White Sands – Der große Deal (White Sands, USA 1991)
Regie: Roger Donaldson
Drehbuch: Daniel Pyne
New Mexico: in der Wüste werden eine Leiche und, neben ihr, ein Koffer voller Geld entdeckt. Sheriff Ray Donezal (Willem Dafoe) will den Fall aufklären. Er nimmt die Identität des Toten an.
Zutreffend, aber die Top-Besetzung verschweigend, urteilte der Fischer Film Almanach zum Kinostart: „Ein wirrer Plot als Vorwand für vertraute Actionspielchen.“
mit Willem Dafoe, Mickey Rourke, Mary Elizabeth Mastrantonio, Samuel L. Jackson, M. Emmet Walsh, Mimi Rogers, James Rebhorn, Maura Tierney, Beth Grant
Der Krieg des Charlie Wilson (Charlie Wilson’s War, USA 2007)
Regie: Michael Nichols
Drehbuch: Aaron Sorkin
LV: George Crile: Charlie Wilson’s War: The Extraordinary Story of the Largest Covert Operation in History, 2003 (Der Krieg des Charlie Wilson)
Auf Tatsachen basierende, von der Kritik abgefeierte und für viele Preise nominierte Polit-Komödie über den liberal-demokratischen Kongressabgeordneten Charlie Wilson, der in den Achtzigern half den afghanischen Widerstand gegen die Sowjets finanziell und mit Waffen zu unterstützten.
Die Folgen – nun, heute kennen wir die weitere Geschichte von Afghanistan, den Taliban und von Al-Qaida.
Mit Tom Hanks, Julia Roberts, Philip Seymour Hoffmann, Amy Adams, Ned Beatty, Emily Blunt, Michael Spellman
Nach dem Auswärtsspiel einer College-Basketballmannschaft verschwindet eine der Spielerinnen. Und V. I. Warshawski, die die Mannschaft aus ihrem heimischen Chicago ins ländliche Kansas begleitete, hat ihren nächsten Fall. In Lawrence, Kansas, soll sie Sabrina Granev suchen. Überraschend schnell findet sie sie in einem einsam gelegenem Haus, das schon seit längeren der Ort für Drogenpartys ist.
Als Vic am nächsten Tag das Haus wieder betritt, findet sie im Keller die Leiche von Clarina Coffin – und schon ist sie mitten im Schlamassel. Denn die örtliche Polizei und ein FBI-Agent haben nichts besseres zu tun, als sie zur Verdächtigen an dem Leid der beiden Frauen zu machen.
Also nimmt Vic den Kampf gegen die Polizei, das FBI und die gut vernetzten örtlichen Verbrecher und Honoratioren auf. Sie glaubt, dass Coffin ermordet wurde. Ob das Motiv für den Mord an der alle nervenden Hobbyhistorikerin mit unklarer Vergangenheit in der Vergangenheit oder in der Gegenwart liegt, ist unklar. Also ob Coffin bei ihren Forschungen über die Zeit des Bürgerkriegs über etwas stolperte, das heute noch ein Grund für einen Mord sein könnte, oder ob sie vor jemand flüchtete und in Lancaster unter falschem Namen untertauchte oder ob es bei einem geplanten Bauprojekt mit einem verdächtig hohem geplanten Energiebedarf unsauber zugeht, weiß Vic in dem Moment noch nicht.
Aber Fans von Vic Warshawski wissen, dass sie, wie Jack Reacher, in dem Provinzort für Unruhe und die gerechte Bestrafung einiger Bösewichter sorgen wird.
„Wunder Punkt“ ist der 22. Warshawski-Kriminalroman und es ist ein typischer Warshawski-Hardboiled-Privatdetektivroman. Nur dass Vic dieses Mal, nachdem ihr vorheriger Fall in einer Katastrophe endete, an ihren Fähgikeiten als Ermittlerin zweifelt. Sie findet zwar sehr schnell die spurlos verschwundene Spielerin und, kurz darauf, eine Ermordete. Die Suche nach dem Mörder und den Hintergründen gestaltet sich dann als ein zähes Stochern im Nebel. Es gibt viele mehr oder weniger vielversprechende Ermittlungsansätze und Verdachtsmomente, aber keine wirklich heiße Spur.
Durch Vics Herumfragen und Herumstolpern auf verschiedenen Privatgrundstücken werden die durchgehend diffus bleibenden Bösewichter nervös und sie wollen Vic aus dem Weg schaffen. Auch die anderen Figuren bleiben weitgehend blass. Vic verfolgt viele Spuren, aber bis wenige Seiten vor dem Ende ist weigehend unklar, wer Coffin warum ermordete.
Das macht „Wunder Punkt“ zu einem schwächeren Warshawski-Fall.
Ihren ersten Auftritt hatte Vic Warshawski 1982 in „Indemnity Only“ (Schadenersatz).
