Buch zum Film: Sam Hedrin: Network, 1976 (Network)
Wegen sinkender Quoten soll eine Nachrichtensendung eingestellt werden. Ihr Sprecher Howard Beale kündigt, weil ihm damit seine Daseinsberechtigung genommen wird, in einer der folgenden Sendungen seinen Selbstmord an. Die Quoten steigen und Beale bekommt seine eigene Sendung. Dass damit eine für alle Beteiligten verhängnisvolle Spirale in Gang gesetzt wird, ahnen sie in diesem Moment nicht.
Bitterböse Mediensatire, die heute immer noch so aktuell (in gewissen Aspekten realistischer, in anderen nicht) wie damals ist.
Der Film war für zahlreiche Preise nominiert, erhielt vier Oscars (männliche und weibliche Hauptrolle, weibliche Nebenrolle und Drehbuch) und den Preis der Writers Guild of America (WGA).
mit Peter Finch, Faye Dunaway, William Holden, Robert Duvall, Wesley Addy, Ned Beatty, Ken Kercheval, Lance Henriksen (Miniauftritt als Anwalt), Tim Robbins (ungeannter Kurzauftritt als Mörder; sein Filmdebüt)
Ein informatives Making of. Den insgesamt sehenswerten Kriegsfilm habe ich hier besprochen.
Im Westen nichts Neues (Deutschland 2022)
Regie: Edward Berger
Drehbuch: Edward Berger, Lesley Paterson, Ian Stokell
LV: Erich Maria Remarque: Im Westen nichts Neues, 1929
mit Felix Kammerer, Albrecht Schuch, Aaron Hilmer, Moritz Klaus, Edin Hasanovic, Adrian Grünewald, Thibault De Montalembert, Devid Striesow, Daniel Brühl
Länge: 148 Minuten
FSK: ab 16 Jahre
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Seit dem 28. Oktoger 2022 auf Netflix – und hoffentlich immer noch im Kino.
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Die Vorlage (in der Fassung der Erstausgabe und mit einem umfangreichem Anhang)
Erich Maria Remarque: Im Westen nichts Neues
(herausgegeben und mit Materialien versehen von Thomas F. Schneider)
Schon die ersten Bilder von Alejandro G. Iñárritus „Bardo, die erfundene Chronik einer Handvoll Wahrheiten“ – der Schatten eines Mannes läuft durch die Wüste, springt in die Luft, schwebt, fliegt, landet, läuft weiter, springt wieder in die Luft, schwebt und fliegt länger, landet wieder, läuft, immer noch ohne einen Schnitt, weiter, springt wieder undsoweiter – sind pures Kino mit einer schwerelosen Kamera und surrealen Bildern, die so eigentlich nicht möglich sind.
Nach diesem die Sinne betörendem Anfang, dem noch viele weitere visuell überwältigende Szenen folgen, schält sich langsam so etwas wie eine Minimalgeschichte heraus. Sie dient vor allem als rudimentäre, aber weitgehend vernachlässigbare Klammer in diesem nicht-narrativem Film. Silverio Gama (Daniel Giménez Cacho) lebt seit Ewigkeiten in Los Angeles. Seine alte Heimat kennt er nur noch aus dem Fernsehen und aus Erinnerungen. Der Mexikaner ist ein bekannter Journalist und Dokumentarfilmer. Inzwischen ist er in dem Alter, in dem er Preise erhält und vor Publikum über seine Filme reden soll. Jetzt soll er in seiner alten Heimat Mexiko-Stadt einen Preis für sein Lebenswerk erhalten.
Dort trifft er auf alte Bekannte, recherchiert für sein neues Projekt, erinnert sich an seine Vergangenheit und dabei verschwimmen, in der Tradition des magischen Realismus, die Grenzen zwischen Erinnerungen, Fantasien darüber und über die Gegenwart und reinen Imaginationen. Es geht auch um die Geschichte Mexikos. Iñárritu inszeniert das in Plansequenzen, langen, kaum geschnittenen Szenen, surrealistischen Bildern und immer wieder zwischen Realität und Fantasie wechselnd. Die Bilder sind, wie bei seinen vorherigen Filmen, beeindruckend und immer für die große Leinwand komponiert.
Wie schon der Titel „Bardo, die erfundene Chronik einer Handvoll Wahrheiten“ sagt, erzählt Alejandro G. Iñárritu in seinem ersten Spielfilm nach „The Revenant“ (2015) keine stringente, konventionellen erzählerischen Regeln folgende Geschichte. Im tibetischen Buddhismus ist Bardo das Wort für ein Zwischenstadium zwischen Tod und Wiedergeburt. Daher kann der Film als Meditation darüber angesehen werden. Iñárritu zeigt mehr oder weniger nicht zusammenhängende Ereignisse, die sich immer um die Selbstzweifel eines Regisseurs drehen und die immer aus seiner Perspektive geschildert werden. Dabei ist Silverio Gamas surrealistische Geschichte so abstrakt geraten, dass wahrscheinlich nur ausgewiesene Iñárritu-Experten die erfundenen von den wirklich autobiographischen Teile unterscheiden können. Alle anderen können sich ohne zu Zögern vom Strom der Bilder wegtragen lassen und den Film wie einen psychedelischen Trip genießen.
