieb. Aber, und das tröstet, er hat viele andere Hardboiled-Geschichten geschrieben, die teils noch nicht übersetzt oder nicht mehr regulär erhältlich sind.
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Punisher: Bestrafer und Vollstrecker – Die Punisher-Anthologie
(übersetzt von Florian Breitsameter, Jörg Faßbender, Carolin Hidalgo, Bernd Kronsbein, Jürgen Petz, Reinhard Schweizer, Michael Strittmatter)
Panini Comics, 2024
320 Seiten
35 Euro
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Jo Duffy/Steven Grant/Mike Vosburg/Mike Zeck: Punisher: Blutspur (Marvel Must-Have)
(übersetzt von Reinhard Schweizer)
Panini Comics, 2023
156 Seiten
19 Euro
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enthält
Punisher (1986) # 1 – 5
Marvel, Januar – Mai 1986
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Greg Rucka/Mark Waid/Marco Checchetto: Punisher: Im Kreuzfeuer
(übersetzt von Reinhard Schweizer)
Panini Comics, 2024
284 Seiten
39 Euro
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enthält
Punisher (2011) # 1 – 10
Marvel, Oktober 2011 – Juni 2012
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Avenging Spider-Man (2011): The Omega Effect, Part 1
Spurlos verschwindet die aus Halberstadt am Harz kommende sechzehnjährige Lena Palmer. Als drei Tage nach ihrem Verschwinden im Internet ein Video auftaucht, das zeigt, wie sie von drei afrikanisch aussehenden Männern vergewaltigt wird, erhält BKA-Kommissarin Yasira Saad den Fall. Einerseits, weil sie eine gute Ermittlerin ist und sie ein gutes Team hat, andererseits weil sie eine Frau und Migrantin ist. Damit können für die Öffentlichkeit gleich einige positive Signale gesendet werden.
Aber sie und ihr Team kommen bei ihren Ermittlungen nicht weiter. Sicher, sie findet den Freund von Lena: einen siebenundzwanzigjährigen Kleindealer, der behauptet, er habe sie am Tag ihres Verschwindens nicht gesehen. Aber mehr ermitteln sie nicht.
Gleichzeitig tauchen Videos von einer sich Aktiver Heimatschutz nennenden Gruppe auf. Sie ruft zur Selbstjustiz auf. Später scheint sie solche Taten auch zu dokumentieren. Denn der entscheidende Moment, der aus einem aufrührerisch-geschmacklos-gewaltverherrlichendem Video die Dokumentation einer schweren Straftat machen würde, wird nicht gezeigt. Dennoch verfehlen die Videos, auch weil die üblichen Verdächtigen beim Anstacheln des rechts-reaktionären Volkszorns mitmachen, im Netz und auf der Straße nicht ihre Wirkung.
Da fragt Yasira sich, ob das Video von Lenas Vergewaltigung echt ist. Denn sie haben innerhalb einer Woche keine einzige erfolgsversprechende Spur gefunden. Sie konnten den Tatort nicht finden. Sie konnten die Vergewaltiger nicht finden. Aus der Bevölkerung gibt es, obwohl das Video allgemein bekannt ist, keine Hinweise auf den Tatort und die Täter.
Diese Theorie sorgt allerdings zunächst für mehr Fragen und mehr Ermittlungsansätze, die verfolgt werden müssen.
Nach Comedy (seine Känguru-Geschichten), Science-Fiction („QualityLand“) und Fantasy („Der Spurenfinder“) schreibt Marc-Uwe Kling nun einen Kriminalroman, bei dem zwei Dinge auffallen. Er ist überraschend gelungen und er ist quasi humorfrei. „Views“ ist keine schluffige Krimikomödie, in der herumgeblödelt wird, bis der Täter aufgibt, sondern ein straff erzählter düsterer Kriminalroman, der sich auf die Ermittlungen der Polizei konzentriert, verschiedene Verdächtige präsentiert, nach Motiven forscht, Spuren sucht und sich mit dem Thema Künstliche Intelligenz beschäftigt. Dabei, immerhin ist „Views“ ein Krimi, stehen natürlich die Gefahren von KI im Vordergrund.
Das ist von der ersten bis zur letzten Zeile näher an Jeffery Deaver, dem Erfinder von Lincoln Rhyme, der sich in seinen Thrillern immer wieder kundig mit den Gefahren der Informationstechnologie auseinandersetzt, als an Rita Falk oder Sebastian Fitzek.