Paretsyks Romane stehen in der Hardboiled-Tradition. Allerdings ist der von ihr erfundene Privatdetektiv eine Frau. Das war damals neu. Die nette Miss Marple und andere englische Ermittlerinnen in den gemütlichen Rätselkrimis lassen wir mal weg. Denn Vic ist das komplette Gegenteil. Sie ist genauso tough wie ihre männlichen Kollegen, wenn sie durch die dunklen Ecken von Chicago streift und sich immer wieder mit mächtigen Wirtschaftskriminellen anlegt, die jede Gesetztslücke schamlos gegenüber anderen Menschen, vor allem wenn sie über weniger Geld verfügen, und der vollkommen wehrlosen Umwelt ausnutzen. Seitdem folgten ihr und Kinsey Milhone, der von Sue Grafton erfundenen ebenso toughen Privatdetektivin, die fast zeitgleich ihren ersten Fall löste, zahlreiche weitere bei der Kritik und dem Publikum beliebte Ermittlerinnen.
1986 gründete Sara Paretsky mit anderen Autorinnen die Sisters of Crime. Ziel der Mörderischen Schwestern (so der Name der deutschen Sektion) ist es, auf Krimiautorinnen und ihre Werke aufmerksam zu machen, sie zu fördern und sich gegenseitig zu unterstützen.
Für ihre Romane und ihr Werk erhielt Paretsky in den vergangenen über vierzig Jahren zahlreiche Preise. Wichtig, um nicht eine lange Liste von Nominierungen und erhaltenen Preisen aufzuzählen, sind der 2011 auf der Bouchercon World Mystery Convention verliehene Anthony Lifetime Achievement Award. Ebenfalls seit 2011 ist sie Grand Master der Mystery Writers of Amerika und Vic Warshawski erhielt von der Private Eye Writers of America (PWA) den nur einige Male verliehenen Hammer für die beste Darstellung eines Privatdetektivs als Serienhelden.
Nachdem Paretsky früher bei Piper, Goldmann und Dumont verlegt wurde und einige ihrer Bücher nicht übersetzt wurden, hat sie seit 2018 im Ariadne Verlag ein neues Zuhause gefunden. „Wunder Punkt“ ist der sechste dort erschienene Warshawski-Roman.
Vielleicht werden in naher Zukunft ihre drei noch nicht übersetzten Warshawski-Krimis und der Einzelroman „Bleeding Kansas“ übersetzt und ihre älteren, nicht mehr erhältlichen Krimis neu aufgelegt. Bis dahin hilft nur der Gang in das nächste Antiquariat.
–
Sara Paretsky: Wunder Punkt
(übersetzt von Else Laudan)
Ariadne/Argument Verlag, 2025
500 Seiten
25 Euro
–
Originalausgabe
Pay Dirt
William Morrow/HarperCollins, 2024
–
Die Lesetour mit Sara Paretsky und Else Laudan:
Mittwoch, 10. Sept. in Hamburg: Herbstlese Blankenese, Blankeneser Segelclub
(Buchhandlung Wassermann, Tickets hier & im Laden)
Donnerstag, 11. Sept. in Hamburg-Eimsbüttel
Buchladen Osterstraße (Tickets im Laden)
Freitag, 12. Sept. in Kassel-Wilhelmshöhe
Brencher Buchhandlung Wilhelmshöhe (Tickets im Laden)
Samstag, 13. Sept. in Berlin
im silent green Kulturquartier (Tickets hier)
Dienstag, 16. Sept. in München
Amerikahaus, veranstaltet von Kriminalbuchhandlung glatteis & Krimifestival München (Tickets hier)
Die zwei Gesichter des Januars (The two Faces of January, Großbritannien/USA/Frankreich 2014)
Regie: Hossein Amini
Drehbuch: Hossein Amini
LV: Patricia Highsmith: The two Faces of January, 1964 (Unfall auf Kreta, Die zwei Gesichter des Januars)
Athen, 1962: Der kleine Betrüger Rydal (Oscar Isaac) schlägt sich als Fremdenführer durch, trifft das amerikanische Ehepaar Chester MacFarland (Viggo Mortensen) und Colette (Kirsten Dunst) und wird in einem Mordfall verwickelt. Denn auch Chester ist in betrügerische Geschäfte verwickelt.
Verrat auf Befehl (The Counterfeit Traitor, USA 1962)
Regie: George Seaton
Drehbuch: George Seaton
LV: Alexander Klein: The Counterfeit Traitor, 1958
Schweden, 1942: der schwedische Ölindustrielle Eric Erickson wird von den Allierten gezwungen, die Nazis bei einem groß angelegtem Scheingeschäft auszuspähen. Dummerweise verliebt er sich in die Gattin eines deutschen Offiziers.
George Seatons heute fast unbekannter Agentenfilm lief zuletzt vor 25 Jahren im TV.