Seine Premiere hatte „Bardo, die erfundene Chronik einer Handvoll Wahrheiten“ am 1. September 2022 in Venedig bei den dortigen Internationalen Filmfestspielen. Dort präsentierte Iñárritu eine gut dreistündige Fassung des Films. Danach kürzte er ihn um ungefähr eine viertel Stunde. Wahrscheinlich entfernte er ein, zwei vollständige Szenen. Schließlich spielt jede Szene mit der Länge, die normalerweise, wie der gesamte Film, überbordend lang und überwältigend ist. Außerdem würde gerade bei den langen, ungeschnittenen oder kaum geschnittenen Szenen jede Kürzung die Stimmung und den Erzählfluss zerstören. Das gilt, um nur zwei Plansequenzen zu nennen, für einen Spaziergang Gamas durch Mexiko-Stadt oder eine siebenminütige Szene, die teilweise in Gamas Kopf spielt, in einer vollen Disco mit David Bowies „Let’s Dance“ als Soundtrack.
„Bardo, die erfundene Chronik einer Handvoll Wahrheiten“ ist ein in jeder Beziehung exzessives, surreales, ohne einen klare Fokus vor sich hin mäanderndes Panoptikum zwischen Vergangenheit, Erinnerung, Fantasie und Tod. Das ist, wie gesagt, faszinierend, auch unterhaltsam und immer wieder witzig, aber mit gut drei Stunden auch ein zu lang geratener Griff in den Zettelkasten des Künstlers, der in dieser Nabelschau einfach ungeordnet präsentiert, was ihm beim Durchsehen seiner Notizen gefallen hat.
Bardo, die erfundene Chronik einer Handvoll Wahrheiten (Bardo, falsa crónica de unas cuantas verdades, Mexiko 2022)
Regie: Alejandro G. Iñárritu
Drehbuch: Alejandro G. Iñárritu, Nicolás Giacobone
mit Daniel Giménez Cacho, Griselda Siciliani, Ximena Lamadrid, Iker Solano, Luz Jiménez, Luis Couturier, Andrés Almeida, Clementina Guadarrama, Jay O. Sanders, Francisco Rubio, Fabiola Guajardo, Noé Hernández, Ivan Massagué
LV: Elmore Leonard: Hombre, 1961 (Man nannte ihn Hombre)
Arizona, 1880: John Russell (Paul Newman) ist ein Weißer, der als Kind von Apachen entführt wurde und seitdem freiwillig bei ihnen lebt. Aufgrund einer Erbschaft benutzt er mit einigen Weißen die letzte Postkutsche von Sweetmary. Als die Postkutsche von Banditen überfallen wird, muss er sich entscheiden, ob er seinen Mitreisenden helfen will.
Selten gezeigter, von der Kritik gelobter und vom Publikum geliebter Klasse-Western, nach einem Frühwerk von Elmore Leonard. Die Western Writers of America nahmen „Hombre“ in ihre Liste der 25 besten Western auf.
„Ein Markstein wie John Fords ‚Stagecoach‘, nach dessen Rezept er aufgebaut ist und von dem ihn ein Vierteljahrhundert Western-Geschichte trennen. Wieder fährt die Postkutsche durch Arizona, aber diesmal sitzt der Indianer drinnen und die Schurken, von denen es drinnen und draußen wimmelt, sind Weiße.“ (Joe Hembus: Das Western-Lexikon)
mit Paul Newman, Frederic March, Richard Boone, Diane Cilento, Cameron Mitchell, Barbara Rush, Martin Balsam
Die Karte sieht überaus prächtig aus. Die Zutaten und die gereichten Gerichte ebenso. Aber die Ausführung, vor allem das Finale, enttäuscht dann doch etwas.
Angerichtet wird das Menü von Sternekoch Slowik. Mit seinen Angestellten lebt er auf einer Insel. In dem auf der Insel liegendem Edelrestaurant bewirtet er nur wenige Gäste, die dafür einen auch nach Sterne-Niveau astronomisch hohen Preis zahlen.
Für diesen Abend hat Slowik sich ein besonderes Menü ausgedacht. Die an den sechs Tischen sitzenden zwölf Gäste sind sorgfältig ausgewählt. Die einzelnen Gänge des Menüs sind für jeden Gast speziell angerichtet. Sie berücksichtigen seinen Geschmack und sein Leben.
Zu den Gästen gehören ein älteres Ehepaar, das schon mehrmals Slowiks Essen genossen hat, drei unangenehm auffallende Executives einer High-Tech-Firma, ein snobistischer Schauspieler, der nach seiner Schauspielkarriere eine Reise-Food-Sendung moderiert, mit seiner an eine Kündigung denkenden Assistentin, eine aufgedonnerte Restaurantkritikerin mit ihrem Redakteur und ein junger Mann, der ein fanatischer Fan von Slowik und seinem Essen ist. Dieser Foodie, der stundenlang über Essen reden kann, sorgt schon beim Empfang für die erste Irritation im sorgfältig geplanten Ablauf. Er hat nicht seine namentlich angekündigte Freundin, sondern eine Escort-Dame mitgebracht. Für sie ist Essen keine hohe Kunst, sondern schnöde Nahrungsaufnahme. Aber wenn ihr Kunde sie mitnehmen und ihr ihr Essen bezahlen will, dann begleitet sie ihn.
Vor dem Essen zeigt ihnen Slowiks Assistentin die Gärten und die Schlafbaracken des Personals. Den allseits bewunderten und verehrten Slowik sehen sie zum ersten Mal im Restaurant. Dort tritt er als Küchenmeister auf, der gerne laut in die Hände klatscht und ihnen befiehlt, das Essen zu genießen. Das Fotografieren des Essens verbietet er ihnen.
Der Foodie tut es trotzdem (Hey, warum haben Slowiks Leute am Eingang nicht die Handys eingesammelt?). Slowik äußerst sein Mißfallen so nachdrücklich, dass der Essensfotograf eingeschüchtert auf weitere Bilder verzichtet.
