Drehbuch: Karl Gajdusek, Michael deBruyn (basierend auf der Graphic-Novel-Originalstory von Joseph Kosinski)
Nach dem Krieg gegen die Aliens verließen die Menschen die Erde. Nur einige Männer, wie Jack, sind als Reparaturtrupp für Alien-jagende Drohnen zurückgeblieben. Da stürzt ein Raumschiff mit einer Frau an Bord ab – und Jacks Leben gerät aus dem Ruder.
Optisch überzeugender SF-Film, bei dem man sein Gehirn nicht komplett abschalten sollte.
Der 16-jährigen Paula Feinmann könnte der Aufstieg von einer Nebenfigur zur Hauptfigur gelingen. Jedenfalls ist ihr Lehrer an der Hauptfigurenschule von ihr überzeugt. Aber ein, zwei Fähigkeiten fehlen ihr noch. Ihr verstorbener Vater, der eine Hauptfigur war, könnte ihr dabei helfen. Als sie nach Informationen über ihn sucht, entdeckt sie einige Geheimnisse, die ihr Leben verändern. Und sie begegnet den am Rand der Gesellschaft lebenden Outtakes.
Das liest sich jetzt vielleicht etwas rätselhaft, aber die Verwirrung kann schnell aufgeklärt werden. Die Gesellschaft, die Sophie Linnenbaum in ihrem Abschlussfilm an der Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF entwirft, ist eine klassische Dystopie. Zwischen den verschiedenen Gesellschaftsschichten gibt es starre Grenzen. Es gibt eine Oberschicht (die Hauptfiguren), eine Unterschicht (die Nebenfiguren) und die von der Gesellschaft Ausgestossenen (die Outtakes). Die Heldin gehört zur Unterschicht. Sie hat Fähigkeiten, die sie nicht haben sollte und die dazu führen, dass sie das System herausfordert. In neueren Geschichten, wie den Young-Adult-Dystopien „Die Tribute von Panem“ und „Maze Runner“, führt das dann zu einer das System zerstörenden Revolution. Früher, zum Beispiel in George Orwells „1984“, nicht. Aber die Struktur der Gesellschaft und die Erzählmuster sind bekannt. Die Bilder auch. Nur die Namen für die verschiedenen Klassen ändern sich. Bei Linnenbaum kommen diese Namen aus der Welt des Films – und das ist die geniale Idee von „The Ordinaries“: sie wendet die Filmtheorie einfach auf die Erzählmuster von Dystopien an. Diese Idee führt sie dann konsequent aus. Während die Hauptfiguren über eine breite Palette an Ausdrucksmöglichkeiten verfügen, haben die Nebenfiguren weniger Ausdrucksmöglichkeiten. Teilweise sagen sie in Dauerschleifen immer wieder die gleichen Sätze auf. Mehr benötigen sie nicht für ihr Leben. Die Outtakes sind die Figuren und Teile, die aus Filmen herausgeschnitten wurden. Sie sind Filmfehler. Sie können teilweise nur halbe Sätze sagen oder sich nur sprunghaft bewegen. Sie sind der Teil des Films vor und nach der großen Actionszene oder dem Dialog. Sie sind unwichtig.
Diese drei Welten malt Linnenbaum liebevoll und überaus detailreich aus. Dazu gehören selbstverständlich auch unzählige Anspielungen auf andere Filme. Eine immer wieder singende und tanzende Hauptfiguren-Familie erinnert natürlich an französische Komödien und bringt mehr als einen Hauch von Amélie in den Film. Die Gebäude und Wohnungen, in denen die Nebenfiguren leben, strahlen die freudlose Ostblock-Tristesse des Kalten Krieges aus. Und irgendwann sitzt ein Forrest Gump auf einer Bank.
Bei all dem Spaß am Filmzitat regt „The Ordinaries“ auch zum Nachdenken über unsere Gesellschaft an.
Dazu trägt auch die von Linnenbaum und ihrem Co-Drehbuchautor Michael Fetter Nathansky, der ebenfalls an der Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF studierte, Geschichte von Paulas Suche nach dem Vermächtnis ihres Vaters, den anscheinend niemand kennt und der keine Spuren hinterlassen hat, und ihrem Kampf um den Aufstieg in die Kaste der Hauptdarsteller bei.
Wie Natalia Sinelnikova mit ihrer vor einigen Monaten im Kino gelaufenen, ebenfalls sehenswerten Dystopie „Wir könnten genauso gut tot sein“ über das aus dem Ruder laufende Leben in einer Gated Community, setzt sich Sophie Linnenbaum mit ihrem Abschlussfilm „The Ordinaries“ erfreulich von dem den unzähligen Abschlussfilmen ab, die sich in einer Selbstbespiegelung über die eigene Jugend in der Provinz und desaströsen Liebeserfahrungen erschöpfen. „Wir könnten genauso gut tot sein“ und „The Ordinaries“, die beide von Regiestudentinnen der Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF als Abschlussfilm inszeniert wurden, erzählen spannende Genregeschichten. Beide Filme erzählen Science-Fiction-Geschichten, die sehr gut mit ihrem überschaubarem Budget umgehen und neugierig auf ihre nächsten Arbeiten machen.