„Obgleich auf Tatsachen beruhend, besonders im zweiten Teil mehr turbulentes Abenteuer als Zeitschicksal.“ (Lexikon des Internationalen Films)
mit William Holden, Lilli Palmer, Wolfgang Preiss, Hugh Griffith, Holger Hagen, Carl Raddatz, Charles Regnier, Wolfgang Preiss, Ingrid van Bergen, Werner Peters, Klaus Kinski, Erik Schumann
Bevor am Donnerstag der „Todesmarsch“ startet (Besprechung folgt), gibt es ein Wiedersehen mit einem King-Klassiker
Tele 5, 22.10
Carrie – Des Satans jüngste Tochter (Carrie, USA 1976)
Regie: Brian De Palma
Drehbuch: Lawrence D. Cohen
LV: Stephen King: Carrie, 1974 (Carrie)
In der Schule wird Carrie von ihren Klassenkameradinnen gemobbt. Zu Hause wird sie von ihrer fanatisch-religiösen Mutter zum Gebet gezwungen. Als sie vom Schulschönling zur Abschlussfeier eingeladen wird, reagiert die telekinetisch begabte Carrie etwas übertrieben.
Horrorfilmklassiker und die erste Verfilmung einer Geschichte von Stephen King.
„Brian De Palma demonstriert in dieser ultimativen Rachefantasie mit elaborierten Kamerafahrten, exzessivem Zeitlupeneinsatz und farblichen Manipulationen sein filmisches Repertoire. Unterstützt wird er dabei von großartigen Jungdarstellern, von denen viele eine erfolgreiche Hollywood-Karriere schafften.“ (Frank Schnelle/Andreas Thiemann: Die 50 besten Horrorfilme, 2010 – in dem Metaranking kommt „Carrie“ auf den zehnten Platz)
mit Sissy Spacek, Piper Laurie, Amy Irving, William Katt, John Travolta
Nach einem Bankraub flüchten zwei Bankräuber in ein verlassenes Kaff – und liefern sich schnell mit den dort lebenden Goldgräbern ein tödliches Duell.
Ein deutscher Genrefilm, ein in der Gegenwart spielender Western, der wirklich nichts von der Biederkeit und Langeweile vieler anderer deutscher Genrefilme der letzten Jahrzehnte hat, sondern originäres Kino ist.
„Ein Quasi-Western, ein Reißer und ein lyrisches Gespinst aus Farben, flirrendem Licht, Wüstensand und schemenhaften Figuren.“ (Wolf Donner, Die Zeit)
Die Musik ist von „The Can“, die Bilder von Robert Van Ackeren („Harlis“, „Die flambierte Frau“).
mit Mario Adorf, Anthony Dawson, Mascha Elm Rabben, Marquard Bohm, Sigurd Fitzek, Betty Segal
Am 19. Februar 2020 ermordet der 43-jährige Rechtsextremist Tobias Rathjen in Hanau innerhalb weniger Minuten neun junge Menschen mit Migrationsbiographie: Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov. Sechs weitere Menschen verletzt er teilweise schwer. Anschließend erschießt Rathjen seine Mutter und sich selbst.
Marcin Wierzchowski begann unmittelbar danach mit seinem Dokumentarfilm „Das Deutsche Volk“. Er befragt die Angehörigen und auch die Überlebenden des Anschlags. Er lässt sie reden. Er beobachtet sie und hält sich dabei unauffällig im Hintergrund. Über mehrere Jahre begleitet er sie und zeigt auch, wie sie um Informationen, Anerkennung ihres Leids und die richtige Form des Gedenkens kämpfen.Er zeigt, wie Rathjens Tat ihr Leben beeinflusst.
Das hat unbestritten viele starke Momente. Auch Wierzchowskis Entscheidung, den Film als SW-Film in ruhigen Bildern zu präsentieren, gefällt. Weniger, viel weniger gefällt, dass Wierzchowski sein Material chronologisch, weitgehend in der Form eines beobachtenden Dokumentarfilms präsentiert. Eine chronologische Anordnung des Materials ist grundsätzlich keine schlechte Idee. Vor allem wenn diese chronologische Erzählung von einem Verfahren oder Ereignissen eingerahmt werden, die ihr eine Dramaturgie mit einem klaren Anfang und Ende geben. Eine polizeiliche Ermittlung, ein Gerichtsverfahren oder ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss sind solche Verfahren. Wierzchowski belässt es bei der mit der Tat beginnenden chronologischen Aneinanderreihung von Ereignissen und wahrscheinlich immer zu diesem Zeitpunkt aufgenommenen Statements Betroffener. Es ist eine auf kein eindeutiges Ende fokussierte, ermüdende Und-dann-Dramaturgie. Irgendwann hört „Das Deutsche Volk“ ainfach auf.
Das andere große Problem ist das eklatante Missverhältnis zwischen investierter Zeit – „Das Deutsche Volk“ dauert 138 Minuten – und Informationsgewinn. Als Zuschauer muss man sich mühsam aus Nebensätzen zusammenreimen, was in der Nacht geschah und in welcher Beziehung die sprechenden Köpfe zu den Ermordeten stehen. Wierzchowski verzichtet auf ein Voice-Over. Er verzichtet auf erklärende Texteinblendungen, wozu auch Namenseinblendungen gehören. Er verzichtet auf eine Einordnung der Statements. Bei aller berechtigten, notwendigen und wichtigen Konzentration auf die Menschen, die sonst keine Stimme haben und die nach meiner Meinung schon seit Jahrzehnten zu Deutschland gehören, wäre das notwendig. So bleiben nur subjektive Statements.