Das ist allerdings nur der erste Gang von einem Essen, das mit jedem Gang weiter eskaliert. Der diabolische Küchenmeister hat jedes einzelne Gericht für eine bestimmten Gast komponiert hat. Er kennt die Geheimnisse seiner Gäste, wie Betrug und Ehebruch. Und er verewigt sie in seinen Gerichten.
Außerdem soll der heutige Abend ein besonderer, ein einmaliger, für alle unvergesslicher Abend werden.
Natürlich ist „The Menu“, geschrieben von Seth Reiss und Will Tracy, inszeniert von Mark Mylod, kein realistischer Film, der auch nur im entferntesten ein auch nur halbwegs reales Abendessen nacherzählt. Spätestens nachdem einem Gast ein Finger abgetrennt wird, ist das offensichtlich. „The Menu“ ist eine surrealistische Satire. Das Menü ist nur der Anlass, um etwas über die Gesellschaft zu sagen.
Trotzdem, oder gerade deswegen, fällt spätestens beim Hauptgang auf, dass bei diesem letzten Menü eine wichtige Zutat fehlt.
Denn alle Figuren bleiben leere Schablonen, über die wir kaum etwas erfahren und das, was wir erfahren, erklärt nicht, warum Slowik gerade sie für diesen Abend auserwählte. Sie sind keine Agatha-Christie-Rätselkrimi-Gesellschaft, in der jeder einen guten Grund hat, den Mord zu begehen, sondern eindimensionale Platzhalter für Gäste, die an jedem Abend in jedem Restaurant auftauchen. Natürlich ist ein fanatischer Fan nervig. Aber hat er deshalb den Tod verdient? Das gleiche gilt für einen vermögenden Gast, der nur deshalb in diesem Restaurant isst, weil er es sich leisten kann. Entsprechend rätselhaft und grotesk ist das Missverhältnis von der Bedeutungslosigkeit der Gäste und Slowiks Wunsch, sich an ihnen zu rächen.
Auch Slowik ist nur ein Platzhalter, der gut in die Hände klatschen und fies grinsen kann. Ralph Fiennes freut sich erkennbar, diesen kalten, perfektionistischen Koch zu spielen.
Am Ende ist „The Menu“ eine Übung in Stil über Substanz. Oder, kulinarisch gesagt: sieht gut aus, macht nicht satt.
The Menu (The Menu, USA 2022)
Regie: Mark Mylod
Drehbuch: Seth Reiss, Will Tracy
mit Ralph Fiennes, Anya Taylor-Joy, Nicholas Hoult, Hong Chau, Janet McTeer, Reed Birney, Judith Light, Paul Adelstein, Aimee Carrero, Arturo Castro, Rob Yang, Mark St. Cyr, John Leguizamo
Quasi-dokumentarischer Spielfilm über den jungen Rodeoreiter Brady Blackburn (Brady Jandreau), der nach einem Unfall nicht mehr Rodeo reiten darf und seinen Versuchen, sich damit zu arrangieren.
Chloé Zhao erzählt mit Laiendarstellern, die sich letztendlich selbst spielen, vom deprimierend trostlosen Leben im US-amerikanischen Hinterland. Da ist, bis auf die leinwandfüllenden Sonnenuntergänge, alles deprimierend trostlos. Vom Mythos des Rodeoreiters, den Sam Peckinpah schon in „Junior Bonner“ entmystifizierte und dem Brady und seine Freunde wie einer Religion anhängen, bleibt nichts mehr übrig.
Dank der Schauspieler, den leinwandfüllenden Bildern, Zhaos geduldigem Einlassen auf die Laiendarsteller und ihr Leben und ihrem sie, ihr Leben und ihre Ansichten nie verurteilendem Blick ist der Neo-Western „The Rider“ ein aufbauender, zutiefst humanistischer Film.
Für ihren nächsten Film „Nomadland“ erhielt Zhao 2021 unter anderem den Oscar in den Kategorien bester Spiefilm und beste Regie.
mit Brady Jandreau, Lilly Jandreau, Tim Jandreau, Lane Scott, Cat Clifford, Terri Dawn Pourier
TV-Premiere der spielfilmlangen Doku von Hansjürg Zumstein (SRF), Maria Roselli (RSI) und Ludovic Rocchi (RTS), die hinter die Kulissen des Weltfußballverbands blicken.
LV: Patricia Highsmith: The Price of Salt, 1952 (Erstveröffentlichung unter dem Pseudonym Claire Morgan; Wiederveröffentlichung unter ihrem Namen als „Carol“, deutsche Titel „Salz und sein Preis“ und „Carol oder Salz und sein Preis“)
New York, 1950: zwei Frauen verlieben sich ineinander – und verstoßen damit gegen die gesellschaftlichen Konventionen.
Gelungene, sehr stilbewusste und sensible Patricia-Highsmith-Verfilmung, die kein Kriminalfilm (was man bei Highsmith ja erwartet), sondern eine tragische Liebesgeschichte ist.
Jetzt ist er draußen. Der zweite von Cinema herausgegebene „Making of“-Band, in dem es Hintergrundinformationen zu einigen bekannten Filmen gibt. Auf dem Cover steht „Von ‚Pulp Fiction‘ bis ‚Avatar‘: so entstanden 30 geniale Hollywood-Hits“ und neben den auf dem Cover erwähnten Filmen von Quentin Tarantino und James Cameron werden
Braveheart
Der Zauberer von Oz
Der Soldat James Ryan
The Big Lebowski
Bullitt
Die Klapperschlange (John Carpenter zum Ersten)
Der weiße Hai
Das fünfte Element (Hey, der ist nicht Hollywood, sondern Frankreich und Besson!)