The Ordinaries (Deutschland 2022)
Regie: Sophie Linnenbaum
Drehbuch: Sophie Linnenbaum, Michael Fetter Nathansky
mit Fine Sendel, Jule Böwe, Henning Peker, Noah Tinwa, Sira-Anna Faal, Denise M’Baye, Pasquale Aleardi, Noah Bailey, Christian Steyer, Birgit Berthold
Der Komponist Fred Ballinger und sein Freund, der Drehbuchautor Mick Boyle, verbringen den Sommer in der Schweiz in einem edlen Wellness-Tempel. Die beiden alten Herren genießen die Ereignislosigkeit. Sie blicken wehmütig auf ihre früheren Jahre zurück und beobachten, milde desinteressiert, die anderen Hotelgäste. Ab und an wird Ballinger, – weil es doch nicht vollkommen ohne Story geht -, von einem Gesandten der Queen gefragt wird, ob er sein bekanntestes Stück für eine Feier dirigieren möchte. Ballinger lehnt diese Unterbrechung seines Ruhestandes zunächst ab.
In „Ewige Jugend“ gibt es noch nicht einmal die Scheinaktivitäten von Sorrentinos früheren Filmen. Handlungstechnisch passiert nichts. Visuell passiert nichts. Das hat, gerade wegen der Altersweisheit der Charaktere, durchaus seinen kontemplativ entspannenden Reiz. Wenn man in der richtigen Stimmung ist.
mit Michael Caine, Harvey Keitel, Rachel Weisz, Paul Dano, Jane Fonda, Mark Kozelek, Robert Seethaler, Alex Macqueen
Damals, 1991, war „Manta, Manta“ mit deutlich über einer Million Besucher ein Kinohit. Für Til Schweiger war die Komödie über eine Gruppe Manta-Fahrer seine erste Kinorolle und gleich der Durchbruch. Mit „Der bewegte Mann“ wurde er zum Star. „Männerpension“ und „Knockin’ on Heaven’s Door“ und Angebote aus Hollywood folgten.
Heute ist „Manta, Manta“ vor allem und nur als Zeitdokument interessant. Regisseur Wolfgang Büld („Gib Gas – Ich will Spaß“, „Der Formel Eins Film“) gelang es in neunzig Minuten ein überraschend präzises Porträt einer Zeit, eines Orts und einer Subkultur zu zeichnen. Die Häuser, die Einrichtungen, die Kleider, die Frisuren, die Sprüche und die Musik verorten den Film eindeutig in den späten achtziger, frühen neunziger Jahren. Und einige der am Film beteiligten Schauspieler, die damals am Anfang ihrer Karriere standen, sind heute immer noch bekannt. Neben Til Schweiger ist hier vor allem Michael Kessler zu nennen. Er spielt wieder den gutmütigen Trottel Klausi.
Aber niemand, der mehr als eine halbe Gehirnzelle hat, würde „Manta, Manta“ einen guten oder sehenswerten Film nennen. Und, auch wenn schon seit Jahren über eine Fortsetzung gesprochen wurde, hat wahrscheinlich niemand ernsthaft auf eine Fortsetzung gewartet.
Aber jetzt ist sie da. Und sie ist ein wahrlich bizarres Werk. Es ist kein fertiger Film, sondern eher eine erste Skizze, ein hastiges Einsprechen der Texte, teils Blindtexte, die einen Eindruck von der Länge des geplanten Dialogs geben sollen, und Visualisierungen, die ebenfalls vor allem einen Hinweis auf die zu sehenden Bildern geben sollen. Anschlussfehler und logische Brüche sind da egal. Deshalb stehen gelungene Szenen neben erbarmungwürdig schlechten Szenen. Da wird kopflos chargiert. Da ist der erste Auftritt von Moritz Bleibtreu ein Fremdschäm-Moment, in dem nichts zusammen passt. In seinen nächsten beiden Auftritten überzeugt er dann als aasiger Ersatzvater. Wotan Wilke Möhring vergeigt seinen Auftritt als Bankbeamter hundertfünfzigprozentig.
Da gibt es alle paar Minuten, ohne Sinn und Verstand, eine Zeitlupe. Mal passt sie, meistens nicht. Im Abspann werden dann geschnittene Szenen präsentiert, die oft witziger sind als die im Film enthaltenen Szenen. Außerdem werden einige bekannte Gesichter gezeigt, die nicht im Filmauftauchen. Da passt nichts zusammen.
Das gilt auch für die Story, die Til Schweiger erfand und mit sich in der Hauptrolle verfilmte.
Im Mittelpunkt der Geschichte steht dieses Mal eindeutig Bertie Katzbach (Til Schweiger). Inzwischen ist er geschieden, hat seine Rennfahrerkarriere schon vor Jahren aufgegeben und betreibt seitdem eine Autowerkstatt, die auch ein Gebrauchtwagenhandel ist (ist am Anfang mal wichtig) und eine für die Filmgeschichte vollkommen unwichtige Kart-Bahn hat. Alle Geschäfte in Berties Werkstatt laufen so schlecht, dass seine Hausbank alles zwangsversteigern will. Da hat Bertie eine Idee: wenn er das Classic-Cars-Rennen am Bilster Berg fährt und gewinnt, wäre er schuldenfrei. Er könnte weiter in seiner Werkstatt leben und mit seinen Freunden, die schon seit Monaten unentgeltlich für ihn arbeiten, abhängen.
In dem Moment bittet seine große Liebe und jetzt Ex-Frau Uschi (Tina Ruland) ihn, sich um ihren gemeinsamen Sohn Daniel (Tim Oliver Schultz) zu kümmern. Der steht kurz vor seinem Abi an einer Abendschule. Als Möchtegern-Influencer, der seine reichen Freunde mit der Kreditkarte von seinem Stiefvater beeindrucken will, beschäftigt er sich lieber mit anderen Dingen und er hasst Bertie.