Mit seinem geringen Erkenntnisgewinn ist „Das Deutsche Volk“ bestenfalls eine kleine, bewusst parteiische Ergänzung zum öffentlichen Diskurs über rechtsextremistische Taten.
Das Deutsche Volk (Deutschland 2025)
Regie: Marcin Wierzchowski
Drehbuch: Marcin Wierzchowski
mit Cetin Gültekin, Armin Kurtovic, Said Etris Hashemi, Niculescu Păun, Emis Gürbüz, Piter Minnemann
Die Mutter ist Alkoholikerin. Ihre älteste Tochter Tilda (Luna Wedler) kümmert sich um sie und ihre elfjährige Schwester Ida, studiert an einer nahe gelegenen Universität Mathematik und jobbt an der Kasse des Supermarktes. In einem Gedankenspiel versucht sie anhand der gekauften Lebensmittel zu erraten, wer sie kauft. Sie ist nur mäßig erfolgreich bei diesem Ratespiel. Zur Ruhe kommt sie im Freibad beim Schwimmen von 22 Bahnen.
„22 Bahnen“ ist auch der Titel von Caroline Wahls Bestseller-Debütroman „22 Bahnen“, der jetzt von Mia Maariel Meyer, nach einem Drehbuch von Elena Hell, mit Luna Wedler und Jannis Niewöhner in den Hauptrollen verfilmt wurde.
Nachdem die Grundpfeiler von Tildas Leben schnell etabliert sind, gerät ihr chaotisches, aber durchgeplantes Leben etwas in Unordnung. Im Freibad trifft sie auf Viktor (Jannis Niewöhner), den älteren, geheimnisumwitterten Bruder einer fünf Jahre zurückliegenden Beziehung, und ihr Lehrer informiert sie über eine Promotionsstelle in Berlin, die sie mühelos bekommen könnte. Aber dann müsste Tilda die Kleinstadt verlassen und ihre schutzbedürftige Schwester mit ihrer Mutter zurücklassen.
Als Charakterstudie und feinfühlige Beschreibung einer jungen Frau und ihres allernächsten Umfelds ist „22 Bahnen“ durchaus gelungen. Aber vieles bleibt oberflächlich und wird eher angedeutet als auserzählt. Dazu gehört auch der Plot, in dem Tilda versucht, das Selbstvertrauen ihrer jüngeren Schwester zu stärken. Er wird mit einem Voice-Over-Satz angedeutet. Es gibt später ein, zwei entsprechend interpretiertbare Szenen und dann, viele Filmminuten später, das Ergebnis ihrer Bemühungen.
Letztendlich ist „22 Bahnen“ eine weitere deutsche Coming-of-Age-Geschichte, in der die Hauptperson während des gesamten Films darüber räsoniert, dass das Leben im Dorf furchtbar sei und sie eigentlich in die große Stadt ziehen möchte. Über neunzig Minuten dreht sich die Geschichte im Kreis. Dann passiert ein Unglück, beispielsweise ein Autounfall, und die Hauptfigur verlässt das Dorf, ihre Familie und Freunde. Niemand hindert sie daran, das zu tun, was sie schon vor langer Zeit hätte tun können.
Meyer variiert diesen Grundplot an einigen Stellen. Aber die meiste Zeit des Films wird nur eine statische Situation beschrieben.
P. S.: Keine Ahnung, warum Tilda immer 22 Bahnen schwimmt.
P. P. S.: Es gibt verschiedene Hilfsangebote, die von Betroffenen und deren Umfeld in Anspruch genommen werden können und sollten.
22 Bahnen (Deutschland 2025)
Regie: Mia Maariel Meyer
Drehbuch: Elena Hell
LV: Caroline Wahl: 22 Bahnen, 2023
mit Luna Wedler, Zoë Baier, Laura Tonke, Jannis Niewöhner, Zoe Fürmann, Eleanor Reissa, Kosmas Schmidt, Ercan Karacayli
Der Körper meines Feindes (Le corps de mon ennemi, Frankreich 1976)
Regie: Henri Verneuil
Drehbuch: Michel Audiard, Félicien Marceau, Henri Verneuil
LV: Félicien Marceau: Le Corps de mon ennemi, 1975
Leclerq saß sieben Jahre unschuldig im Knast. Jetzt kehrt er in sein stinkkorruptes Heimatstädtchen zurück und will sich rächen.
Ein Belmondo ohne Action und einer rückblendenlastigen Erzählstruktur. Das war damals eine Ausnahme im Belmondoschen Ouevre. Daher ist „Der Körper meines Feindes“ vor allem etwas für die Freunde des gut abgehangenen französischen Polit-Thrillers.
Mit Jean-Paul Belmondo, Bernard Blier, Marie-France Pisie, Charles Gérard, Daniel Ivernel, Claude Brosset, Nicole Garcia
Beginne eine Geschichte immer möglichst nahe am Höhepunkt und erzähle die Geschichte chronologisch. Das sind zwei gängige und gute Tipps aus Schreibratgebern. An einen Ratschlag hält sich „Conjuring 4: Das letzte Kapitel“. An den anderen nicht. Und das ist durchaus ein Problem.