Zurück in die Zukunft
Gladiator
French Connection – Brennpunkt Brooklyn
Indiana Jones – Jäger des verlorenen Schatzes (der dritte Film von Steven Spielberg in diesem Buch)
Karate Kid (Ein Klassiker?)
Spartacus
The Untouchables – Die Unbestechlichen
Terminator 2 – Tag der Abrechnung (noch ein Film von „Avatar“-Cameron)
Tote schlafen fest
Vom Winde verweht
Halloween – Die Nacht des Grauens (John Carpenter zum Zweiten)
Der mit dem Wolf tanzt
Lethal Weapon – Zwei stahlharte Profis
Jurassic Park (und noch ein Film von Steven Spielberg)
Star Trek II: Der Zorn des Khan (Ein klassiker?)
Heat
Die sieben Samurai (kein Hollywood-Film, aber ein Klassiker der Filmgeschichte. Es gibt auch einige Hollywood-Remakes)
Mulholland Drive
Der Herr der Ringe: Die Gefährten
Fight Club
vorgestellt. Es sind, wie beim ersten Band, vor allem sehenswerte Mainstream-Film, die Filmfans sicher fast alle gesehen haben und gerne wiedersehen. Für alle anderen ist es eine gute Liste sehenswerter Filme.
Am Konzept des ersten „Making of“-Bandes wurde nichts geändert: Jeder Film wird auf sechs bis zehn Seiten kurz vorgestellt. Es gibt einen informativen Text, Filmbilder und Bilder von den Dreharbeiten. Dank des großen Bildband-Formats sind die meist bekannten Bilder groß. Das Layout ist unauffällig. Insgesamt lädt es zum Blättern und Schwelgen in Erinnerungen ein.
„Making of – Band 2“ ist überzeugt und ist eine gelungene Ergänzung zum ersten Band und den dort vorgestellten 25 Filmen.
Auch wenn das Filmmagazin Cinema irgendwann einen dritten „Making of“-Band herausgibt – genug sehenswerte Hollywood-Filme dafür gibt es -, könnte ein anderer Verlag einen ähnliches Buch herausgeben, das sich mehr auf Arthaus- oder Nicht-Hollywood-Filme konzentriert.
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Cinema (Hrsg.): Making of – Hinter den Kulissen der größten Klassiker aller Zeiten: Band 2
Bringing out the dead – Nächte der Erinnerung (Bringing out the Dead, USA 1999)
Regie: Martin Scorsese
Drehbuch: Paul Schrader
LV: Joe Connelly: Bringing out the dead, 1998 (Bringing out the dead – Nächte der Erinnerung)
Verfilmung des biographischen Romans von Joe Connelly über einen Notarztwagenfahrer, der in Hell’s Kitchen zu Beginn der neunziger Jahre zunehmend an seiner Arbeit und dem Sinn des Lebens zweifelt. Da werden, nicht nur weil das Team Martin Scorsese/Paul Schrader wieder zusammen ist, Erinnerungen an „Taxi Driver“ wach.
Eine feine, etwas unterschätzte Tour de force
mit Nicolas Cage, Patricia Arquette, John Goodman, Ving Rhames, Tom Sizemore, Marc Anthony, Nestor Serrano
Das ist ein Film für die Western-Fans, die ja nur alle Jubeljahre ins Kino gehen dürfen, weil einfach nicht mehr Western ins Kino kommen. Im Mittelpunkt von Leah Purcells „The Drover’s Wife – Die Legende von Molly Johnson“ steht die titelgebende Molly Johnson. 1893 lebt sie in den Snowy Mountains. Das ist zwar in Australien, aber die Landschaft, die Menschen, ihr Verhalten und die Faustrecht-Regeln passen gut in jeden Western. Ihr Mann ist seit Monaten weg. Er arbeitet, wieder einmal, als Viehtreiber im Hochland und er sollte eigentlich schon wieder zurück sein. Sie hat mehrere Kinder. Ein weiteres ist unterwegs. Und sie verteidigt ihr Stück Land. Deshalb empfängt sie alle Besucher mit einem abweisendem Blick und einem schussbereiten Gewehr in der Hand.
Sobald sie ihnen vertraut, ist sie dann gastfreundlich. Beispielsweise zu dem neuen Polizeichef, der jung und naiv ist. Entsprechend naiv stolpert er kurz nach seiner Ankunft an seinem neuen Arbeitsplatz, einem in der Einsamkeit liegendem Dorf, das wir so aus zahlreichen Western kennen, in eine Mordfall. Ein Aborigine soll in Everton eine sechsköpfige Familie ermordet haben.
Auf seiner Flucht gelangt er in Mollys Haus.
„The Drover’s Wife“ ist Leah Purcells feministische Neuinterpretation von Henry Lawsons gleichnamiger Kurzgeschichte; wobei sie genaugenommen die Geschichte, in der es um die Jagd nach einer sich im Haus versteckenden Schlange geht, als Inspiration genommen und um weitere Geschichten und Figuren erweitert hat. Gleichzeitig wirft sie einen Blick auf den damaligen Rassismus.
Purcell, die auch das Drehbuch schrieb und die Hauptrolle spielt, erzählt Molly Johnsons Geschichte mit fotogenen Landschaftsaufnahmen, die auf einer großen Leinwand gut wirken, und etwas verschachtelt. Denn nur langsam enthüllt sie die Hintergründe für bestimmte Ereignisse und Handlungen. Das tut sie überaus gekonnt.