Diese Prämisse könnte, wie in „Manta, Manta“, der auch keine erinnerungswürdige Story hatte, mit anderen Dingen wettgemacht werden. Aber da ist in „Manta, Manta – Zwoter Teil“ nichts.
Wer Mantas und Autorennen sehen will, wird enttäuscht werden. Es gibt nur einen Manta und den auch erst am Ende. Autorennen gibt es mehr als eines, aber lieber beschäftigen sich alle mit anderen Dingen, wie einer Schlägerei in einer Strandbar oder dem amateurhaft durchgeführtem Diebstahl eines Motors von einem Schrottplatz. Das große Classic-Cars-Rennen am Filmende ist dann so konfus geschnitten, dass der Rennverlauf höchstens rudimentär erahnbar ist. Die Regeln erinnern an eine durchgeknallte Version von „Rollerball“ oder „Death Race“. Mit dem kleinen Unterschied, dass hier niemand stirbt, sondern nur ältere und alte Autos fotogen geschrottet werden.
Lokalkolorit ist auch nicht vorhanden. „Manta, Manta – Zwoter Teil“ spielt irgendwo im Nirgendwo.
Die Fortsetzung ist, im Gegensatz zu „Manta, Manta“, der eine Clique porträtierte, kein Ensemblefilm, sondern eine Til-Schweiger-Show, die ständig betont, wie cool sie sei.
Das Endergebnis ist, in einem Wort, ein Totalschaden, bei dem unklar ist, warum Til Schweiger ihn so ins Kino brachte.
Manta, Manta – Zwoter Teil(Deutschland 2023)
Regie: Til Schweiger
Drehbuch: Til Schweiger, Michael David Pate, Miguel Angelo Pate, Carsten Vauth, Peter Grandl, Murmel Clausen, Reto Slimbeni
mit Til Schweiger, Tina Ruland, Michael Kessler, Tim Oliver Schultz, Luna Schweiger, Tamer Trasoglu, Ronis Goliath, Nilam Farooq, Justus Johanssen, Emma Drogunova, Martin Armknecht, Moritz Bleibtreu, Wotan Wilke Möhring, Axel Stein, Lukas Podolski, JP Kraemer, Frank Buschmann
Länge: 127 Minuten
FSK: ab 12 Jahre
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alternative Schreibweise: Manta Manta – Zwoter Teil
In den Fünfzigern wird in Paris in einer verregneten Nacht eine junge Frau erstochen. Niemand scheint sie zu kennen oder zu vermissen. Kurz vor ihrem Tod wurde sie auf der Hochzeitsfeier eines wohlhabenden Paares gesehen.
Kommissar Maigret taucht in den Fall ein, aber noch mehr taucht Regisseur Patrice Leconte in Maigret ein.
Dummerweise, wie bei allen klassischen Ermittlern, ist das der uninteressanteste Teil bei ihren Fällen. Sherlock Holmes, Hercule Poirot, Miss Marple, Mike Hammer, James Bond undsoweiter sind spärlich gezeichnete Figuren. Eine Familie haben sie meistens nicht. Über ihre Kindheit und Jugend ist nichts bekannt. Auch bei Maigret erschöpfen sich seine Vergangenheit und sein Privatleben darin, dass er verheiratet ist und seine Frau ihm das Essen kocht. Der Fall steht an erster Stelle und der Ermittler ist primär ein von dem Fall nicht betroffener Führer durch den Fall. Ihre Fälle können daher in jeder beliebigen Reihenfolge gelesen werden und sie altern nicht. Auch Maigret ist in den späteren Geschichten nicht wesentlich älter als in den ersten Geschichten. Sein Erfinder Georges Simenon veränderte nach Belieben Maigrets Biographie und ließ tote Figuren wieder auferstehen. Einfach weil er, wie er sagte, vergessen hatte, dass sie gestorben waren. Niemand hat das ernsthaft gestört.
Zwischen 1931 und 1972 schrieb Simenon 75 Romane und 28 Erzählungen mit dem Ermittler. Etliche Maigret Romane wurden für das Kino und das Fernsehen, in mehreren, teils langlebigen Serien, verfilmt. Pierre Renoir, Jean Gabin, Jean Richard, Bruno Cremer, Charles Laughton, Rupert Davies, Michael Gambon, Rowan Atkinson und Heinz Rühmann spielten Maigret. Und jetzt Gérard Depardieu, der ihm eine imposante Körperlichkeit verleiht. Es ist eine Körperlichkeit der Bewegungslosigkeit. Depardieus Maigret bewegt sich kaum und wenn, dann nur sehr langsam. Der passionierte Esser und Raucher ist schon von der kleinsten Bewegung erschöpft.
Der insgesamt dreimal für das Fernsehen verfilmte Roman „Maigret und die junge Tote“ zählt zu den besseren unter den vielen gelungenen Maigret-Romanen. Für die Fans gibt es eh nur Meisterwerke, die alle gelesen werden sollten. Daher ist die Antwort auf die Frage, mit welchem Maigret-Roman man seine Maigret-Lektüre beginnen soll: „Egal.“ In „Maigret und die junge Tote“ zeigt Simenon schön Maigrets Ermittlungsmethode. Er hört den Freunden und Bekannten der Toten zu. Er fühlt sich in deren Leben ein und findet so den Täter. Die Ermordete wird im Buch so lebendig, dass Ulrike Leonhardt in „Mord ist ihr Beruf – Die Geschichte des Kriminalromans“ (1990) schreibt, dass man sie nicht vergesse, auch wenn man den Mörder schon vergessen habe.
Eben das kann von der Verfilmung nicht gesagt werden. Hier hat man den Täter, das Opfer und das Motiv schnell vergessen. Nur ein alles erdrückender Maigret bleibt im Gedächtnis.