1986 gehen – ich folge der Filmgeschichte – die Geisterjäger Ed und Lorraine Warren (wieder gespielt von Patrick Wilson und Vera Farmiga) in das Haus der Smurls in West Pittston, Pennsylvania. In dem Duplex leben drei Generationen auf engstem Raum zusammen. Seit der Konfirmation ihrer Tochter Heather werden sie von übernatürlichen Erscheinungen heimgesucht.
In dem Jahr waren die Ed und Lorraine Warren eigentlich schon im Ruhestand. Aber nach dem Tod von Pater Gordon und nachdem ihre Tochter Judy von etwas in dem Haus angezogen wurde, übernehmen die Warrens den Fall. Ihr Freund Pater Gordon wurde möglicherweise irgendwie von einem Dämon, der auch in dem Smurl-Haus lebt, getötet. Judy, die die übersinnliche Begabung ihrer Mutter geerbt hat, spürt irgendeine Verbindung zu dem Haus.
Dieser für die Warrens weitgehend normale Fall soll, wie der Filmtitel andeutet, das Ende der „Conjuring“-Filmreihe sein. Jedenfalls der Hauptreihe mit Farmiga und Wilson, aber nicht der ähnlich lukrativen anderen Filmreihen und potentiellen Filmreihen aus dem „Conjuring“-Universum. Denn Judy (Mia Tomlinson) und ihr Freund und zukünftiger Ehemann Tony Spera (Ben Hardy), die hier eindeutig Nebenfiguren sind, die dem Publikum vorgestellt werden, können weitere Fälle übernehmen. Da sind der Fantasie keine Grenzen gesetzt und es können noch etliche weitere Fälle der real existierenden Warrens als Inspiration für Filme genommen werden.
Ed und Lorraine Warren waren in den USA bekannte Geisterjäger. Ed lebte von 1926 bis 2006, Lorraine von 1927 bis 2019. Aktiv waren sie ab 1952. Ihre Tätigkeit erstreckte sich dabei nicht nur auf das Jagen von Dämonen und Geistern, sondern auch auf die Vermarktung ihrer Erlebnisse in Büchern, Filmen und Vorträgen. Kritiker hielten ihre Erklärungen für die seltsamen Ereignisse weitgehend für Unfug.
Beginnen tut „Conjuring 4: Das letzte Kapitel“ allerding nicht 1986, sondern 1964. Während die hochschwangere Lorraine Warren gerade mehr über einen Dämon und einen Spiegel herausfinden will, setzen die Wehen ein. Wenig später wird ihre Tochter Judy in einem Krankenaus geboren.
Von dieser Geburt an erzählt Michael Chaves seinen Film chronologisch und zwischen den Ereignissen in der Smurl-Familie und den Warrens wechselnd. Während es bei den Smurls zunehmend dämonische Erscheinungen gibt, halten die Warrens Vorträge über ihre Arbeit, treffen sich mit Freunden, essen gemeinsam zu Abend und begutachten Tony, den neuen Freund ihrer Tochter. Auch die aus zwei Solo-Filmen bekannte besessene Puppe Annabelle ist, ohne irgendetwas zur Filmgeschichte beizutragen, mehrmals im Bild.
Diese Ouvertüre vor dem Betreten des Hauses und der anschließenden Dämonenaustreibung dauert gut neunzig Minuten (bzw. ungefähr 2/3 des Film). Sie ist nur erträglich, weil klar ist, dass es sich um vorbereitende Szenen für die irgendwann stattfindende Dämonenaustreibung handelt.
Spannend ist das allerdings nicht. Eine stärkere Identifikation mit den einzelnen Figuren will sich nicht einstellen. Die Smurl-Familie bliebt eine austauschbare Großfamilie ohne besondere Eigenschaften. Ed und Lorraine Warren sind natürlich die Hauptfiguren, aber die meiste Zeit sind sie nicht im Film und wenn doch, dann bei alltäglichen Arbeiten wie dem Haushalt (sie) und dem Abchecken des neuen Freundes ihrer Tochter beim Tischtennis, dem Reparieren des Motorrads und dem Erzählen von Geschichten (er) beschäftigt. Mit ihrer Arbeit als Geisterjäger hat das nichts zu tun. Vera Farmiga und Patrick Wilson spielen diese Szenen aus dem Leben einer glücklichen Vorstadtfamilie als habe man sie aufgrund bestehender Verträge dazu genötigt, diese banalen Szenen zu spielen. Keine dieser Szenen ist wirklich schlecht, aber jede in diesen Szenen präsentierte Information hätte man bei der Geisterjagd im Smurl-Haus wirkungsvoller präsentieren können.
Die Entscheidung der Drehbuchautoren Ian Goldberg, Richard Naing und David Leslie Johnson-McGoldrick und von Regisseur Michael Chaves (der davor „Lloronas Fluch“, „Conjuring 3: Im Bann des Teufels“ und „The Nun II“ inszenierte) die Geschichte chronologisch zu erzählen macht aus „Conjuring 4: Das letzte Kapitel“ einen behäbigen Film. Es dauert einfach viel zu lange, bis die Geschichte wirklich beginnt. Das ist der Moment, dem Ed und Lorraine Warren das Smurl-Haus betreten und mit ihrer Arbeit beginnen.