Allerdings vertraut sie der Intelligenz, Urteilskraft und dem moralischen Bewusstsein des Publikums nicht genug. So hat sie die Figur der Frau des neuen britischen Polizeichefs erfunden. Sie ist jung und überaus feministisch engagiert. In der von ihr herausgegebenen Zeitung schreibt sie wortgewaltig gegen die Unterdrückung der Frau an. Das ist ihre einzige Funktion in der Geschichte: uns zu erklären, was wir sowieso sehen und begreifen.
Noch schlimmer wird es am Filmende. Im Rahmen einer Gerichtsverhandlung gegen Molly Johnson erklärt Purcell wortreich das Unrecht des Urteils gegen Johnson. Dabei genügt schon das Urteil, um zu verstehen, dass dieses Urteil vielleicht den Buchstaben des Gesetzes entspricht, aber trotzdem Unrecht ist.
The Drover’s Wife – Die Legende von Molly Johnson (The Drover’s Wife: The Legend of Molly Johnson, Australien 2021)
Regie: Leah Purcell
Drehbuch: Leah Purcell
LV: Henry Lawson: The Drover’s Wife, 1892 (Kurzgeschichte)
mit Leah Purcell, Rob Collins Sam Reid, Jessica de Gouw, Benedict Hardie, Malachi Dower-Roberts
1648: Zwei Jesuitenpater reisen in das gottlose Japan. Dort soll ihr Mentor Gott abgeschworen haben.
Alle paar Jahre dreht Martin Scorsese einen seiner religiösen Filme. „Silence“ ist, trotz beeindruckender Bilder, sein schwächster dieser Filme. Das Drama ist ein religiöses Erbauungstraktat, das mit gut drei Stunden Laufzeit auch die Geduld des langmütigsten Zuschauer über Gebühr strapaziert.
Vor drei Wochen lief „November“ in unseren Kinos an. Der Thriller zeigt die Arbeit der Polizei nach den Terroranschlägen in Paris am 13. November 2015. Bei den Anschlägen wurden 130 Menschen getötet und über 600 verletzt. „Meinen Hass bekommt ihr nicht“ ergänzt „November“ indem er eine andere Seite der damaligen Ereignisse zeigt.
An dem Abend geht Hélène Leiris mit einem Freund ins Bataclan. Dort wollen sie sich das Konzert der Eagles of Death Metal ansehen. Ihr Mann Antoine bleibt mit ihrem siebzehn Monate altem Sohn Melvil zu Hause.
Einige Stunden später ist Hélène tot. Erschossen von islamistischen Terroristen. Antoine ist Witwer mit einem Kleinkind.
Kurz darauf schreibt der Journalist einen Text für seine Facebook-Seite. Es ist sein Versuch, ihren Tod zu verarbeiten und eine Absage an die Logik des Hasses: „Freitagabend habt ihr das Leben eines außerordentlichen Wesens geraubt, das der Liebe meines Lebens, der Mutter meines Sohnes, aber meinen Hass bekommt ihr nicht.“
Bei seinen Lesern trifft sein Text einen Nerv. Weltweit teilen sie ihn. Die Tageszeitung „Le Monde“ druckt ihn auf ihrer Titelseite nach. Fortan ist Antoine die Stimme der trauernden Hinterbliebenen. Er wird in Talkshows eingeladen, um seine Meinung zu sagen. Gleichzeitig muss er mit dem Verlust klarkommen und sich um seinen Sohn kümmern.
Killian Riedhof („Gladbeck“, „Der Fall Barschel“) konzentriert sich in seinem Film „Meinen Hass bekommt ihr nicht“, der die wahre Geschichte von Antoine Leiris erzählt, auf Antoine Leiris, seine Trauer und seine Beziehung zu seinem Sohn. Die Terroristen, ihre Motive und die Jagd nach ihnen spielen keine Rolle.
Diese Entscheidung führt dazu, dass die Stimmung in Paris nach den Anschlägen und die Frage, wie mit den Tätern, dem Islamismus und dem Islam umgegangen werden soll, egal sind. Außer dem Sonntagsspruch, dass Hass nicht mit Hass, sondern mit Liebe beantwortet werden soll, bleibt da nichts.
Gleichzeitig wird der Grund für Hélènes Tod zu einem austauschbarem Unglück. Sie hätte genausogut durch einen Autounfall oder einen Herzanfall sterben können. Für Antoine hätte sich an seiner Trauer und seinem vor allem auf sich sebst bezogenem Verhalten nichts geändert. Er hätte nur niemals die große mediale Bühne bekommen, um darüber zu reden. Diese Talkshow-Auftritte sind, auch wenn er es in dem Moment nicht wahrhaben will, ein Teil des Trauerprozesses. Sie sind gleichzeitig sein Versuch, mit dem plötzlichen Verlust eines geliebten Menschen umzugehen, und seine Flucht vor der Verantwortung. Denn er ist jetzt die einzige Bezugsperson für ihren Sohn und er sollte sich um die Beerdigung kümmern.
Diesen Prozess der Trauer, des Umgangs mit einem Verlust und der größeren Verantwortung für ein Kind zeigt Killian Riedhof überzeugend und auch feinfühlig.
Als Film über die Terroranschläge enttäuscht er aufgrund seiner ausschließlichen Konzentration auf ein privates Schicksal.