„Maigret“ ist bleiern, monoton, monothematisch, fast farblos und fühlt sich länger als die knapp neunzig Minuten an, die der Kriminalfilm dauert. Es ist ein Kriminalfilm, der sich wenig für das Aufklären des durchaus durchschaubaren Verbrechens, als für das Zeigen eines Stillstands interessiert.
Maigret(Maigret, Frankreich/Belgien 2022)
Regie: Patrice Leconte
Drehbuch: Jérôme Tonnerre, Patrice Leconte
LV: Georges Simenon: Maigret et la jeune morte, 1954 (Maigret und die Unbekannte; Maigret und die junge Tote)
mit Gérard Depardieu, Jade Labeste, Mélanie Bernier, Aurore Clément, André Wilms, Hervé Pierre, Clara Antoons, Pierre Moure, Bertrand Poncet, Anne Loiret, Elizabeth Bourgine
Kiss Kiss Bang Bang (Kiss Kiss Bang Bang, USA 2005)
Regie: Shane Black
Drehbuch: Shane Black
LV: Brett Halliday: Bodies are where you find them, 1941
Zuerst stolpert Einbrecher Harry Lockhart auf seiner Flucht vor der Polizei in einen Vorsprechtermin und erhält prompt eine Filmrolle. Als er über eine Hollywood-Party stolpert, trifft er seine Jugendliebe Harmony Faith Lane und, als er zwecks Rollenstudium, mit einem knallharten PI Gay Perry (schwul) durch die Straßen Hollywoods schlendert, stolpern sie alle in einen undurchsichtigen Komplott, der direkt aus einem Film der Schwarzen Serie stammen könnte.
Köstliche Liebeserklärung an die Pulps, die natürlich nur lose auf dem Mike-Shayne-Roman basiert, aber dafür ausführlich Chandler zitiert (Zwischentitel, Voice-Over,…).
“first significant neo-noir of the twenty-first century” (Alexander Ballinger/Danny Graydon: The Rough Guide to Film Noir, 2007)
mit Robert Downey Jr., Val Kilmer, Michelle Monaghan, Corbin Bernsen, Rockmond Dunbar
Die am härtesten arbeitende Privatdetektivin ist zurück. Im Gegensatz zu Mike Hammer, der gerne nach einem Kneipenbesuch im nächtlichen New York in dunklen Gassen über seine Fälle stolpert, oder Spenser, der sich schlagend, blödelnd und philosophierend durch seine Fälle kämpft, hetzt Vic Warshawski durch Chicago von einem Kunden zum nächsten und sitzt um Büro, um Berichte und Rechnungen zu schreiben. Daneben hat sie noch Zeit, sich, wie Hammer und Spenser, um richtig spannende und gefährliche Fälle zu kümmern.
In „Schiebung“, dem neuesten auf Deutsch erschienenem Warshawski-Krimi, kümmert sie sich um zwei Fälle aus ihrem privaten Umfeld. So ist ihre Nichte Reno Seale spurlos verschwunden. Sie arbeitete bei der Kreditfirma „Rundum sorglos“, die legal arme Schuldner in den Ruin treibt. Kurz vor ihrem Verschwinden war Reno von ihren Chefs zu einer großen Firmenfeier nach St. Matthieu eingeladen worden. Dort geschah etwas, das sie nachhaltig verstörte.
In Vics zweitem Fall wird bei einer in der Nähe von Chicago in einem Wald gefundenen, unbekannten Leiche die Handy-Nummer von Felix Herschel gefunden. Er ist ein Verwandter von Vics Freundin Lotty Herschel. Der junge Kanadier studiert am Illinois Institute of Technology Ingenieurwissenschaft und ist seit kurzem Mitglied der aktivistischen Gruppe „Ingenieure für eine freie Welt“, die bereits Ärger mit der Einwanderungs- und Zollbehörde hatte. Als Felix von der Polizei zur Leiche geführt wird, erkennt er den Toten nicht.
Vic beginnt sich in beiden Fällen umzuhören und dabei möglichst viele Leute, unter anderem ihren Ex-Mann, einen gut verdienenden Anwalt mit entsprechend zweifelhaften Geschäftspartnern und Mandanten, zu nerven. Sie wird, wie es sich für einen guten literarischen Privatdetektiv gehört, mehrmals zusammen geschlagen, wehrt sich, muss sich mit der Polizei herumärgern und sie trifft den überaus netten Archäologen und Institutsleiter Peter Sansen. Er beschäftigte, wie Vic vor der Polizei herausfindet, in seinem Institut Leroy Fausson, den unbekannten Toten aus dem Wald. Er war Doktorand und vor Jahren bei Ausgrabungen in Syrien dabei.
Wer vor oder während der Lektüre einen Blick ins Glossar wirft, hat auch eine gute Ahnung von der Lösung. Es geht um den Raub von Artefakten (mehr), Blackwater (weniger), halb- und illegale Finanzgeschäfte und die aktuelle US-Politik gegenüber Immigranten, die den der dafür zuständigen Behörde ICE gnaden- und auch maßlos durchgesetzt wird.
Wie üblich verpackt Sara Paretsky diese aktuellen Themen gekonnt in eine spannende Geschichte.