Der potentiell spannende Fall wird dann in einem halbstündigem Budenzauber erledigt, der fast alles hat, was das Herz des Geisterhaus-Horrorfilmfans begehrt. Auf Suspense und potentiell interessante Hintergründe über die in dem Haus, uh, lebenden Dämonen wird verzichtet. Ihr schreckliches Aussehen und die entsetzten Reaktionen der Menschen müssen genügen.
So ändert auch „Conjuring 4: Das letzte Kapitel“ nichts an der Tatsache, dass die ersten beiden „Conjuring“-Filme, beide inszeniert von James Wan, die besten Filme der Serie und des gesamten Conjuring-Universum sind und dass Michael Chaves ein bestenfalls mittelmäßiger Horrorfilmregisseur ist. Wenn man keinen traditionellen Geisterhaushorrorfilm erwartet, in dem ein Haus und die Jagd nach dem unerwünschten Hausgast im Mittelpunkt stehen, ist „Conjuring 4: Das letzte Kapitel“ der okaye, aber letztendlich enttäuschende Abschluss der „Conjuring“-Serie. Er ist mehr Familien- als Horrorfilm und mehr Judys Film als der Film ihrer Eltern.
Deshalb kann dieser schwache Abschluss der Serie mit den Erlebnissen von Ed und Lorraine Warren auch der Start der Erlebnisse ihrer Tochter als Dämonenjägerin sein.
Conjuring 4: Das letzte Kapitel (The Conjuring: Last Rites, USA/Großbritannien 2025)
Regie: Michael Chaves
Drehbuch: Ian Goldberg, Richard Naing, David Leslie Johnson-McGoldrick (nach einer Geschichte von David Leslie Johnson-McGoldrick und James Wan, basierend auf von Chad Hayes und Carey W. Hayes erfundenen Figuren)
mit Vera Farmiga, Patrick Wilson, Mia Tomlinson, Ben Hardy, Steve Coulter, Rebecca Calder, Elliot Cowan, Kila Lord Cassidy, Beau Gadsdon, John Brotherton, Shannon Kook, Molly Cartwright, Tilly Walker, Peter Wight, Kate Fahy
Nach einer aus dem Ruder gelaufenen Party hat die 17-jährige Anna (Franka Potente) Hausarrest. Weil sie in München an einem Casting teilnehmen will, haut sie ab. Ihre Eltern suchen sie.
Äußerst gelungene Komödie über Kinder und ihre Eltern.
mit Franka Potente, Axel Milberg, Dagmar Manzel, Farina Brock, Sibylle Canonica, Peter Ender, Thomas Schmauser, Johann von Bülow
Auch wer kein einziges Abenteuer von Arsène Lupin gelesen hat oder keinen der Filme mit ihm als Helden, wie aktuell die Netflix-Serie “Lupin” mit Omar Sy als Lupin, gesehen hat, kennt Arsène Lupin und weiß, was er tut. Er ist ein Einbrecher, ein Dieb, der mit seinen Helfern spektakuläre Coups durchführt. Oft kündigt er seine Raubzüge vorher an – und führt sie, trotz Überwachung, zum angekündigten Zeitpunkt durch. Er genießt das Leben. Er taucht unter verschiedenen Namen, Masken und Verkleidungen auf. Das war zu seinen Lebzeiten – die erste Lupin-Geschichte „L’Arrestation d’Arsène Lupin“ erschien am 15. Juli 1905 im Magazin „Je sais tout“ – deutlich einfacher als heute. Damals konnte mit einfachen Verkleidungen, wie einem falschen Bart, einer anderen Frisur oder anderer Kleidung, die eigene Identität gut verschleiert werden. Schließlich gab es vor hundertzwanzig Jahren vor allem höchst unzuverlässige Beschreibungen und Zeichnungen von Personen. Die Fotografie steckte noch in ihren Kinderschuhen.
Die ersten neun Lupin-Geschichten erschienen ursprünglich zwischen Juli 1905 und Mai 1907 in „Je sais tout“. Schon im Juni 1907 wurden sie in dem Sammelband „Arsène Lupin, der Gentleman-Gauner“ veröffentlicht. Die erste deutsche Übersetzung des Buches erschien 1913. Weil die Lupin-Geschichten beim Lesepublikum gut ankommen, schreibt Maurice Leblanc bis zu seinem Tod 1941 vor allem Lupin-Geschichten. Diese sind – erstaunlicherweise – immer noch nicht vollständig ins Deutsche übersetzt.
Neben den etwas früher erschienenen, bei uns unbekannteren Geschichten von E. W. Hornung über den Einbrecher A. J. Raffles ist Arsène Lupin der erste Profieinbrecher als Held mehrerer Geschichten. Er war nicht der letzte beim Publikum beliegte Gentleman-Gauner.
Die in „Arsène Lupin, der Gentleman-Gauner“ versammelten Kurzgeschichten hängen sehr locker miteinander zusammen und können als eigenständige Episoden einer TV-Serie gesehen werden. In der ersten Geschichte wird Lupin, nach einer aufregenden Überfahrt in einem Transatlantikdampfer, im Hafen von New York durch Oberinspektor Ganimard verhaftet.