Meinen Hass bekommt ihr nicht(Vous n’aurez pas ma haine, Deutschland/Frankreich/Belgien 2022)
Regie: Kilian Riedhof
Drehbuch: Jan Braren, Marc Blöbaum, Kilian Riedhof, Stéphanie Kalfon
LV: Antoine Leiris: Vous n’aurez pas ma haine, 2016 (Meinen Hass bekommt ihr nicht)
mit Pierre Deladonchamps, Zoé Iorio, Camélia Jordana, Thomas Mustin, Christelle Cornil, Anne Azoulay, Farda Rahouadj, Yannuk Choirat
LV: Nicholas Pileggi: Casino: Love and Honor in Las Vegas, 1995 (Casino)
Biopic über die Mafia in Las Vegas in den Siebzigern
Kurz gesagt: ein Meisterwerk und Pflichttermin für Krimifans.
„Die einander ergänzenden Elemente von ‚Casino’, die genaue, materialistische Dokumentation, das Shakespeare-Drama von Macht und Fall, der Genrefilm und die Strindbergsche Seelenpein von Mann und Frau, zwischen denen eine unsichtbare Mauer steht, laufen alle auf die Feststellung hinaus, die Robert De Niro schon am Anfang getroffen hat: dass niemand gegen die Bank gewinnen kann. Das ist nicht nur konkrete Beschreibung einer ökonomisch-kriminellen Situation und soziale Metapher auf das Wesen des Kapitalismus, sondern auch ein philosophisches Gleichnis.“ (Georg Seeßlen: Martin Scorsese)
Am 17. November feiert Martin Scorsese seinen achtzigsten Geburtstag. Deshalb zeigt Arte am Sonntagabend um 20.15 Uhr „Silence“ und am Montagabend, ebenfalls um 20.15 Uhr, „Bringing out the Dead – Nächte der Erinnerung“.
Sein neuer Film „Killers of the Flower Moon“ soll 2023 in Cannes gezeigt werden.
Mit Robert De Niro, Sharon Stone, Joe Pesci, James Woods, Kevin Pollak, L. Q. Jones
„Crimes of the Future“ heißt einer von David Cronenbergs ersten und sein letzter Film. Dabei ist sein neuester Film kein Remake und auch keine Forterzählung von seinem früheren Film, einem 1970 entstandenem Low-Budget-Film, der in einer Welt spielt, in der es keine Frauen mehr gibt, sondern ein vollkommen eigenständiges Werk. Cronenberg gefällt einfach der Titel.
Den Filmtitel entdeckte er in dem dänischen Film „Sult“ (Hunger, Dänemark 1966, Regie: Henning Carlsen). Dort schreibt auf einer Brücke ein Dichter den Titel „Crimes of the Future“ in sein Notizbuch. Cronenberg dachte sich, dass er das Gedicht gerne lesen würde. Als er dann einen Low-Budget-Film drehte, der nach zwei Kurzfilmen sein zweiter längerer Film war, dachte er sich, dass „Crimes of the Future“ ein neugierig machender Filmtitel sei. Jedenfalls er würde sich gerne einen Film mit diesem Titel ansehen.
Über fünfzig Jahre später hat er wieder einen Film mit dem Titel gedreht. Er sei, so Cronenberg, eine Meditation über die menschliche Evolution. Es gehe um Verbrechen, die der menschliche Körper gegen sich selbst begehe. Es gehe um Fragen, wie ob der menschliche Körper sich so weiterentwickeln könne, dass er Probleme löse, die die Menschheit geschaffen habe.
In der von Cronenberg nur schemenhaft geschilderten Zukunft haben immer mehr Menschen in ihrem Körper mutierte Organe mit bislang unbekannten Fähigkeiten. Einige davon sind gefährlich. Andere nicht. Einige scheinen sogar vollkommen nutzlos zu sein.
Saul Tenser (Viggo Mortensen) ist ein Avantgarde-Performance-Künstler, in dessen Körper es ständig neue mutierte und neue Organe gibt. Bei seinen öffentlichten Auftritten lässt der Subkultur-Star sie sich von seiner Partnerin Caprice (Léa Seydoux) herausoperieren.
Gleichzeitig gibt es Menschen, die ihren Körper mit transplantierten Organen verändern.
Weil diese Veränderungen im menschlichen Körper nicht von allen begrüßt werden, gibt es das National Organ Registry. Diese Behörde erfasst alle Organe. Vertreten wird sie von Wipper (Don McKellar) und Timlin (Kristen Stewart), die sich etwas seltsam verhalten. Timlin ist von Tenser fasziniert.
Und eine Untergrundorganisation, deren Motive niemals richtig klar werden, verfolgt Tenser.
So weit, so unklar. Denn David Cronenberg geht es in seinem neuesten Film nicht um eine nachvollziehbare Geschichte, sondern um eine zugleich beunruhigende und beruhigende Atmosphäre. Die Dystopie ist eine Aneinanderreihung von teils traumhaften, teils beunruhigenden, teils verstörenden, oft alptraumhaften Szenen, in denen Körper und Körperteile eine seltsame Symbiose eingehen und Stühle wie lebendige Skelette aussehen. „Crimes of the Future“ ist purer Body-Horror, den er mit den Begrenzungen inszeniert, mit denen er in den siebziger und achtziger Jahren seine Filme inszenierte. Letztendlich wirkt der Film, als sei er, bis auf wenige Bilder, in einem alten Lagerhaus entstanden. Gedreht wurde der Film in Griechenland, wo es noch diese Lagerhäuser gibt, die wir aus in den Siebzigern in New York gedrehten Low-Budget-Filmen kennen.