Auf knapp 270 Seiten erzählt Marc-Uwe Kling in „Views“ eine spannende Noir-Kriminalgeschichte mit glaubwürdigen Figuren und ohne Mord und Totschlag. Gleichzeitig vertieft er sich in ein brandaktuelles und für die gesamte Gesellschaft wichtiges Thema.
Das neue Werk von Noir-Comicautor Ed Brubaker ist ein ganz altes Werk. Es erschien im Original bereits 2001 und spielt in der von Neil Gaiman erfundenem „The Sandman“-Welt. Dort hatten die Dead Boy Detectives Edwin Paine und Charles Rowland ihren ersten Auftritt. Sie sind Geister, die als Jungs starben und sich weigerten, dem Tod ins Jenseits zu folgen.
Seitdem sind sie in unserer Welt für andere Geister und einige wenige Menschen sichtbar. Für alle anderen sind sie unsichtbar. Das wird in der von Ed Brubaker erfundenen Geschichte zu einem kleinen Running Gag; wobei ich immer wieder den Eindruck hatte, dass sie mal mehr, mal weniger sichtbar waren und als Geister in unserer Welt mal mehr, mal weniger tun konnten. Halt so, wie es gerade in die Geschichte passt. Den Spaß an der Geschichte mindert es nicht. Die beiden Jungs sind große Fans von Sam Spade und Sherlock Holmes. Durch lange Tage in Kinos und Bibliotheken haben sie sich das nötige Wissen über die Arbeit eines Detektivs erworben. Das wollen sie in der von ihnen gegründeten Detektei praktisch anwenden.
Ihren ersten Auftrag in ihrem neuen Büro, einem Baumhaus, erhalten sie von der jungen Ausreißerin Marcia. Seit einiger Zeit verschwinden ihre ebenfalls auf der Straße lebenden gleichaltrigen Freunde spurlos. Kurz darauf tauchen sie wieder auf. Tot. Ihre Leichen sehen aus, als seien sie innerhalb weniger Stunden um Jahrhunderte gealtert und vollkommen ausgetrocknet. Ihr Verschwinden könnte etwas mit der Geisterwelt, magischen oder okkulten Ritualen zu tun haben.
Auf ihrer Suche begegnen die beiden Jungdetektive Francisco Marquez, dem Marquis de Marquez, und vielen anderen zwischen den Welten lebenden Wesen. Edwin und Charles sind noch sehr unerfahren und wissen wenig über die Geisterwelt. Entsprechend dankbar und oft auch leichtgläubig nehmen sie jede Hilfe, die ihnen angeboten wird, an.
Marquez erzählt ihnen eine abenteuerliche Geschichte über den Täter. Dieser ist Gilles de Rais, der im 15. Jahrhundert lebte, erkannte, dass er nicht sterben möchte und sich seitdem von dem Blut von Kindern ernährt. Das wäre eine Erklärung für das spurlose Verschwinden der vielen Kinder und den Zustand ihrer Leichen. Nur wo versteckt sich de Rais und wie sieht er aus?
„Das Geheimnis der Unsterblichkeit“ ist ein flott erzählter Jugendkrimi mit humoristischem Unterton. Für Erwachsene sind die Wendungen ziemlich vorhersehbar. Brubaker garniert die Geschichte mit einigen literarischen Anspielungen. Bryan Talbot zeichnete sie detailreich. Das ist, durchaus sympathisch, irgendwo zwischen den „drei ???“ und den Hardy Boys, die inzwischen zu einer Streamingserie wurden. Und damit wären wir bei dem Grund für die jetzt erfolgte deutsche Veröffentlichung von „Das Geheimnis der Unsterblichkeit“. Nach der „Sandman“-Netflix-Serie und einem Auftritt der beiden Geisterdetektive in einer Folge der Serie „Doom Patrol“ haben die Dead Boy Detectives jetzt eine eigene Netflix-Serie bekommen. Seit Ende April kann sie dort angesehen werden. Und sie soll gut sein.
Für Menschen, die Ed Brubaker wegen seiner Noir- und Hardboiled-Geschichten lieben, ist „Sandman – Dead Boy Detectives: Das Geheimnis der Unsterblichkeit“ keine essenzielle Lektüre. Für Fans des „Sandman“-Universums sieht das anders aus. Für sie und für Menschen, die einen Retro-Jugendkrimi lesen wollen, in dem der Fall nicht mit Smartphones und Computern, sondern mit Witz und Magie gelöst wird, sieht das anders aus. Denen dürfte die eher kurze Geschichte, in der am Ende auch das Geheimnis der Unsterblichkeit gelüftet wird, ausnehmend gut gefallen.