Sara Paretsky: Schiebung
(übersetzt von Else Laudan)
Ariadne/Argument Verlag, 2022
512 Seiten
25 Euro
–
Originalausgabe
Shell Game
William Morrow/HarperCollins, 2018
–
Bonushinweis
Jetzt als Taschenbuch erhältlich: ein etwas älterer, ebenfalls lesenswerter Fall von Vic Warshawski:
Lieutenant Danny Roman (Samuel L. Jackson) ist Verhandlungsspezialist der Polizei von Chicago. Jetzt wird er verdächtigt, seinen besten Freund ermordet zu haben. In einem Hochhaus wird er zum Geiselnehmer. Er fordert seinen Kollegen Chris Sabian (Kevin Spacey) als Verhandlungsführer an. Sabian soll seine Unschuld beweisen und dabei einige korrupte Polizisten überführen. Diese wollen das natürlich verhindern.
Spannender Polizeithriller und ein grandioses Schauspielerduell zwischen Samuel L. Jackson und Kevin Spacey.
Drehbuchautor James DeMonaco ist auch für das „The Purge“-Franchise veranwortlich.
mit Samuel L. Jackson, Kevin Spacey, David Morse, Ron Rifkin, John Spencer, J. T. Walsh, Paul Giamatti, Siobhan Fallon, Dean Norris, Tom Bower, Paul Guilfoyle, Robert David Hall
„Im Stil der Pulp Fiction, der Groschenromane und B-Pictures aus den 30er und 40er Jahren, komprimiert Quentin Tarantino eine Handvoll Typen und Storys zu einem hochtourigen Film noir (…) Ein ausgezeichnetes Darsteller-Ensemble, eine intelligente Inszenierung und ein gutes Timung durch flotte Schnitte tragen dazu bei, dass Blutorgien mit Slapstick und bitterer Zynismus mit leichter Ironie so raffiniert ineinander übergehen oder aufeinander folgen, dass die Brüche und Übergänge nicht stören.“ (Fischer Film Almanach 1995)
Tarantino erzählt von zwei Profikillern, die zuerst Glück und dann Pech bei ihrer Arbeit haben, einem Boxer, der entgegen der Absprache einen Boxkampf gewinnt und sich dann wegen einer Uhr in Lebensgefahr begibt, einem Gangsterpärchen, das ein Schnellrestaurant überfällt, einem Killer, der die Frau seines Chefs ausführen soll und in Teufels Küche gerät, einer Gangsterbraut, die eine Überdosis nimmt, einem Killer, der zum Christ wird und von einem Tanzwettbewerb.
Kurz: wir haben mit einem Haufen unsympathischer Leute eine verdammt gute Zeit.
Der Kassenknüller erhielt zahlreiche Preise, aber für Krimifans zählt natürlich nur der gewonnene Edgar.
Mit Tim Roth, Harvey Keitel, Uma Thurman, Amanda Plummer, John Travolta, Samuel L. Jackson, Bruce Willis, Rosanna Arquette, Ving Rhames, Eric Stoltz, Christoper Walken, Quentin Tarantino, Steve Buscemi
Drehbuch: Claude Zidi, Didier Kaminka (Dialoge), Simon Michaël (Adaptation)
Inspektor René Boirond (Philippe Noiret) kennt sich aus in einem Multikulti-Revier in Paris. Er ist die Verkörperung eines Korrumpels. Er nimmt gerne kleine Gefälligkeiten von den örtlichen Händlern an, ahndet nicht jeden Gesetzesverstoss und beklaut Verbrecher. Sein neuer Partner François Lesbuche (Thierry Lhermitte) ist das Gegenteil. Der gerade von der Polizeschule kommende Lesbuche ist anscheinend durch nicht zu korrumpieren. Boirond will das ändern.
Köstliche, ziemlich zynische Krimi-Komödie, die damals in Frankreich ein Kassenhit war und einen César als bester Film des Jahres erhielt.
mit Philippe Noiret, Thierry Lhermitte, Régine, Grace De Capitani, Claude Brosset, Albert Simono, Julien Guiomar, Henri Attal
Auch wenn die ersten Bilder nicht so wirken, sind Signe (Kristine Kujath Thorp) und Thomas (Eirik Sæther) ein Paar aus der Hölle. Weil Signe Geburtstag hat, dinieren sie in einem noblen Restaurant. Er tut alles, um die Aufmerksamkeit des gesamten Lokals auf Signe zu lenken. Jeder soll von ihrem Geburtstag erfahren. Ihr ist das sichtlich peinlich. Bevor sie die Rechnung bezahlen, hauen sie ab. Mit der teuren Weinflasche unterm Arm. Dieser harmlose Spaß ist eine Atempause in der Liebesbeziehung der beiden Extrem-Narzissten, die konstant versuchen, sich zu überbieten und dem anderen die Schau zu stehlen. Und ihn gleichzeitig subtil zu demütigen. Er stiehlt die Stühle für eine Vernissage aus Möbelhäusern zusammen und stapelt sie zu Kunstwerken. Sie erzählt bei seiner Ausstellungseröffnung, nachdem sich die Aufmerksamkeit auf Thomas konzentriert, von ihren erfundenen, aber schrecklichen Krankheiten.
Als Signe im Netz in Russland hergestellte Tabletten entdeckt, die schwere Nebenwirkungen haben sollen, ist sie begeistert. Was kann es besseres geben, als mit den Nebenwirkungen, wie Hautausschlag, Haarausfall und möglicherweise Schlimmerem, die Aufmerksamkeit aller auf sich zu ziehen? Sie bestellt sie und wirft sich gleich nach dem Erhalt eine massive Überdosis ein. Kurz darauf hat sie einen beängstigenden Ausschlag, den sie auch medial verarbeitet. Natürlich ohne die Pillen zu erwähnen. Endlich steht sie, die wahrlich ‚der schlimmste Mensch der Welt‘ ist, im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses.