Cronenberg erzählt seine mehr erahn- als nacherzählbare Geschichte sehr langsam, in dunklen Bildern, die „Crimes of the Future“ fast zu einem braunschwarzem Film machen und ihm ein Noir-Feeling verleihen. Auch die Ausstattung, wie das Büro der Organregistrierungsbehörde, erinnert öfter an die klassischen Noir-Filme aus den Vierzigern. Die technischen Geräte, die Körper umgeben und in sie eindringen, sind handgefertigte Geräte, die wie die düsteren Entwürfe für einen Science-Fiction-Film aus den siebziger Jahren wirken.
Acht Jahre nach seinem letzten Film „Maps to the Stars“ kehrt Cronenberg zurück zu seinen Anfängen. Dabei ist die Grundlage für „Crimes of the Future“ kein neues Drehbuch, in dem der Regisseur im Rahmen eines Alterswerkes einfach noch einmal seine altbekannten Obsessionen als mehr oder weniger gelungenes Best-of präsentiert, sondern ein über zwanzig Jahre altes Werk. Cronenberg schrieb das Drehbuch 1998/99 im Umfeld von „Crash“ (1996) und „eXistenZ“ (1999). Gerade zu dem Virtual-Reality-Thriller „eXistenZ“ gibt es unübersehbare visuelle Verbindungen. Und damit auch zu „Videodrome“ (1983). Wobei es in „Crimes of the Future“ um Körper und Körper geht.
Aus verschiedenen Gründen zerschlugen sich dann alle Versuche, die Geschichte zu verfilmen. Cronenberg legte das Drehbuch zur Seite, bis sein Produzent Robert Lantos ihn darauf ansprach und meinte, die Geschichte sei heute aktueller und wichtiger als damals.
Das stimmt insofern, dass heute Eingriffe und Veränderungen am eigenen Körper alltäglicher als vor 25 Jahren sind. Das gilt auch für die Umweltverschmutzung und den Anteil von Mikroplastik, den jeder in seinem Körper hat. Cronenberg fragt sich, was das mit unserem Körper macht oder machen könnte.
„Crimes of the Future“ präsentiert, und damit ähnelt er dem 1970er „Crimes of the Future“, beunruhigende, dystopische Bilder ohne eine erkennbare Geschichte. Über die gezeigte Welt und die Botschaft kann kaum gesprochen werden. Zu diffus ist sie. Cronenbergs neuer Film ist wie ein Orakel, das einige tief verstören, andere langweilen und die Fans des Body-Horror-Cronenbergs begeistern wird. Denn dieses Mal zeigt er ausführlich wieder richtigen Body Horror.
Crimes of the Future (Crimes of the Future, Kanada/Frankreich/Griechenland/Großbritannien 2022)
Regie: David Cronenberg
Drehbuch: David Cronenberg
mit Viggo Mortensen, Léa Seydoux, Kristen Stewart, Scott Speedman, Welket Bungue, Don McKellar, Tanaya Beatty, Nadia Litz, Lihi Kornowski, Denise Capezza
Zeugin der Anklage (Witness for the Prosecution, USA 1957)
Regie: Billy Wilder
Drehbuch: Larry Marcus, Billy Wilder, Harry Kurnitz
LV: Agatha Christie: The Witness for the Prosecution, 1925 (Kurzgeschichte, erschien ursprünglich als „Traitor’s Hands“ in Flynn’s, 31. Januar 1925, später unter dem heute bekannten Titel in der Kurzgeschichtensammlung „The Hound of Death and Other Stories, 1933; deutscher Titel: Zeugin der Anklage)
Hat Leonard Vole eine reiche Witwe erschlagen? Für Staranwalt Sir Wilfried hängt alles von der Aussage von Voles Frau Christine ab.
Prototyp aller Gerichtsfilme und immer noch weitaus spannender als die jüngeren Gerichtsthriller (obwohl die Pointe bekannt sein dürfte), mit – in glänzender Spiellaune – Marlene Dietrich, Charles Laughton, Tyrone Power
Das Drehbuch war für einen Edgar nominiert. „Die zwölf Geschworenen“ gewann ihn. Agatha Christie gefiel die Verfilmung sehr gut.
1957 putzt Ada Harris in London die Wohnungen mehrerer vermögender Familien. Sie ist schon etwas älter und wird von ihren Kunden als zuverlässige, sich im Hintergrund haltende Putzfrau geschätzt. Als sie bei einem ihrer Kunden ein Kleid sieht, gefällt es ihr. Sie hat keine Ahnung, dass es von Christian Dior ist und sie ist schockiert, als sie den Preis erfährt. Er ist für sie unbezahlbar hoch.
Trotzdem, oder gerade deswegen, will sie sich ein Kleid von Dior kaufen. Sie ist eine Frau aus der Arbeiterklasse, deren Mann als im Krieg verschollen gilt. Bis jetzt bestand ihr Leben nur aus Arbeit. Sie hat sich nie etwas gegönnt. Also stellt sie einen Sparplan auf. Nachdem sie mit einigen hilfreichen Händen und etwas Glück, das nötige Geld hat, fliegt sie nach Paris.
Dort gestaltet sich der Kauf als schwieriger als geplant. Sie hatte geplant, von London nach Paris zu fliegen, ein Dior-Kleid zu kaufen und sofort zurückzufliegen. Aber weil Dior alles nach Maß schneidert, muss sie warten, bis ihr Kleid fertig ist. Bis es so weit ist, begegnet sie der Direktorin des Hauses Dior, einigen Angestellten und einem Marquis. Mit ihrer herzensguten, praktischen und vernünftigen Art beginnt sie deren Leben zu verändern.