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Ed Brubaker/Bryan Talbot/Steve Leialoha: Sandman – Dead Boy Detectives: Das Geheimnis der Unsterblichkeit
(übersetzt von Bernd Kronsbein)
Panini Comics, 2024
108 Seiten
14 Euro
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Originalausgabe
The Sandman presents: The Dead Boy Detectives # 1 – 4
Schon vor zwei Jahren, als „City on Fire“ erschien, sagte Don Winslow, dass die Trilogie um Danny Ryan seine letzten Romane seien. Er höre mit dem Schreiben auf, um als politischer Aktivist den Trumpismus zu bekämpfen. „City in Ruins“, der fulminante Abschluss der Trilogie, ist somit sein letztes Buch.
Der Thriller beginnt sechs Jahre nach „City of Dreams“, dem zweiten Band der Trilogie. In dem Roman flüchteten Danny Ryan und seine verbrecherischen, ebenfalls zur irischen Mafia von Providence, Rhode Island, gehörenden Freunde quer durch die USA. Nach den Ereignissen aus „City on Fire“ mussten sie ihre Heimat verlassen. Die italienische Mafia, die Polizei, das FBI und andere Gangster wollten sie aus verschiedenen Gründen tot sehen. Und die große, spurlos verschwundene Heroinlieferung haben.
Am Ende von „City of Dreams“ hatten die Mafiosi an verschiedenen Orten in den USA einen mehr oder weniger sicheren Unterschlupf gefunden. Sie begannen, entgegen ihres Lebensplans, ein bürgerliches Leben.
1997 lebt Danny in Las Vegas. Er ist alleinerziehender Vater, Multimillionär und offiziell Geschäftsführer der in Las Vegas erfolgreich mehrere Casinos betreibenden Tara Group. In Wirklichkeit ist er, gegen die Glücksspielgesetze verstoßend, Teilhaber. Er will weiter expandieren und ein neues Hotel mit noch nie gesehenen Attraktionen bauen. Im Alltagsgeschäft konzentriert er sich in seinen Casinos nicht auf das Glücksspiel, sondern auf Familien-Entertainment und eine Rundum-Versorgung der Gäste, die wieder kommen sollen. Verbrechen, illegale Geschäfte und Verflechtungen mit der Mafia werden in diesen Jahren in Las Vegas unwichtiger. Dannys Las Vegas ist das Las Vegas, das in Martin Scorseses „Casino“ für den Mafiosi Sam „Ace“ Rothstein (Robert de Niro) am Ende des Films der Alptraum, der Untergang seiner Welt, ist.
Don Winslow beschreibt in kurzen Kapiteln, wie Danny versucht, seine Pläne zu verwirklichen und er dabei in immer größere Schwierigkeiten gerät. Obwohl Konkurrenten jetzt primär mit legalen Mitteln bekämpft werden, stapeln sich die Leichen.
Neben Dannys Geschichte erzählt Winslow auch weiter über das Leben der anderen aus „City on Fire“ bekannten Figuren; – solange sie nicht verstorben sind. Sie sind älter, aber ihre damaligen Taten als Kriminelle beeinflussen immer noch ihr Leben.
Für Spannung ist also gesorgt. Und während „City of Dreams“ ohne Kenntnis des ersten Bands kaum verständlich war, kann „City in Ruins“ auch vollkommen separat gelesen werden. Winslow versorgt die Leser mit den nötigen Informationen. Trotzdem ist eine chronologische Lektüre der gesamten Trilogie besser und befriedigender.
Winslows in Las Vegas spielender faktengesättigter Thriller ist der fulminante Abgesang auf das Ende einer Ära. Danach war die traditionelle, aus zahlreichen Romanen und Filmen bekannte Mafia tot. Gleichzeitig zeigt Winslow in seinem zwischen 1986 und 1998 spielendem Epos (mit einem kurzen 2023 spielendem Epilog) wie das Leben weitergeht und wie sich Einstellungen und Lebensstile verändern. Dabei stellt Winslow auf jeder Seite des dritten Bandes der Trilogie die Frage, wie sehr jeder für seine Sünden büßen muss, ob Erlösung möglich ist und wie Zufälle Leben bestimmen.