„Sick of myself“ ist eine schwarze Komödie und Gesellschaftssatire, die allerdings in der zweiten Hälfte zwischen Wahn und Wirklichkeit, Zeitsprüngen und alternativen Realitäten ihren Fokus verliert.
Sick of myself (Syk Pke, Norwegen 2022)
Regie: Kristoffer Borgli
Drehbuch: Kristoffer Borgli
mit Kristine Kujath Thorp, Eirik Sæther, Fanny Vaager, Fredrik Stenberg Ditlev-Simonsen, Sarah Francesca Brænne, Ingrid Vollan
Länge: 98 Minuten
FSK: ab 12 Jahre (Uhuh, aber „ Eine negative Vorbildwirkung lässt sich ausschließen.“)
LV: James Jones: The Thin Red Line, 1962 (Insel der Verdammten)
Als der Film seine Premiere hatte, waren die Kritiker begeistert und er erhielt auf der Berlinale den Goldenen Bären. Nach zwanzig Jahren präsentierte Terrence Malick seinen dritten Spielfilm: ein meditatives Drama über den Kampf um die Pazifikinsel Guadalcanal, das souverän alle Erfordernisse des Kriegsfilms und Starkinos unterläuft und wahrscheinlich genau deswegen ein äußerst präzises Bild vom Krieg liefert.
Es war auch, obwohl ich verstehen kann, wenn Menschen „Der schmale Grat“ nicht mögen (nachdem wir den Film im Unikino gezeigt hatten, meinten einige, das sei der schlechteste Film, den sie jemals gesehen hatten), Malicks letzter wirklich guter Film.
Nachdem er in dreißig Jahren drei Klassiker drehte – „Badlands – Zerschossene Träume“ (Badlands, 1973), „In der Glut des Südens“ (Days of Heaven, 1978) und „Der schmale Grat“ (The Thin Red Line, 1998) -, ruinierte er in wenigen Jahren seinen legendären Ruf gründlich. „The New World“ (USA 2005) hatte noch etwas, aber mit „The Tree of Life“ (USA 2011) und „To the Wonder“ (USA 2012) verabschiedete er sich endgültig von jeder erzählerischen Fessel zugunsten eines freien Assoziieren für eine überzeugte Gemeinschaft. Die Folgewerke „Knight of Cups“ (2015) und „Song to Song“ (2017) waren nur für seine Fanboys erträglich. Erst mit seinem bislang letztem Film „Ein verborgenes Leben“ (A hidden life, 2019) kehrte er ansatzweise zum Erzählkino zurück.
mit Sean Penn, Adrien Brody, Jim Caviezel, Ben Chaplin, George Clooney, John Cusack, Woody Harrelson, Elias Koteas, Jared Leto, Nick Nolte, John Savage, John Travolta, Nick Stahl, Miranda Otto
LV: Rajiv Chandrasekaran: Imperial Life In The Emerald City, 2006
Bagdad, April 2003: Nach der Invasion suchen US-Offizier Roy Miller und sein Team die Massenvernichtungswaffen von Saddam Hussein, die ja damals der offizielle Kriegsgrund waren.
Gelungener Mix aus Polit-Thriller und Kriegsfilm von Paul Greengrass und Matt Damon, die auch für die „Bourne“-Filme verantwortlich sind.
mit Matt Damon, Jason Isaacs, Amy Ryan, Greg Kinnear, Brendan Gleeson
Heute wurden die Nominierungen für den diesjährigen Deutschen Filmpreis vorgestellt und, im Gegensatz zu früheren Jahren, sind fast alle nominierten Filme bereits jetzt im Kino gestartet. Die Ausnahmen sind „Sisi & Ich“ und „The Ordinaries“, die beide am 30. März anlaufen, und „Das Lehrerzimmer“, der am 4. Mai anläuft. Das ist noch vor der vom ZDF übertragenen Prreisverleihung am Freitag, den 12. Mai.
Die deutsche Kolonialgeschichte ist kurz, aber nicht weniger ausbeuterisch, blutig und menschenverachtend als die anderer Kolonialmächte. Und sie ist, abgesehen von aktuellen, primär in Fachkreisen geführten Restitutionsdebatten, ziemlich vergessen. Literarisch und filmisch erschöpft sich die Beschäftigung mit der deutschen Kolonialgeschichte in Uwe Timms Roman „Morenga“ (1978), Egon Günthers gleichnamiger TV-Verfilmung von 1985, Gerhard Seyfrieds Roman „Herero“ (2003) und jetzt Lars Kraumes „Der vermessene Mensch“.
Kraume erzählt, nach seinem Drehbuch, die Geschichte von Alexander Hoffmann (Leonard Scheicher). Als junger Ethnologe begegnet er während der Deutschen Kolonialausstellung in Berlin 1896 erstmals aus der Kolonie Deutsch-Südwestafrika (dem heutigen Namibia) kommenden Herero und Nama. Im Rahmen der damals allgemein akzeptierten Rassenlehre, nach der es verschiedene Rassen gibt, die verschieden intelligent sind, beginnen er und seine Kollegen die Köpfe der Schwarzen zu vermessen. Sie wollen so wissenschaftlich beweisen, dass die in Häusern lebenden Weißen größere Köpfe haben und intelligenter als die im Busch lebenden Schwarzen sind.