„Mrs. Harris und ein Kleid von Dior“ basiert auf dem mehrfach verfilmtem Roman „Ein Kleid von Dior“ von Paul Gallico. Eine Verfilmung ist von 1982 mit Inge Meysel, die damals die Mutter der Nation war. Der Film kam gut an und sie spielte in fünf weiteren Filmen Ada Harris.
Jetzt verfilmte Anthony Fabian Gallicos Buch als starbesetztes kitschiges Märchen. Lesley Manville spielt Mrs. Harris. Isabelle Huppert, Jason Isaacs und Lambert Wilson sind ebenfalls dabei. Paris und das Haus Dior werden schön in Szene gesetzt. Die Geschichte folgt den bekannten Regeln. Der Humor ist von der harmlosen Art. Allerdings ist das Feelgood-Märchen mit zwei Stunden zu lang geraten. Hier hätte eigentlich jede Szene gekürzt werden können.
Insgesamt ist „Mrs. Harris und ein Kleid von Dior“ einer dieser die Wirklichkeit durch ein Fantasiegebilde verklärenden Filme. Früher waren das in Deutschland die Heimatfilme, heute können wir „Das Traumschiff“ oder irgendeinen Sonntagabend-ZDF-“Herzkino“-Film nehmen. Und genau für diese „Herzkino“-Fans ist Fabians Märchen gemacht.
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Damit könnte ich die Sache bewenden lassen, wenn mir im Film nicht etwas aufgefallen wäre, das hoffentlich keinen Trend markiert. Wie gesagt zeichnen diese Feelgood-Filme kein Bild der Realität und das erwartet auch niemand. Unangenehme Themen, wie Rassismus, Gewalt gegen Frauen, Ausländerhass und Armut werden konsequent ignoriert. Es geht um Wunscherfüllung und jeder, der sich so einen Film ansieht, weiß das.
Allerdings wurden in den letzten Jahren etliche, teils auf historischen Begebenheiten basierende Filmen gedreht, die ein anderes Bild der Vergangenheit zeigten. Sie zeigen, im Rahmen von beispielsweise konventionellen Liebesfilmen, dass es in der Vergangenheit unglückliche Ehen (z. B. „Am Strand“), Armut und Ausgrenzung zwischen Angehörigen unterschiedlicher Glaubensgemeinschaften (evangelisch/katholisch) und Staaten, teils sogar Stadtviertel, gab (z. B. „Brooklyn“). Diese Filme erweiterten und korrigierten unseren Blick auf die Vergangenheit. Salopp gesagt, sagten sie uns, dass es beispielsweise Rassismus, Homosexualität und Abtreibungen schon immer gab. Sie vermittelten uns ein neues, reichhaltigeres und differenzierteres Bild unserer Vergangenheit.
„Mrs. Harris und ein Kleid von Dior“ geht einen anderen Weg. Der Film sagt uns, dass es das alles nicht gab. Er verkündet dagegen, dass wir, in diesem Fall weiße Engländer, schon immer tolerant und aufgeschlossen waren und niemanden diskriminierten. So ist Mrs. Harris‘ beste Freundin eine afrikanisch-karibische Frau. Im Pub haben sie freundschaftlichen Umgang mit einem Iren. Dort läuft Chuck Berrys „Johnny B. Goode“ (das zum Zeitpunkt der Filmgeschichte noch nicht veröffentlicht war). Ein toller Song, aber dass damals in einem Pub Rock’n’Roll lief, erscheint arg unglaubwürdig. Denn damals und auch noch viele Jahre später wurde diese Jugendmusik von den Eltern, dem typischen Pub-Publikum, gehasst und vehement abgelehnt. Falls damals in einem Pub überhaupt Musik lief, liefen dort wahrscheinlich von Doris Day, Connie Francis und Frank Sinatra gesungene Schlager. In Paris besucht Ada Harris eine Modenschau, in der zwei der vier Models PoC (People of Color) sind. Und ein Marquis lädt sie zum Abendessen ein. Während des Essens in einem noblen Restaurant gibt es eine Tanzshow, die eine Mischung aus Moulin-Rouge- und Chippendales-Show ist. Die auf den ersten Blick altjüngferliche Ada Harris ist entzückt. Durchgehend werden Dinge in den Film aufgenommen, die in den damals entstandenen Schmonzetten ignoriert wurden.
In „Mrs. Harris und ein Kleid von Dior“ werden sie so in den Film aufgenommen, dass der Eindruck entsteht, dass es schon immer so war. London und Paris werden als Städte gezeigt, in der es keinen Rassismus und keine Ausgrenzung, sondern nur eine große tolerante multikulturelle Gemeinschaft gibt.
Dabei waren in Großbritannien bis weit in die sechziger Jahre (und wahrscheinlich später immer noch) Schilder à la „No Irish, no blacks, no dogs“ weit verbreitet.
Mrs. Harris und ein Kleid von Dior (Mrs. Harris goes to Paris, Frankreich/Großbritannien/Ungarn 2022)
Regie: Anthony Fabian
Drehbuch: Carroll Cartwright, Anthony Fabian, Keith Thompson, Olivia Hetreed
LV: Paul Gallico: Flowers for Mrs Harris, 1957 (US-Titel: Mrs Harris goes to Paris, 1958; auch Mrs. ‚Arris Goes to Paris) (Ein Kleid von Dior)
mit Lesley Manville, Isabelle Huppert, Jason Isaacs, Lambert Wilson, Alba Baptista, Lucas Bravo, Ellen Thomas