In den folgenden Geschichten erzählt Leblanc, wie Lupin aus dem Gefängnis ausbricht (wobe er schon während seiner Haft der Öffentlichkeit und den Wärtern den Eindruck vermittelt, dass er das Gefängnis jederzeit verlassen kann), wie er verschiedene, gerne auch vorher angekündigten Einbrüche in die Häuser vermögender Menschen durchführt und Herlock Sholmes begegnet. Leblanc wählte diesen Namen, weil Sir Arthur Conan Doyle nicht einverstanden mit einer Verwendung von Sherlock Holmes war. Weil in den Lupin-Geschichten der Meisterdetektiv von der Insel unmöglich gegen den charmanten Gentleman-Gauner gewinnen, ist das durchaus verständlich.
Wie Lupin seine Coups durchführt, ist aus heutiger Sicht und weil es sich immer um Kurzgeschichten handelt. meistens sehr offensichtlich. Aber der Franzose macht es mit Stil, Charme, gewaltfrei, einem Bewusstsein für die schönen Dinge des Lebens und immer mit dem Blick auf das Publikum, das unterhalten werden möchte, wenn er die Reichen ausraubt.
„Arsène Lupin, der Gentleman-Gauner“ besteht aus neun flott und vergnüglich zu lesenden Kurzgeschichten, die Erinnerungen an eine vergangene Zeit wecken.
–
Maurice Leblanc: Arsène Lupin, der Gentleman-Gauner
(übersetzt von Felix Meyer)
Anaconda, 2025
256 Seiten
7,95 Euro
–
Originalausgabe
Arsène Lupin – gentleman-cambrioleur
Verlag Pierre Lafitte et Cie, Paris 1907
–
Bereits erschienen in anderen Übersetzungen bei anderen Verlagen.
Conjuring – Die Heimsuchung (The Conjuring, USA 2013)
Regie: James Wan
Drehbuch: Chad Hayes, Carey W. Hayes
Bevor am Donnerstag „Conjuring 4: Das letzte Kapitel“ mit den real existierenden Geisterjägern Lorraine und Ed Warren startet, gibt es die Gelegenheit, sich die beiden ersten, besten und erfolgreichsten „Conjuring“-Filme anzusehen (innerhalb des „Conjuring“-Franchise war nur „The Nun“ an der Kinokasse erfolgreicher).
In „Conjuring – Die Heimsuchung“ kämpfen die Warrens 1971 gegen einen Geist, der die neuen Bewohner eines Hauses auf Rhode Island terrorisiert.
James Wans Film ist ein feiner Old-School-Grusler, der eine vertraute Geschichte gut erzählt.
mit Vera Farmiga, Patrick Wilson, Ron Livingston, Lili Taylor, Joey King, Shanley Caswell, Hayley McFarland, Mackenzie Foy, Kyla Deaver, Sterling Jerins
Die drei Tage des Condor (Three Day of the Condor, USA 1975)
Regie: Sydney Pollack
Drehbuch: Lorenzo Semple jr., David Rayfield
LV: James Grady: Six days of the Condor, 1974 (Die 6 Tage des Condor)
Joe Turner ist ein Büromensch und Angestellter der CIA. Als er nach einem Einkauf in das Büro zurückkommt sind seine Kollegen tot und er wird gejagt. Von den eigenen Leuten, wie Turner schnell herausfindet. Turner kämpft um sein Leben.
Der spannende Thriller entstand unmittelbar nach der Watergate-Affäre und fängt – wie einige andere fast zeitgleich entstandene Filme – die damalige Atmosphäre von Mißtrauen und Paranoia gut ein.
Das Drehbuch erhielt den Edgar-Allan-Poe-Preis.
Mit Robert Redford, Faye Dunaway, Cliff Robertson, Max von Sydow, John Houseman
Die Prämisse von Jonathan Coes neuestem Roman versteht man am besten als einen Versuch, mit einem Satz die Geschichte zu erfassen und so dem potentiellem Leser eine Idee von der Geschichte zu geben ohne dabei die Pointe (nein, nicht wer der Mörder ist) zu verraten. Also: in „Der Beweis meiner Unschuld“ wird der linke Journalist Christopher Swann in dem teilweise Anfang des 18. Jahrhunderts gebautem Luxushotel Wetherby Hall in den malerischen Cotswolds in einem verschlossenem Zimmer ermordet. Er besuchte eine British-TrueCon-Konferenz. Er wollte über diese von Extrem-Trumpisten unterstützte Versammlung Rechtskonservativer kritisch und analytisch die Hintergründe ausleuchtend, berichten. Die kurz vor ihrer Pensionierung stehende Detective Inspector Prudence Freeborne beginnt zu ermitteln. Schnell hat sie eine erkleckliche Liste Verdächtiger, die alle ein Motiv haben und den Mord hätten verübten können.
Das ist der Plot eines typischen Rätselkrimis.