Im Gegensatz zu seinen Kollegen und seinem Chef, Professor von Waldstätten (Peter Simonischek), zweifelt Hoffmann an der Rassenlehre. Außerdem ist der Junggeselle beeindruckt von Kezia Kambazembi (Girley Charlene Jazama), der eloquenten Dolmetscherin der Besuchergruppe. Sie gefällt ihm viel besser als die Frauen, die ihm seine Mutter als künftige Ehefrauen vorstellt. Und Kambazembi scheint seine Gefühle zu erwidern.
Nach dem Ende der Berliner Kolonialausstellung fährt Kambazembi mit ihrer Reisegruppe zurück in die Kolonie.
Acht Jahre später kommt es in Deutsch-Südwestafrika zu Aufständen der Einheimischen gegenüber den Deutschen. Für Hoffmann ist das die Gelegenheit, als Forscher nach Deutsch-Südwestafrika zu fahren, Schädel und Artefakte für die Forschung zu sammeln und wieder Kambazembi zu treffen. Schnell wird er Zeuge eines gnadenlos und menschenverachtend geführten Vernichtungskrieges der Deutschen gegenüber den Hereros und Namas, die teils massakriert, teils zum Sterben in die Wüste getrieben werden. Diesen Beginn eines Völkermords inszeniert Kraume immer FSK-12-kompatibel und für den Einsatz in der Schule und Bildungsarbeit geeignet.
Hoffmann stolpert durch das Kriegsgeschehen. Er will Kambazembi finden und vor dem Tod retten. Falls er sie überhaupt findet.
Wer jetzt befürchtet, dass „Der vermessene Mensch“ zu einer dieser klebrig-verlogenen White-Savior-Geschichten wird, kann sich beruhigt zurücklehnen. Lars Kraume unterläuft diese Erwartung immer mehr, je länger der Film dauert. Hoffmann ist in Afrika kein Retter, sondern ein ungläubig das Morden beobachtende Wissenschaftler, der an seiner Arbeit zweifelt und Gutes tun möchte. Aber letztendlich ist er nur ein passiver Beobachter, der sich fragt, ob er in der Kolonie seine aussichtsreiche wissenschaftliche Karriere opfern soll.
Kraume erzählt das, ohne seine Figuren zu verurteilen, nah an den historischen Fakten und den damaligen, heute hoffnungslos veralteten und abgelehnten Ansichten entlang. Er fällt kein Urteil über sie. Das überlässt er dem Zuschauer.
Nach „Der Staat gegen Fritz Bauer“ und „Das schweigende Klassenzimmer“, zwei Spielfilme, die sich ebenfalls gelungen mit der deutschen Vergangenheit beschäftigten, hat Lars Kraume einen weiteren sehenswerten Film über einen Teil der deutschen Vergangenheit inszeniert. In dem hübsch doppeldeutig betiteltem Drama „Der vermessene Mensch“, das die Geschichte aus der Sicht der Täter schildert, bringt er ein vergessenes, unrühmliches Kapitel der deutschen Geschichte zurück ins breite gesellschaftliche Bewusstsein. Ob und zu welchen Diskussionen er führt, werden die nächsten Wochen zeigen.
Der vermessene Mensch(Deutschland 2023)
Regie: Lars Kraume
Drehbuch: Lars Kraume
mit Leonard Scheicher, Girley Charlene Jazama, Peter Simonischek, Corinna Kirchhoff, Anton Paulus, Leo Meier, Sven Schelker, Max Koch, Ludger Bökelmann, Alexander Radszun, Michael Schenk, Tilo Werner
Wenige Tage nach seinem überraschenden Tod am 17. März 2023 kommt jetzt einer von von Lance Reddicks letzten Filmen ins Kino – und dieser Kinoabschied (wenn wir die laut IMDb noch kommenden Filme weglassen) ist ein würdiger Abschied. In seiner bekanntesten Rolle. Er spielt, wie in den vorherigen „John Wick“-Filmen, den Concierge des New Yorker Continental Hotels und, soviel kann gesagt werden, er hat im Film eine wichtige Rolle und eine starke letzte Szene.
Im Mittelpunkt des Actionfilms steht natürlich John Wick (Keanu Reeves). Er kämpft immer noch gegen die Hohe Kammer und den gegen ihn ausgesprochenen Tötungsbefehl. Die Hohe Kammer hat jetzt den Marquis de Gramont (Bill Skarsgård) beauftragt, John Wick zu beseitigen. Das Kammermitglied ist ein immer perfekt gekleideter, leicht schnöseliger Adliger, der keine Skrupel kennt. Rücksichtslos jagt er John Wick und lässt jeden töten, den Wick trifft. Schnell sterben Wicks Freunde und immer mehr Menschen wollen ihn töten.
Als die Situation für Wick immer aussichtsloser wird, weist Winston (Ian McShane), der Besitzer des New Yorker Continental Hotels, ihn auf eine alte Regel hin: wenn er den Marquis in einem Duell besiegt, annulliert die Hohe Kammer den Tötungsbefehl. Allerdings kann Wick den Marquis nur herausfordern, wenn er bestimmte Regeln einhält, bestimmte Fürsprecher hat und so in der Position ist, die es ihm ermöglicht, ein anderes Mitglied der Hohen Kammer zum Duell herauszufordern. Das ist die erste Hürde, die Wick überwinden muss. Danach muss er pünktlich zum Duell erscheinen, während der Marquis versucht, ihn auf dem Weg zum Duell zu töten. Er schickt unzählige Killer los. Seine Trumpfkarte ist Caine (Donnie Yen), ein blinder, sich eigentlich im Ruhestand befindender Killer und Freund von John Wick. Caine und Wick respektieren sich, weil sie gleich gut sind und eine gemeinsame Geschichte haben. Die Wildcard des Marquis ist ein namenloser Fährtenleser (Shamier Anderson), der immer von seinem Schäferhund begleitet wird und der ein eigenes Spiel spielt.