„City in Ruins ist ein grandioser Abschluss einer überzeugenden Trilogie und ein verdammt gelungener Kriminalroman, der die Regeln des Genres gleichzeitig befolgt und dehnt. Trotzdem ist „City in Ruins“ für mich kein „Roman“, sondern ein waschechter Krimi, ein Thriller und Pageturner, der den Leser mit der ersten Seite packt und knapp 450 Seiten später wieder entlässt.
Das ergibt, wenig überraschend, eine unbedingte Leseempfehlung.
Don Winslow im Maschinenhaus der Kulturbrauerei, Berlin, 26. Mai 2022 (Foto: Axel Bussmer)
Ob „City in Ruins“ wirklich Don Winslows letzter Roman ist? Das wissen wir erst in einigen Jahren. Im Moment ist für ihn das Verhindern einer zweiten Trump-Präsidentschaft wichtiger. Möge er erfolgreich sein.
Für alle, die erst jetzt Don Winslow entdecken, bricht dennoch eine tolle Zeit an. Denn sie können in den kommenden Monaten alle seine vorherigen Werke entdecken. Auch sein schlechtester Roman ist immer noch verdammt gut. Ein guter Einstieg ist „Tage der Toten“ (The Power of the Dog), seine umfangreiche, faktengesättigte Chronik des ‚war on drugs‘ und sein Durchbruch beim großen Publikum. Wem der Roman zu lang ist, kann mit einem seiner in Florida spielenden Romane beginnen. Sie sind alle sehr gut, wurden mit vielen wichtigen Krimipreisen ausgezeichnet und sie begründeten unter Krimifans seinen exzellenten Ruf. Und dann gibt es noch die Neal-Carey-Serie. Diese fünf Privatdetektiv-Krimis, die gleichzeitig seine ersten Krimis sind, sind witziger und absurder als seine später geschriebenen Romane. Sie sind gelungene Mischungen aus pulpigen Abenteuergeschichten und Krimikomödien.
Die anderen können natürlich noch einmal die Bücher von Don Winslow lesen. Oder sie werfen einen Blick auf die Werke der Autoren, die Don Winslow in seiner Danksagung als die Kollegen nennt, die ihm halfen und mit denen er freundschaftlich verbunden ist. Es sind: „Michael Connelly, Robert Parker, Elmore Leonard, Lawrence Block James Ellroy, T. Jefferson Parker, Adrian McKinty, Steve Hamilton, Lee Child, Lou Berney, Anthony Bourdain, Ian Rankin, John Katzenbach, John Sandford, Joseph Wambaugh, Gregg Hurwitz, David Corbett, TJ Newman, Mark Rubenstein, Jon Land, Richard Ford, Pico Iyer, Meg Gardiner, Dervla McTiernan, Reed Farrel Coleman, Ken Bruen, Jake Tapper, John Grisham, David Baldacci und so viele andere. (…) Mein besonderer Dank gilt natürlich dem großen Stephen King. Wie freundlich, gütig und großzügig du zu mir warst.“
Auch wenn gestandene Krimifans die meisten der hier genannten Autoren bereits seit einigen Jahren kennen sollten, kann die Danksagung mühelos als Post-Don-Winslow-Leseliste gelesen werden.
Vor sechzig Jahren, während in Frankfurt am Main der Auschwitzprozess für volle Gerichtssäle in der Stadt und Diskussionen in der ganzen deutschen Gesellschaft sorgten, fand im Hunsrück auf der Burg Waldeck ein Musikfestival statt, das der Beginn der langlebigen Karrieren von, unter anderem, Franz Josef Degenhardt, Reinhard Mey, Dieter Süverkrüp, Hannes Wader und Hanns Dieter Hüsch war.
In Jürgen Heimbachs neuestem Thriller „Waldeck“ ist das Festival der Ort, an dem am Ende des Romans die bis dahin parallel geführten Handlungsstränge zu einem furiosen Finale zusammengeführt werden und die wichtigen Figuren zum ersten Mal alle aufeinandertreffen.
Bis dahin springt Heimbach souverän zwischen den verschiedenen Plots, verknüpft geschickt die große Politik mit alltäglichen Sorgen. Er entwirft ein dichtes Porträt der damaligen Zeit und der beginnenden Umwälzungen. Die jungen Menschen wollen ein anderes Leben als ihre Eltern leben. Diese waren teilweise tief in die damals noch keine zwanzig Jahre zurückliegende Nazi-Diktatur verstrickt, leugneten standhaft ihre Mittäterschaft und versuchten, teilweise mit kriminellen Mitteln, diese zu verschleiern.