Aber Jonathan Coe ist – erstens – kein Krimiautor, sondern ein Belletristikautor und Satiriker, und – zweitens – ist dieser Rätselkrimiplot nur eine Strukturierungshilfe für einen Roman, der ein schlaues Spiel mit verschiedenen Bedeutungsebenen und dem Befolgen und Ironisieren von Regeln und Konventionen innerhalb bestimmter Genres ist.
Der knapp vierhundertseitige Meta-Metaroman besteht aus einem Prolog, der eine groß angelegte Einführung in die Geschichte ist, drei Teilen, zu denen ich gleich kommen werde, und einem kurzen, die vorherigen Teile erklärenden und interpretierenden Epilog.
Der erste Teil – „Mord in Wetherby Pond – Ein Cosy-Krimi“ ist ein traditioneller Rätselkrimi, in dem das spätere Opfer am Konferenzort seinen potentiellen Mördern begegnet und eine Ermittlerin, die ganz traditionell ermittelt, indem sie die Verdächtigen befragt, Spuren auswertet und einen Geheimgang zum Tatort entdeckt.
Der zweite Teil – „Die Schattenkammer – Eine Dark-Academia-Geschichte“ ist ein Universitätsroman, der sich zu einem breit angelegtem Verschwörungs- oder Okkult-Thriller entwickeln könnte. Dieser von Brian Collier erzählte, uh, autobiographische Roman spielt in Cambridge in den frühen achtziger Jahren. Dort begegnen sich Swann und die anderen Teilnehmer an der TrueCon-Konferenz. Sie waren damals von Margaret Thatcher begeisterte Studierende. Seitdem versuchten sie in verschiedenen Positionen die Politik zu beeinflussen. Die meisten wurden dabei von sehr konservativ zu ultra-konservativ.
Dieser Teil liefert einen möglichen Erklärungsansatz für den Mord an Christopher Swann. Schließlich begegneten sich das Opfer und die möglichen Täter während der Tagung in dem Luxushotel und, vierzig Jahre früher, an der Universität.
Der dritte Teil – „P./R. – Revival – Ein autofiktionaler Essay“ bedient dann das Genre der Autofiktion, die in diesem Fall offensichtlich schon beim Erzählen gebrochen wird, weil dieser autofiktionale Roman von Phyl und Rash, die wir aus dem Prolog kennen, erzählt wird. Manchmal erzählt Phyl, manchmal Rash und manchmal erzählen Beide von ihrer Suche nach dem Mörder. Phyl jobbt nach ihrem Universitätsstudium auf dem Flughafen in einer Fast-Food-Kette und lebt wieder bei ihren Eltern. Christopher Swanns gleichaltrige Tochter Rash (kurz für Rashida) besucht sie im Prolog. In dem Moment liest Phyl zunehmend interessiert Swanns politischen Essays und sie versteht sich gut mit Rash. In „P./R.“ erzählen sie auch von Ereignissen, bei denen sie nicht dabei waren. Sie erzählen sie dann so, als ob sie dabei gewesen wären.
Dieser dritte Teil führt dann die Ermittlungen aus einer anderen Perspektive fort. Schließlich haben Phyl und Rash bei ihren Ermittlungen kaum Berührungspunkt mit DI Freebornes Ermittlungen.
Das liest sich jetzt wahrscheinlich etwas chaotisch, aber die Geschichte bleibt immer verständlich. Und weil wir wissen wollen, wer der Mörder ist, bleibt es durchgehend spannend. Zugegeben, es ist nicht die Pageturner-Spannung, die einem eine schlaflose Nacht bereitet, weil man unbedingt wissen will, wer der Mörder ist. Es ist eher die gemütliche Agatha-Christie-Rätselkrimispannung, in der eine Mördersuche ein intellektuelles Puzzle ist – und wir wissen, dass jede Abschweifung nur ein weiteres Puzzlestück zur Enttarnung des Mörders ist.
Dieses Spiel erhält durch seine präzise Verortung in der nur wenige Tage währenden Regierung von Premierministerin Liz Truss, dem feuchten Traum der Britsh-TruCon-Teilnehmer, und dem Tod von Königin Elisabeth II eine weitere Bedeutungs- und Interpretationsebene. Ihr merkt schon: „Der Beweis meiner Unschuld“ ist ein Buch, das sich gut für ein Universitätsseminar eignet.
Nach der Lektüre ist klar, das das wirklich Interessante an Coes satirischem Kriminalroman nicht der gut kontruierte Kriminalfall, sondern die gesamte Konstruktion des Romans ist. Nacheinander bedient der 1961 geborene Cambridge-Absolvent Coe verschiedene literarische Formen, imitiert sie gelungen, macht sich (etwas) über sie lustig, rechnet mit der britischen konservativen Politik der vergangenen 40+ Jahre ab und trägt dabei, nachdem er im ersten Teil viele falsche Fährten auslegte, im zweiten und dritten Teil immer wieder Mosaiksteinchen zur Lösung des Falles zusammen. Das ist ein großes Vergnügen für den literarisch gebildeten und politisch interessierten Leser.
Aber auch wer einfach nur einen guten Rätselkrimi lesen will, wird sich bis zur überraschenden Auflösung gut amüsieren.