Vor zehn Jahren lernten wir John Wick in „John Wick“ kennen. Damals war er ein zurückgezogen lebender, um seine Frau trauernder legendärer Profikiller. Als einige halbstarke Gangster sein Auto klauen und seinen Hund töten, begibt er sich auf einen Rachefeldzug, bei dem mindestens eine halbe Hundertschaft Bösewichter stirbt. Der Actionthriller war ein Erfolg.
In den nächsten beiden „John Wick“-Filmen wurde aus dem kleinen B-Actionthriller, der mit seinen langen, kaum geschnittenen, mit ruhiger Kamera aufgenommenen Actionszenen Actionfans begeisterte, in jeder Beziehung mehr. Autor Derek Kolstad und Regisseur Chad Stahelski erfanden eine Parallelwelt, in der Profikiller ungestört global agieren und es ein labyrinthisches Regelwerk gibt, das die katholische Kirche vor Neid erblassen lässt. Die Action wurde spektakulärer. Die Schauplätze internationaler. Und es spielten noch mehr Stars mit. Jeder neue „John Wick“-Film war länger und teurer als der vorherige. Und erfolgreicher an der Kinokasse.
„John Wick : Kapitel 4“ setzt diese Entwicklung fort. Mit einem offiziellem Budget von hundert Millionen Dollar ist er der bislang teuerste Film der Serie. Die Geschichte spielt in der jordanischen Wüste, New York, Osaka/Japan (eigentlich nur im dortigen Continental Hotel), Berlin und Paris. Mit gut drei Stunden ist der Thriller fast vierzig Minuten länger als der vorherige Film. Mit Donnie Yen, Bill Skarsgård, Scott Adkins und Hiroyuki Sanada gibt es prominente Neuzugänge. Und es gibt mehr Action. Insgesamt nennt das Presseheft vierzehn große Action-Set-Pieces (ich habe jetzt nicht nachgezählt), die alle ziemlich spektakulär sind. Das gilt für die Action an sich – es gibt Nahkämpfe, Schießereien, Schwertkämpfe, Autounfälle, Fenster- und Treppenstürze -, und für die Inszenierung. Wieder schnitt Chad Stahelski nur selten. Wieder wählt er lieber die Totale als die Nahaufnahme. Wieder ist es so möglich, die Action genau zu verfolgen und zu sehen, was die Schauspieler und Stuntmen tun. Wieder überzeugt die Farbdramaturgie.
Die Welt von John Wick war schon immer eine Fantasiewelt, die sich inzwischen eindeutig am Comic orientiert. Aber noch hat die Geschichte einem Fuß in der Realität. Wie die James-Bond-Filme oder „Fast & Furious Five“ (Fast Five, USA 2011; das war die Actionsause, in der ein Safe durch die Straßen von Rio de Janeiro gezogen wird). Das Gezeigte ist unwahrscheinlich, aber nicht vollkommen unmöglich. Wobei die im Film gezeigte Unverletztlichkeit von John Wick, trotz Kevlar-Anzug und mit Kevlar verstärktem Hemd, das alle Kugeln abprallen lässt, mythische Dimensionen hat. Während bei ihm jeder Schuss ein Treffer ist, ist bei den Bösewichtern kein Schuss ein Treffer. Und John Wick wird zwar von Autos angefahren, aber nicht verletzt.
„John Wick: Kapitel 4“ liefert genau das stilvolle Actionfeuerwerk, das Fans erwarten und trotz seiner epischen Laufzeit von gut drei Stunden ist der fast dialogfreie Thriller kurzweilig, aber auch etwas redundant. Da wird geschossen, geschossen und nochmal geschossen. Da kommt noch ein Killer um die Ecke, der von einem weiteren und einem weiteren Killer gefolgt wird. Da rollt John Wick nicht einmal, sondern gleich zweimal eine sehr, sehr lange Treppe runter, ehe er sie, wie Sisyphos, wieder hochläuft. Trotzdem langweilen diese langen Actionszenen nicht. Sie treiben die Handlung voran und sie zeigen eindrucksvoll, was im Bereich des handgemachten Actionfilms möglich ist.
Das fünfte Kapitel ist schon in Arbeit.
John Wick: Kapitel 4(John Wick: Chapter 4, USA 2023)
Regie: Chad Stahelski
Drehbuch: Shay Hatten, Michael Finch (basierend auf von Derek Kolstad erfundenen Figuren)
mit Keanu Reeves, Bill Skarsgård, Donnie Yen, Laurence Fishburne, Lance Reddick, Clancy Brown, Ian McShane, Shamier Anderson, Scott Adkins, Hiroyuki Sanada, Rina Sawayama, Natalia Tena, Sven Marquardt (Berliner Legende)
Drei Tage und ein Leben(Trois jours et une vie, Frankreich 2019)
Regie: Nicolas Boukhrief
Drehbuch: Pierre Lemaitre, Perrine Margaine
LV: Pierre Lemaitre: Trois jours et une vie, 2016 (Drei Tage und ein Leben)
Kurz vor Weihnachten verschwindet in den belgischen Ardennen ein Kind. Die Suche verläuft ergebnislos. Auch weil der zwölfjährige Antoine, der weiß, was passiert ist, schweigt. Fünfzehn Jahre später kehrt er in das Dorf zurück.
Ruhiger Thriller, der an Claude Chabrols schwarzhumorige Abrechnungen mit dem französischen Bürgertum erinnert. Auch wenn die Geschichte in Belgien spielt.