Der 35-jährige Journalist Ferdinand Broich ist einer, der etwas gegen diesen falschen Frieden tun will. Als ihm die Holocaust-Überlebende Ruth Lachmann sagt, sie habe in München einen Zahnarzt aus dem Konzentrationslager Lublin-Majdanek gesehen, der dort unter einem falschen Namen ein geachteter und vermögender Zahnarzt ist, macht Broich sich auf den Weg nach München. Er will mit seiner Informantin reden, sich überzeugen, ob der Zahnarzt Ulrich Fischer der KZ-Zahnarzt Gernot Tromnau ist und eine Reportage darüber schreiben.
Noch ehe er mit seinen Recherchen beginnen kann, erfährt er, dass die Frau, die ihm den Tipp gegeben hat, tot ist. Es soll sich um einen natürlichen Tod handeln. Immerhin war sie schon älter. Aber Broich ist misstrauisch.
Fischers Tochter Silvia soll Hajo Bremer heiraten. Der Jurist hat vermögende Eltern und legt in wenigen Tagen sein zweites Staatsexamen ab. Ihr Vater hält ihn für den perfekten Ehemann. Aber sie hat andere Pläne und sie hofft auf ihren bald anstehenden 21. Geburtstag und die damit verbundene Volljährigkeit. Als Silvia und Hajo in ihrem Elternhaus in einen Streit geraten, stößt sie ihn von sich weg. Er stolpert unglücklich und ist tot. Anstatt jetzt ihren Vater oder die Polizei anzurufen, flüchtet sie. Mit einer Aktentasche ihres Vaters, in der wichtige Dokumente über seine Vergangenheit sind. Sie will sich bei dem Waldeck-Festival mit Martin, der hoffentlich nicht nur ein Urlaubsflirt war, treffen und anschließend in Düsseldorf an der Kunstakademie studieren.
Auf ihrem Weg zum Musikfestival wird sie von Edgar Winter verfolgt. Er war bei der SS und, nach dem Krieg, Mitglied der Organisation Gehlen und, bis zu seiner Pensionierung, des BND. Für Fischer und eine kleine Gruppe von Nazi-Verbrechern, die nichts mehr von ihren damaligen Taten wissen wollen, ist er der skrupellose Problemlöser.
Im Hunsrück hadert die neunzehnjährige Wilhelmine ‚Mine‘ Karges mit ihrem Schicksal. Sie ist eine gute Turnerin und soll demnächst bei beim Kreisturnfest für ihr Dorf siegenn. Außerdem ist, auch ohne dass es explizit gesagt wird, ihre Heirat mit einem Jungen aus dem Dorf schon beschlossen. Dummerweise ist sie schwanger und nur sie kennt den Vater. Als sie von dem Festival erfährt, will auch sie das Festival besuchen. Dort hofft sie, den Vater ihres Kindes zu treffen.
Zwischen diesen Figuren springt Heimbach in knappen, die Geschichte konsequent vorantreibenden Szenen hin und her. Gleichzeitig taucht er tief in die damalige, uns heute sehr fern erscheinende Zeit ein. Er entwirft ein Panorama von einem Deutschland, das sich aus dem Muff der fünfziger Jahre befreit und auf ‚1968‘ vorbereitet.
Eine spannende Geschichtsstunde.
Jürgen Heimbach: Waldeck
Unionsverlag, 2024
352 Seiten
19 Euro
–
Bonushinweis
Ferdinand Broich trat bereits in einer kleinen, aber wichtigen Nebenrolle in dem 2020 mit dem Glauser als bester Kriminalroman ausgezeichnetem Krimi „Die Rote Hand“ auf. In dem Thriller wird 1959 in Frankfurt am Main ein Waffenhändler ermordet. Er lieferte Waffen an die algerische Befreiungsfront FNL, die damals gegen die Kolonialmacht Frankreich kämpfte.
Hauptperson des ebenfalls lesenswerten, ebenfalls nah an historischen Fakten entlang geschriebenen Noir-Thrillers ist der ehemalige Fremdenlegionär Arnold Streich. Er lebt inzwischen ein unauffälliges Leben als schlecht bezahlter, alleinstehender Wachmann. Als er von der „Roten Hand“ erpresst wird, der Waffenhändler in einer von ihm bewachten Garage ermordet wird und ein kleines Mädchen, das eine wichtige Zeugin ist, ebenfalls ermordet werden soll, ist das ruhige Leben für ihn vorbei.